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Gericht: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 14.12.2005
Aktenzeichen: 3 Bs 79/05
Rechtsgebiete: HmbVwVfG, AufenthG/EWG, AuslG 1990, AufenthG


Vorschriften:

HmbVwVfG § 48 Abs. 1 Satz 1
HmbVwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG/EWG § 12
AuslG 1990 § 47
AufenthG § 102
AufenthG § 11
1. Die Sperrwirkungen einer nach dem Ausländergesetz 1990 verfügten und bestandskräftig gewordenen Ausweisung gelten gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG auch gegenüber freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern fort. Dem steht nicht entgegen, dass das Freizügigkeitsgesetz/EU keine dem § 102 AufenthG entsprechende Übergangsregelung enthält (OVG Hamburg, Urt. v. 22.3.2005, NordÖR 2006 S. 38).

2. Ist eine Ausweisungsverfügung unanfechtbar geworden, wird der für die Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit maßgebliche Zeitpunkt auch dann durch den Eintritt der Unanfechtbarkeit bestimmt, wenn sie gegenüber einem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger ergangen ist.

3. Die Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger (Urt. v. 3.8.2004, BVerwGE Bd. 121 S. 297) stellt keine nachträgliche Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HmbVwVfG dar.

4. Ist die bestandskräftige Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers rechtswidrig, weil sie in Anwendung von §§ 12 AufenthG/EWG, 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG 1990 als Ist-Ausweisung ohne Ermessensbetätigung erfolgte, darf die Ausländerbehörde sich bei der Entscheidung über die Rücknahme der Ausweisungsverfügung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG auf die Prüfung beschränken, ob sie die Ausweisung zum damaligen Zeitpunkt auch im Ermessenswege verfügt hätte. Bejaht sie diese Frage als Ergebnis einer rechtsfehlerfreien nachholenden Ermessensbetätigung, darf sie die Ausweisungsverfügung unter Berufung auf deren Bestandskraft bestehen lassen.


3 Bs 79/05

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht, 3. Senat, durch die Richter Jahnke, Fligge und Kollak am 14. Dezember 2005 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 16. Februar 2005 geändert. Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,-- Euro festgesetzt.

Gründe:

A.

Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig und begründet. Die Antragsgegnerin wendet sich zu Recht dagegen, dass das Verwaltungsgericht sie im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hat, den Antragsteller vorläufig bis zum Ablauf eines Monats nach der Bekanntgabe ihrer Entscheidung über seinen Antrag vom 17. Januar 2005, gerichtet auf Rücknahme der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 sowie der ebenfalls bestandskräftigen, auf die Ausweisungsverfügung gestützten Abschiebungsandrohung vom 14. Juni 2004 und auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, zu dulden. Vielmehr ist der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (§ 123 VwGO) gegen die ihm auf Grund der genannten Verfügungen drohende Abschiebung nach Italien abzulehnen.

I.

Die gebotene Prüfung der mit der Beschwerde rechtszeitig dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 1 und 6 VwGO) ergibt, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts mit der ihn tragenden Begründung keinen Bestand haben kann.

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts beruht auf folgenden Ausführungen: Der Antragsteller habe nicht nur einen Anordnungsgrund, sondern auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Seine Abschiebung dürfte zur Zeit aus rechtlichen Gründen unmöglich sein. Es spreche nämlich einiges dafür, dass er das Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 HmbVwVfG beanspruchen könne. Die Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 sei eine sog. Ist-Ausweisung, bei der sich die Antragsgegnerin auf § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG i.V.m. § 12 AufenthG/EWG gestützt und ein Ermessen nicht - auch nicht hilfsweise - ausgeübt habe. Mit Urteil vom 3. August 2004 (BVerwGE Bd. 121 S. 297) habe das Bundesverwaltungsgericht das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 29. April 2004 (EuGHE 2004 I S. 5257) umgesetzt und entschieden, dass freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger nur noch nach § 12 AufenthG/EWG i.V.m. den §§ 45, 46 AuslG auf der Grundlage einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung ausgewiesen werden dürften und § 47 AuslG daher als Rechtsgrundlage ausscheide. Zwar stelle die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HmbVwVfG dar. Vorliegend könnte aber eine Ausnahme gegeben sein, weil sich mit der Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zugleich die Änderung des anzuwendenden Rechts ergeben haben dürfte. Dafür, dass der Antragsteller nicht als freizügigkeitsberechtigt anzusehen wäre, spreche nach jetzigem Kenntnisstand nicht viel. Denn er habe angegeben, Gelegenheitsjobs ausgeübt zu haben. Sein Verhalten während der Haftzeiten, in denen er nach seinen Angaben bereitwillig Beschäftigungen nachgegangen sei, deute ferner darauf hin, dass er den Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland nicht endgültig habe verlassen wollen. Weitere Ermittlungen zu diesem Punkt wie auch zu der Frage, ob der Antragsteller als Familienangehöriger freizügigkeitsberechtigt sei, oblägen der Antragsgegnerin im Rahmen des Hauptsacheverfahrens. Der erforderliche Anordnungsanspruch sei jedoch auch dann glaubhaft gemacht, wenn man die Auffassung vertrete, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HmbVwVfG für das Wiederaufgreifen des Verfahrens vorliegend nicht erfüllt seien. In diesem Fall könnte sich der Antragsteller nämlich darauf berufen, dass die Antragsgegnerin die Möglichkeit habe, gem. §§ 48, 49 HmbVwVfG die bestandskräftig gewordene Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 und die ebenfalls bestandskräftig gewordene Abschiebungsandrohung vom 14. Juni 2004 im Ermessenswege aufzuheben. Der Antragsteller könne voraussichtlich beanspruchen, dass die Antragsgegnerin ihre wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrige Ausweisungsverfügung überprüfe und dabei der geänderten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger Rechnung trage. Ob allerdings der Anspruch des Antragstellers auf Überprüfung der Ausweisungsverfügung und auf Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Aufhebung der Ausweisungsverfügung führe, sei fraglich. Die Antragsgegnerin habe nämlich dann im Rahmen einer Ermessensentscheidung darüber zu befinden, ob sie den Antragsteller ausweisen werde.

