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Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 20.08.2009
Aktenzeichen: 10 A 1874/08
Rechtsgebiete: SGB VIII, VOLRR


Vorschriften:

SGB VIII § 10 Abs. 1
SGB VIII § 35a Abs. 1
SGB VIII § 36a
VOLRR § 1 Abs. 4
Kann die staatliche Schule den konkreten Hilfebedarf des Kindes oder Jugendlichen hinsichtlich der bei ihm vorliegenden Lese-Rechtschreibstörung nur unzureichend erfüllen, so ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht berechtigt, die von ihm begehrte Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII) unter Hinweis auf den Nachranggrundsatz (§ 10 Abs. 1 SGB VIII) abzulehnen.
HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

10 A 1874/08

Verkündet am 20. August 2009

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Jugendhilferechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 10. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Nassauer, Richter am Hess. VGH Dr. Jürgens, Richter am VG Wanner (abgeordneter Richter), ehrenamtliche Richterin Denfeld und ehrenamtlichen Richter Waldeck

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 20. August 2009 für Recht erkannt:

Tenor:

Das Berufungsverfahren wird eingestellt, soweit der Kläger die Berufung für die Kosten der über 20 Therapiestunden hinausgehenden Hilfeleistungen zurückgenommen hat.

Im Übrigen wird das angefochtene Urteil geändert.

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Kreisausschusses des Landkreises Darmstadt-Dieburg vom 15. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 23. Mai 2007 verpflichtet, für 20 Therapiestunden die Kosten in Höhe von 42,00 € je Therapiestunde zu übernehmen.

Der Kläger und der Beklagte tragen jeweils die Hälfte der Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung nach Maßgabe der Kostenfestsetzung abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Mit am 27. September 2006 bei dem Jugendamt des Beklagten eingegangenem Antrag vom 22. Mai 2006 begehrte die Mutter des Klägers, der am ... 1997 geboren ist, für diesen die Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten einer Legasthenietherapie ab dem 31. Oktober 2006. Dem Antrag wurden ein Bericht der X...schule, Grundschule des Landkreises Darmstadt-Dieburg mit Förderstufe in Modautal, vom 14. September 2006 und eine ärztlich-psychologische Bescheinigung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Riedstadt vom 8. Mai 2006 beigefügt.

Nach dem Bericht der X...schule, an der der Kläger damals die 4. Klasse besuchte, wurden Auffälligkeiten bezüglich einer Lese- bzw. Rechtschreibschwäche bei dem Kläger durch Klassenkonferenzbeschlüsse vom 23. Januar 2006 und 13. September 2006 festgestellt. Die Rechtschreibleistung des Klägers im Fach Deutsch wurde bei der Notengebung seit dem 13. September 2006 nicht berücksichtigt. Die schulische Förderung erfolgte nach dem Bericht durch Binnendifferenzierung seit 2005 und einen zusätzlichen Förderkurs seit 2006. Der Erfolg der Förderung wurde in dem Schulbericht nicht als ausreichend erachtet; eine zusätzliche außerschulische Förderung in Gestalt einer gezielten und qualifizierten Förderung wurde als zwingend erforderlich angesehen.

In der ärztlich-psychologischen Bescheinigung vom 8. Mai 2006 wurde das Vorliegen einer Lese- und Rechtschreibstörung (ICD-10: F81.0) bei dem Kläger bestätigt. Darüber hinaus wurde eine Sonstige emotionale Störung des Kindesalters (ICD-10: F93.8) diagnostiziert. Es bestehe eine erhebliche emotionale Beeinträchtigung und damit weiche die seelische Gesundheit des Klägers von dem für das Lebensalter typischen Zustand ab. Die Voraussetzungen für die Anwendung des § 35a SGB VIII würden daher für gegeben erachtet.

Der Beklagte leitete den Antrag mit Schreiben vom 18. Oktober 2006 an die X...schule weiter und bat darum, über den Antrag in eigener Zuständigkeit zu entscheiden und die ersten notwendigen Hilfen einzuleiten. Am 1. August 2006 sei nämlich die Verordnung