Gegen die Anwendbarkeit des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HmbVwVfG wendet die Antragsgegnerin zunächst ein, dass eine Änderung der Rechtslage, wie sie in § 51 Abs. 1 Nr. 1 HmbVwVfG vorausgesetzt werde, nur vorliege, wenn sich das maßgebliche materielle Recht nach Erlass des Verwaltungsakts geändert habe. Die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung stelle keine Änderung der Rechtslage dar, wie sich aus der Kommentarstelle in Kopp/ Ramsauer, VwVfG, 8. Aufl. 2003, § 51 Rdnr. 30 ergebe. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass vorliegend eine Ausnahme gegeben sein könnte, überzeuge nicht. - Dieser Einwand greift durch. Zwar heißt es in der zitierten Kommentarstelle einschränkend, keine Änderung der Rechtslage stelle die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung dar, sofern sie nicht Ausdruck neuer allgemeiner Rechtsauffassungen sei. Auf diese Einschränkung hat sich das Verwaltungsgericht jedoch nicht berufen. Ihr ist auch nicht zu folgen. Denn für die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist es geradezu typisch, dass sie Ausdruck neuer allgemeiner Rechtsauffassungen ist und solche begründet. Dementsprechend wird in den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, die in der erwähnten Kommentarstelle genannt werden, eine derartige Einschränkung zu Recht nicht vorgenommen (siehe insbesondere BVerwG, Beschl. v. 25.05.1981, NJW 1981 S. 2595 = NVwZ 1982 S. 500; Beschl. v. 16.02.1993, NVwZ-RR 1994 S. 119; siehe zusätzlich noch BVerwG, Beschl. v. 24.05.1995, NVwZ 1995 S. 1097). Dass die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung dazu führt, dass eine bestimmte gesetzliche Vorschrift anzuwenden oder nicht anzuwenden ist, ist ebenfalls nicht untypisch und rechtfertigt nicht das Eingreifen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HmbVwVfG. Von der Anwendbarkeit des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HmbVwVfG in derartigen Fällen gehen auch die von der Antragsgegnerin genannte Kommentarstelle und die bezeichneten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht aus.

Außerdem trifft der Einwand der Antragsgegnerin zu, dass die Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger auch deshalb nicht als eine nachträgliche Änderung der dem Verwaltungsakt (hier der Ausweisungsverfügung vom 12.05.2003) zugrunde liegenden Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HmbVwVfG gewertet werden könne, weil in der Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 angenommen worden sei, dass der Antragsteller nicht freizügigkeitsberechtigt sei. In der Tat wird in der Ausweisungsverfügung davon ausgegangen, dass das Aufenthaltsgesetz/EWG auf den Antragsteller keine Anwendung finde, weil er keine Freizügigkeit genieße. Lediglich hilfsweise werden in der Ausweisungsverfügung Ausführungen für den Fall des Vorliegens von Freizügigkeit gemacht; diese hilfsweisen Erwägungen waren somit nicht entscheidungserheblich. Die Vorschrift des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HmbVwVfG greift jedoch nur ein, wenn die Änderung Faktoren betrifft, die für das Ergehen oder den Inhalt des Verwaltungsakts entscheidungserheblich waren (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.5.2002, NVwZ-RR 2002 S. 548, 550; OVG Hamburg, Beschl. v. 17.5.1984, NVwZ 1985 S. 512, 513; Kopp/ Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl. 2005, § 51 Rdnr. 25).

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts kann auf Grund der fristgerechten Beschwerdebegründung auch insoweit keinen Bestand haben, als das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, voraussichtlich könne der Antragsteller gem. §§ 48, 49 HmbVwVfG beanspruchen, dass die Antragsgegnerin ihre wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrige Ausweisungsverfügung überprüfe und dabei der geänderten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, das eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs umgesetzt habe, Rechnung trage.

Hierbei ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der Antragsteller mit zumindest überwiegender Wahrscheinlichkeit die EU-Freizügigkeit als Arbeitnehmer für sich in Anspruch nehmen könne. Die Annahme, es spreche nicht viel dafür, dass der Antragsteller nicht als freizügigkeitsberechtigt anzusehen wäre, hat das Verwaltungsgericht damit begründet, dass der Antragsteller angegeben habe, Gelegenheitsjobs ausgeübt zu haben, und dass sein Verhalten während der Haftzeiten, in denen er nach seinen Angaben bereitwillig Beschäftigung nachgegangen sei, darauf hindeute, dass er den Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland nicht endgültig habe verlassen wollen.

Hiergegen wendet die Antragsgegnerin im Wesentlichen ein, mit der Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 sei zu Recht angenommen worden, dass der Antragsteller nicht freizügigkeitsberechtigt sei. Dieser Einwand greift unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls durch. Denn wie keiner Darlegung bedarf, trägt derjenige, der sich auf die Rechtswidrigkeit einer bestandskräftig gewordenen Verfügung beruft, für die geltend gemachte Rechtswidrigkeit die Darlegungs- und Beweislast. In der in Bezug genommenen Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 hat die Antragsgegnerin im einzelnen begründet, dass und weshalb der Antragsteller nicht freizügigkeitsberechtigt sei. Sie hat ausgeführt, der Antragsteller, der seit frühester Jugend Dauerkonsument von harten Drogen sei, habe nach Aktenlage - wenn überhaupt - bisher nicht in nennenswertem Umfang gearbeitet und entgegen seiner Mitwirkungspflicht nach § 1 Abs. 3 AufenthG/EWG den Nachweis weder für ein bestehendes Arbeitsverhältnis noch dafür erbracht, dass er - ggf. - ein letztes Arbeitsverhältnis im Sinne von § 3 Abs. 3 Satz 2 AufenthG/EWG unverschuldet beendet habe. Demgegenüber ist die vom Verwaltungsgericht herangezogene pauschale und durch nichts belegte Behauptung des Antragstellers, Gelegenheitsjobs ausgeübt zu haben, nicht geeignet, bei ihm das Vorliegen des gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts als Arbeitnehmer nachzuweisen oder auch nur schlüssig darzulegen. Die genannte Behauptung lässt noch nicht einmal erkennen, dass es sich bei den in der Vergangenheit ausgeübten "Gelegenheitsjobs" um mehr als außer Betracht bleibende völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeiten gehandelt hat (vgl. hierzu Geiger, EUV/EGV, 4. Aufl. 2004, Art. 39 EGV Rdnr. 7; Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 39 EGV Rdnr. 10). Unter diesen Umständen kommt es von vornherein nicht darauf an, ob der Antragsteller während seiner Haftzeiten den Willen gehabt hat, den Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland nicht endgültig zu verlassen. Dass etwa die Tätigkeiten, die der Antragsteller in den Haftanstalten ausgeübt hat, ihm die Rechtsstellung eines freizügigkeitsberechtigten Arbeitnehmers verschafft haben, hat das Verwaltungsgericht - zu Recht (siehe unten) - nicht angenommen.

II.

Da der Beschluss des Verwaltungsgerichts mit der ihn tragenden Begründung keinen Bestand haben kann, ist das Beschwerdegericht berechtigt und verpflichtet, seine Beschwerdeentscheidung ohne die Beschränkung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO an Hand der für Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes geltenden allgemeinen Maßstäbe zu treffen, d.h. über die Beschwerde uneingeschränkt in eigener Kompetenz zu entscheiden (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 16.9.2002, NordÖR 2003 S. 67; Beschl. v. 9.12.2003 - 3 Bs 415/02 -; Beschl. v. 1.6.2005 - 3 Bs 142/05 -; OVG Münster, Beschl. v. 18.3.2002, NVwZ 2002 S. 1390; Beschl. v. 8.5.2002, NVwZ-RR 2003 S. 50; OVG Berlin, Beschl. v. 12.4.2002, NVwZ-Beilage 2002 S. 98; VGH Kassel, Beschl. v. 23.10.2002, InfAuslR 2003 S. 84; Eyermann-Happ, VwGO, Nachtrag zur 11. Aufl., 2002, § 146 N 4). Dies führt zu dem Ergebnis, dass der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in vollem Umfang abzulehnen ist. Ein dem Antragsteller zustehender Anordnungsanspruch des Inhalts, dass die Antragsgegnerin - zumindest einstweilen - von seiner Abschiebung absieht, ist nicht glaubhaft (§ 920 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 123 Abs. 3 VwGO).

Ein derartiger Anspruch käme in Betracht, wenn die bestandskräftige, wegen schwerer Straftaten erlassene Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 und die ebenfalls bestandskräftige, auf die Ausweisungsverfügung gestützte Abschiebungsandrohung vom 14. Juni 2004 am 1. Januar 2005 mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) wirkungslos geworden wären. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Sperrwirkungen (§ 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 AuslG) einer nach dem Ausländergesetz wegen schwerer Straftaten verfügten und bestandskräftig gewordenen Ausweisung gelten vielmehr gem. § 102 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG selbst gegenüber freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern fort; dem steht nicht entgegen, dass das Freizügigkeitsgesetz/EU keine dem § 102 AufenthG entsprechende Übergangsregelung enthält (siehe im Einzelnen OVG Hamburg, Urt. v. 22.3.2005 - 3 Bf 294/04 -, Leitsätze in ZAR 2005 S. 251; vgl. auch Groß, ZAR 2005 S. 81, 86). Allerdings liegt es bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern nahe, zusätzlich zu § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG die Vorschrift des § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU, wonach die Sperrwirkung befristet wird, analog anzuwenden.

Die Sperrwirkungen (§ 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 AuslG), die von der am 1. März 2004 erfolgten Abschiebung des Antragstellers ausgegangen sind, gelten nur dann gem. § 102 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG fort, wenn der Antragsteller nicht freizügigkeitsberechtigt (gewesen) ist (vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2002, EuGHE 2002 I S. 10691 Rdnr. 70).

Außerdem käme ein Anspruch auf die - zumindest vorläufige - Unterlassung einer Abschiebung dann in Betracht, wenn der Antragsteller verlangen könnte, dass die Antragsgegnerin die bestandskräftig gewordene Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 und die bestandskräftige Abschiebungsandrohung vom 14. Juni 2004 aufhebt oder die Sperrwirkungen der Ausweisung (§ 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG) auf den Jetztzeitpunkt oder zumindest auf einen nahe gelegenen Zeitpunkt befristet oder dass die Antragsgegnerin ihm trotz der Ausweisung eine Aufenthaltserlaubnis oder Duldung erteilt. Das Vorliegen eines derartigen Anspruchs ist nicht überwiegend wahrscheinlich und damit nicht glaubhaft. Da der Antragsteller gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung keine eigenständigen, über die geltend gemachte Rechtswidrigkeit der Ausweisung hinaus gehenden Einwendungen vorgebracht hat, ist im Folgenden nur auf die Ausweisung einzugehen.

1. Gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 (i.V.m. § 51 Abs. 5) HmbVwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Dies setzt voraus, dass die Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 in dem für die Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit maßgeblichen Zeitpunkt rechtswidrig war (vgl. BVerwG, Urt. v. 7.12.1999, BVerwGE Bd. 110 S. 140, 143). Maßgeblicher Zeitpunkt ist hier, da die Ausweisungsverfügung unanfechtbar ist, der Zeitpunkt des Eintritts ihrer Unanfechtbarkeit (vgl. EGMR, Urt. v. 31.10.2002, InfAuslR 2003 S. 126, 127, im Zusammenhang mit BVerwG, Urt. v. 3.8.2004, BVerwGE Bd. 121 S. 315, 323 f.). Dass bei einer Anfechtungsklage gegen eine gegenüber einem Freizügigkeitsberechtigten ergangene Ausweisungsverfügung auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der letzten Tatsacheninstanz abzustellen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.8.2004, BVerwGE Bd. 121 S. 297), führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn wenn die betreffende Ausweisungsverfügung - wie hier - nicht angefochten worden ist, ist auf den letztmöglichen Zeitpunkt, nämlich den des Eintritts ihrer Unanfechtbarkeit abzustellen. Da die Ausweisungsverfügung am 15. Mai 2003 zugestellt worden ist, ist ihre Rechtmäßigkeit nach der im Juni 2003 gegebenen Sach- und Rechtslage zu beurteilen.

a) Rechtswidrig ist die Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 dann, wenn der Antragsteller im Juni 2003 freizügigkeitsberechtigt war. Dies ist aber nicht überwiegend wahrscheinlich.

aa) Was die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EGV; § 3 AufenthG/EWG) betrifft, so kann zunächst auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. Auch wenn davon auszugehen sein sollte, dass längere Zeiten der Arbeitslosigkeit aufgrund freiwilliger Aufgabe eines bestehenden Arbeitsverhältnisses die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht stets beenden (siehe aber Art. 7 der Richtlinie Nr. 68/360; Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des am 31.12.2004 außer Kraft getretenen AufenthG/EWG; Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG), so setzt die Aufrechterhaltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit immerhin voraus, dass der betreffende Arbeitslose auch tatsächlich eine neue Arbeit sucht und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung steht, um innerhalb eines angemessenen Zeitraums eine andere Beschäftigung zu finden (vgl. EuGH, Urt. v. 7.7.2005, InfAuslR 2005 S. 350, 352 Rdnr. 19; EuGH, Urt. v. 23.1.1997, EuGHE 1997 I S. 329, 353 Rdnr. 41; Grabitz/Hilf, a.a.O., Art. 39 EGV Rdnr. 45). Dass der Antragsteller im Juni 2003 tatsächlich Arbeit gesucht und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung gestanden hat, ist weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Verwaltungsgericht die Tätigkeiten, die der Antragsteller innerhalb der Haftanstalten verrichtet hat, zu Recht nicht als arbeitnehmerfreizügigkeitsbegründend angesehen hat (vgl. in diesem Zusammenhang EuGH, Urt. v. 7.7.2005, InfAuslR 2005 S. 350, 352 Rdnr. 21). Denn bei derartigen Tätigkeiten fehlt es am Erfordernis, dass sie einen Teil des Wirtschaftslebens (Art. 2 EGV) darstellen müssen (siehe zu diesem Erfordernis EuGH, Urt. v. 31.5.1989, EuGHE 1989 S. 1621, 1645 Rdnr. 13; Geiger, EUV/EGV, 4. Aufl. 2004, Art. 39 EGV Rdnr. 7). Dass der Antragsteller etwa als sog. Freigänger außerhalb der Haftanstalten gearbeitet hat, was die Arbeitnehmereigenschaft begründen könnte (siehe BVerwG, Beschl. v. 8.5.1996, Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 8), ist ebenfalls nicht erkennbar.

bb) Es ist auch nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragsteller als noch nicht 21 Jahre alter Sohn eines freizügigkeitsberechtigten Elternteils freizügigkeitsberechtigt war (§ 1 Abs. 2, § 7 AufenthG/EWG; Art. 1 der Richtlinie 68/360/EWG; Art. 10 f. der Verordnung [EWG] Nr. 1612/68). Zwar steht der Freizügigkeit als Familienangehöriger nicht entgegen, wenn der Familienangehörige mit keinem Elternteil mehr in familiärer Lebensgemeinschaft lebt (vgl. EuGH, Urt. v. 13.2.1985, EuGRZ 1985 S. 145; EuGH, Urt. v. 18.5.1989, NVwZ 1989 S. 745; BVerwG, Urt. v. 21.5.1985, InfAuslR 1985 S. 195, 196). Jedoch ist das Freizügigkeitsrecht des Familienangehörigen vom Freizügigkeitsrecht des primär Berechtigten abhängig und gilt nur so lange, wie der primär Berechtigte freizügigkeitsberechtigt ist (vgl. EuGH, Urt. v. 13.2.1985, EuGRZ 1985 S. 145, 147 Rdnr. 21; Grabitz/Hilf, a.a.O., Art. 39 EGV Rdnr. 79; GK-AuslR, § 2 AuslG Rdnr. 90; Nr. 3.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zu § 3 FreizügG/EU vom 22.12.2004). Es ist weder substantiiert geltend gemacht worden noch ersichtlich, dass ein Elternteil des Antragstellers im Juni 2003 ein Freizügigkeitsrecht innegehabt hat. Aus der vom Antragsteller im Schriftsatz vom 17. Januar 2005 herangezogenen Vorschrift des § 6 a Abs. 2 Nr. 2 AufenthG/EWG hat sich weder für den am 14. September 1960 geborenen Vater noch für die am 5. Februar 1962 geborene Mutter des Antragstellers ein Freizügigkeitsrecht ergeben, weil zusätzlich zu den Voraussetzungen des § 6 a Abs. 2 Nr. 2 AufenthG/EWG die Voraussetzungen des § 6 a Abs. 2 Nr. 1 AufenthG/EWG erfüllt sein mussten, an denen es hier gefehlt hat. Ob der Vater oder die Mutter des Antragstellers im Juni 2003 über eine Aufenthaltserlaubnis-EG verfügt hatten, ist unerheblich, weil nur die Familienangehörigen von Freizügigkeitsberechtigten selbst freizügigkeitsberechtigt sind, wie sich aus der in § 7 Abs. 1 AufenthG/EWG enthaltenen Verweisung auf § 1 Abs. 2 AufenthG/EWG ergibt. Im Verfahren des Familienangehörigen besteht keine Bindung an die Entscheidung der Ausländerbehörde über das Freizügigkeitsrecht derjenigen Person, von der der Familienangehörige seine Stellung als Familienangehöriger ableitet (vgl. in diesem Zusammenhang BVerwG, Urt. v. 24.2.2005, Buchholz 412.3 § 15 BVFG Nr. 30 zu § 15 Abs. 2 BVFG).

cc) Zu Unrecht beruft sich der Antragsteller auf ein Freizügigkeitsrecht als Dienstleistungsempfänger (§ 1 Abs. 1 Nr. 4, § 6 AufenthG/EWG). Dieses Recht besteht nur für Personen, die sich aus dem Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort Dienstleistungen zu empfangen (siehe den Wortlaut des § 1 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 73/148/EWG sowie des § 1 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG/EWG, wonach der Dienstleistungsempfänger im Bundesgebiet nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet haben darf; vgl. auch EuGH, Urt. v. 19.10.2004, InfAuslR 2004 S. 413 Rdnr. 22; GK-AuslR, § 2 AuslG Rdnr. 73). Der Antragsteller, der im Bundesgebiet geboren ist und hier seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, kann demnach im Bundesgebiet kein Freizügigkeitsrecht als Dienstleistungsempfänger innehaben.

dd) Es ist nicht ersichtlich, dass dem Antragsteller das allgemeine Freizügigkeitsrecht (gem. der Freizügigkeitsverordnung/EG sowie der Richtlinie 90/364/EWG) zugestanden hat. Dieses Recht setzt zu seiner Ausübung grundsätzlich (Ausnahmen können sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergeben) neben einem ausreichenden Krankenversicherungsschutz ausreichende Existenzmittel voraus (§§ 7 und 8 FreizügV/EG; Art. 18 Abs. 1 EGV i.V.m. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 90/364/EWG; vgl. auch EuGH, Urt. v. 19.10.2004, InfAuslR 2004 S. 413, 414 Rdnr. 27). Am Vorhandensein ausreichender Existenzmittel hat es beim Antragsteller gefehlt.

ee) Schließlich ergibt sich für den Antragsteller kein Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Art. 18 Abs. 1 EGV. Denn das Recht unmittelbar aus Art. 18 Abs. 1 EGV besteht nur vorbehaltlich der im Vertrag und seinen Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen (vgl. EuGH, Urteil v. 19.10.2004, InfAuslR 2004 S. 413, 414 Rdnr. 26). Dass diese dem Antragsteller ein Aufenthaltsrecht gewähren, ist nach dem oben Ausgeführten nicht überwiegend wahrscheinlich.

b) Aber selbst wenn dem Antragsteller der Nachweis gelingen sollte, dass er im Juni 2003 freizügigkeitsberechtigt war, ist nicht überwiegend wahrscheinlich, dass er gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 (i.V.m. § 51 Abs. 5) HmbVwVfG die Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 beanspruchen kann.

Wenn der Antragsteller freizügigkeitsberechtigt war, war die Ausweisungsverfügung aufgrund der vom Antragsteller und vom Verwaltungsgericht genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (siehe Urt. v. 3.8.2004, BVerwGE Bd. 121 S. 297) im maßgeblichen Zeitpunkt rechtswidrig, weil die Ausweisung nicht im Wege einer Ermessensentscheidung verfügt worden ist. Der Antragsteller hat dann einen Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG eine Ermessensentscheidung über die Frage der Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 trifft. Dass die Antragsgegnerin zu einer derartigen Ermessensentscheidung verpflichtet ist, begründet für sich genommen noch kein Abschiebungshindernis. Vielmehr liegt nur dann ein Abschiebungshindernis vor, wenn das der Antragsgegnerin gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG eingeräumte Ermessen derart reduziert ist, dass sie die bestandskräftige Ausweisungsverfügung zurücknehmen muss. Dies ist jedoch nicht überwiegend wahrscheinlich.

Die Antragsgegnerin macht in der Beschwerdeschrift geltend, die Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 sei nicht gem. § 48 HmbVwVfG aufzuheben, weil die Ausweisung auch bei Ausübung des geforderten Ermessens erfolgt und rechtmäßig wäre; denn die in der Verfügung zur Rechtfertigung der Ausweisung genannten Gesichtspunkte stellten der Sache nach bereits die maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte dar, und aus der Verfügung ergebe sich auch, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Antragstellers als vorrangig vor seinen privaten Interessen gewertet worden sei. Diese Ausführungen zeigen auf, wie die Antragsgegnerin dann, wenn der Antragsteller ein seinerzeit bestehendes Freizügigkeitsrecht nachweist, das von ihr dann gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG auszuübende Ermessen voraussichtlich betätigen wird. Sie sprechen dafür, dass die Antragsgegnerin dieses Ermessen in nicht zu beanstandender Weise zu Lasten des Antragstellers ausüben wird.

Die Antragsgegnerin dürfte im Falle des Nachweises der Freizügigkeit nach dem in Art. 10 EGV verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet sein (insoweit Ermessensreduzierung auf Null), die bestandskräftige Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG zu überprüfen und der Entscheidung des BVerwG vom 3. August 2004 (BVerwGE Bd. 121 S. 297) und damit letztlich der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29. April 2004 (EuGHE 2004 I S. 5257) Rechnung zu tragen (vgl. das vom Antragsteller und dem Verwaltungsgericht herangezogene Urteil des EuGH v. 13.1.2004, EuGHE 2004 I S. 837). Diese Pflicht zur Überprüfung bedeutet aber nicht, dass die Antragsgegnerin die Ausweisungsverfügung aufheben müsste. Vielmehr braucht sich die gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG erforderliche Prüfung nur darauf zu erstrecken, ob die Antragsgegnerin die Ausweisung seinerzeit auch dann verfügt hätte, wenn ihr bekannt gewesen wäre, dass über die Frage der Ausweisung eine Ermessensentscheidung zu treffen sei (vgl. zur Zulässigkeit derartiger hypothetischer Überlegungen im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG: VGH Mannheim, Urt. v. 13.6.2000, VBlBW 2001 S. 23). Sofern die Antragsgegnerin bei dieser Prüfung, bei der bezogen auf den damaligen Zeitpunkt unter Zugrundelegung allein der damaligen Sach- und Rechtslage im Ergebnis eine Ermessensentscheidung nachzuholen ist, unter Berücksichtigung sämtlicher wesentlicher Umstände in nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass sie den Antragsteller auch im Wege einer Ermessensentscheidung ausgewiesen hätte, und wenn sie die entsprechenden Ermessenserwägungen darlegt, ist der genannten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29. April 2004 und dem bezeichneten Urteil den Bundesverwaltungsgerichts vom 3. August 2004 hinreichend Rechnung getragen. Der Antragsgegnerin ist es dann nicht verwehrt, das ihr durch § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG eingeräumte Ermessen im Ergebnis so zu betätigen, dass sie die Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 unter Berufung auf deren Bestandskraft nicht aufhebt, sondern bestehen lässt (vgl. allgemein für die Möglichkeit, den bestandskräftigen Verwaltungsakt auch nach einem Wiederaufgreifen des Verfahrens bestehen zu lassen: BVerwG, Beschl. v. 29.3.1999, BVerwGE Bd. 113 S. 322, 329; Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl. 1995, § 65 Rdnrn. 7 - S. 703 -, 28 und 33; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Bd. 2, 6. Aufl. 2000, § 50 Rdnrn. 11 f. und § 51 Rdnr. 118; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2002, § 11 Rdnr. 61; Meyer/Borgs, VwVfG, 2. Aufl. 1982, § 51 Rdnr. 22; für § 48 Abs. 1 VwVfG wohl auch Knack, VwVfG, 8. Aufl. 2004, § 48 Rdnr. 45; a.A. für Entscheidungen im Rahmen des § 51 VwVfG Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl. 2005, § 51 Rdnr. 22; Knack, a.a.O., § 51 Rdnr. 14). Für eine derartige Möglichkeit sprechen der Wortlaut des § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG, dem nichts dafür zu entnehmen ist, dass die Behörde einen bestandskräftigen rechtswidrigen Verwaltungsakt stets aufheben muss, wenn sie in eine sachliche Überprüfung des Verwaltungsakts eingetreten ist, und die Gesetzesmaterialien (vgl. die amtliche Begründung zu § 51 VwVfG, BT-Drucks. 7/910 S. 75, wonach Abs. 1 keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides und seine Ersetzung durch einen neuen Bescheid, sondern nur einen Anspruch gegen die Behörde gewährt, das Verfahren wiederaufzugreifen und zu prüfen, ob sie nach pflichtgemäßem Ermessen den ursprünglichen Bescheid noch aufrechterhalten will oder kann, oder ob sie nicht nunmehr einen neuen, dem Betroffenen günstigeren Bescheid erlassen soll).

Dass die Behörde in Fällen der vorliegenden Art die bestandskräftige Ausweisungsverfügung bestehen lassen darf, ergibt sich hier nicht zuletzt aus den im genannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. August 2004 (BVerwGE Bd. 121 S. 297) enthaltenen Ausführungen. Danach ist den Ausländerbehörden, weil das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Urteil eine ständige Rechtsprechung aufgibt und neue Maßstäbe für die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger vorgibt, während eines Übergangszeitraums in gemeinschaftsrechtskonformer Anwendung des § 114 Satz 2 VwGO auch Gelegenheit zur vollständigen Nachholung der Ermessensentscheidung zu geben, wenn die Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers als Ist- oder Regelausweisung nach § 47 Abs. 1 oder 2 AuslG ohne Ermessensausübung verfügt worden ist. Diese Ausführungen, die sich auf die Überprüfung nicht bestandskräftiger Ausweisungsverfügungen beziehen, können auf Fälle der hier vorliegenden Art, in denen es um die Rücknahme unanfechtbarer Ausweisungen geht, in der Weise übertragen werden, dass der Ausländerbehörde Gelegenheit zu geben ist, im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG zu prüfen und darzulegen, ob sie bei Kenntnis der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Ausweisung im Ermessenswege verfügt hätte, und bejahendenfalls die Rücknahme der unanfechtbaren Ausweisungsverfügung abzulehnen. Der Übergangszeitraum dürfte hier nicht abgelaufen sein, weil der Antragsgegnerin bei Erlass der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 die neue Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts naturgemäß nicht bekannt sein konnte.

Für eine derartige Verfahrensweise besteht hier ein besonderes Bedürfnis. Denn wenn die Antragsgegnerin gezwungen wäre, die Ausweisungsverfügung zunächst aufzuheben und sodann darüber zu entscheiden, ob sie gem. § 6 FreizügG/EU den Verlust des Freizügigkeitsrechts feststellt (eine Ausweisung ist gegenüber Freizügigkeitsberechtigten seit dem 1. Januar 2005 nicht mehr möglich), würde dies den Antragsteller in unangemessener Weise begünstigen. Dann würde er sich nämlich ungeachtet seiner schwerwiegenden Straftaten sowie der großen Gefahr weiterer schwerwiegender Straftatbegehung und trotz der daraufhin ergangenen Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben und voraussichtlich die Vergünstigungen des § 2 Abs. 5 FreizügG/EU (Erwerb eines eigenständigen Freizügigkeitsrechts) und des § 6 Abs. 3 FreizügG/EU (erschwerte Voraussetzungen für die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit) und auf jeden Fall die Vergünstigung des § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU (Entstehen der Ausreisepflicht erst mit unanfechtbarer Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts) für sich in Anspruch nehmen können. Hätte die neue Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts schon damals existiert und die Antragsgegnerin die Ausweisung im Ermessenswege verfügt, wäre der Antragsteller nicht in den Genuss der aufgeführten Vergünstigungen gelangt.

Angesichts der im maßgeblichen Zeitpunkt (Juni 2003) vorhanden gewesenen zahlreichen schweren Straftaten des Antragstellers, der großen Gefahr weiterer schwerwiegender Straftatbegehung und der sonstigen Lebensumstände des Antragstellers, wie sie sich aus der Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 ergeben, ist davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin berechtigt wäre, den Antragsteller im Wege einer Ermessenentscheidung auszuweisen. Die in der Beschwerdeschrift sowie in der Ausweisungsverfügung enthaltenen Ausführungen lassen erwarten, dass die Antragsgegnerin mit nicht zu beanstandenden Ermessenserwägungen zum Ergebnis gelangen wird, sie hätte die Ausweisung seinerzeit auch dann angeordnet, wenn sie die Pflicht, eine Ermessensentscheidung zu treffen, gekannt hätte.

c) Soweit der Antragsteller geltend macht, die Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 verstoße gegen Art. 8 EMRK, weil eine Ausweisung von faktischen Inländern nur aus schwerwiegenden Gründen erfolgen könne, ist nicht zu erkennen, weshalb die in der Ausweisungsverfügung genannten Gesichtspunkte, insbesondere die zahlreichen schwerwiegenden Straftaten des Antragstellers und die große Wiederholungsgefahr keine schwerwiegenden Gründe darstellen sollen. Dass die Ausweisungsverfügung Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens oder dem Europäischen Fürsorgeabkommen wiederspricht, ist schon nicht dargelegt und im Übrigen auch nicht ersichtlich. Dem Vorbringen des Antragstellers, er spreche kein Italienisch, ist die Antragsgegnerin bereits in der Ausweisungsverfügung zu Recht mit dem Hinweis darauf entgegengetreten, dass er die Möglichkeit habe, sich in Gebieten Norditaliens niederzulassen, in denen die Bevölkerungsmehrheit auch deutschsprachig sei.

2. Der Antragsteller kann nicht beanspruchen, dass die bestandskräftige Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 gem. § 49 Abs. 1 HmbVwVfG widerrufen wird. Nach dieser Bestimmung kann ein rechtmäßiger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden.

Ein Anspruch auf Widerruf könnte im vorliegenden Fall allenfalls in Betracht kommen, wenn der Antragsteller zwar nicht im Zeitpunkt des Eintritts der Unanfechtbarkeit der Ausweisungsverfügung freizügigkeitsberechtigt war, wohl aber zu einem späteren Zeitpunkt die Voraussetzungen für ein Freizügigkeitsrecht erfüllt hat. Hierfür ist jedoch weder etwas Konkretes vorgetragen worden noch sonst erkennbar.

Aber auch wenn ein derartiger Sachverhalt gegeben wäre, könnte die Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 nicht widerrufen werden, weil dem der Vorrang des Befristungsverfahrens entgegen stände. Denn der Widerruf einer Ausweisungsverfügung (§ 49 Abs. 1 HmbVwVfG) ist durch die - die Befristung der Ausweisungswirkungen regelnde - Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 3 und 4 i.V.m. Satz 1 und 2 AufenthG (bzw. des § 7 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Satz 1 FreizügG/EU) als einer bundesrechtlichen Spezialvorschrift insoweit ausgeschlossen, als es um die Berücksichtigung von Sachverhaltsänderungen geht, die für den Fortbestand des Ausweisungszwecks erheblich sind (vgl. das zu § 8 Abs. 2 Satz 3 und 4 AuslG ergangene Urteil des BVerwG v. 7.12.1999 - BVerwGE Bd. 110 S. 140, 147 -, das auf § 11 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG bzw. § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU übertragen werden kann). Eine derartige Sachverhaltsänderung liegt auch vor, wenn ein bisher nicht freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit einer nach altem Recht erlassenen Ausweisungsverfügung nunmehr die Voraussetzungen für ein Freizügigkeitsrecht erfüllt (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 22.3.2005 - 3 Bf 294/04 -).

3. Dieser letztere Gesichtspunkt, nämlich der Vorrang des Befristungsverfahrens, steht auch der Anwendbarkeit des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HmbVwVfG unter dem Gesichtspunkt einer nachträglichen Änderung der Sachlage von vornherein entgegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 7.12.1999, BVerwGE Bd. 110 S. 140, 148). Dass keine nachträgliche Änderung der Rechtslage vorliegt, ist bereits oben dargelegt worden.

4. Es ist auch nicht erkennbar, dass der Antragsteller verlangen kann, dass die Antragsgegnerin gem. § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG (i.V.m. der analogen Anwendung des § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU) die Wirkungen der Ausweisung zumindest auf einen nahe gelegenen Zeitpunkt befristet. Dies gilt selbst dann, wenn der Antragsteller - wofür es schon keine hinreichenden Anhaltspunkte gibt - die Voraussetzungen eines Freizügigkeitsrechts erfüllt. Denn angesichts der zahlreichen schwerwiegenden Straftaten, die der Antragsteller begangen hat, seiner Drogenabhängigkeit, von deren Überwindung nicht ausgegangen werden kann, seiner sonstigen ungünstigen Lebensumstände und der großen Gefahr weiterer schwerwiegender Straftatbegehung spricht Überwiegendes dafür, dass von ihm gegenwärtig und auch noch in näherer Zukunft eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dies gilt erst Recht angesichts des Umstandes, dass der Antragsteller laut Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg vom 28. Mai 2005 wegen des Verdachts der Begehung einer räuberischen Erpressung in Untersuchungshaft genommen worden war und zudem verdächtigt wird, am 11. November 2005 eine weitere räuberische Erpressung begangen zu haben. Unter diesen Umständen ist anzunehmen, dass die Antragsgegnerin die Wirkungen der Ausweisung in nicht zu beanstandender Weise auch dann nicht auf einen nahegelegenen Zeitpunkt befristen würde, wenn sie aufgrund des genannten Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. August 2004 (BVerwGE Bd. 121 S. 297) im Falle des nachträglichen Eintritts der Freizügigkeitsvoraussetzungen gehalten wäre, eine grundsätzliche und umfassende Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Sachlage zu der Frage zu treffen, ob die Ausweisungswirkungen trotz des Eintritts der Freizügigkeitsvoraussetzungen fortbestehen oder ob sie entfallen sollen.

5. Der Antragsteller hat keinen Anspruch, dass die Antragsgegnerin trotz der Ausweisung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Die Voraussetzungen des allein in Betracht kommenden § 25 Abs. 5 AufenthG liegen nach Lage der Dinge nicht vor.

6. Ebenso scheidet ein Anspruch auf die Erteilung einer Duldung gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG aus, weil es keine genügenden Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Abschiebung des Antragstellers aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist.

B.

Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

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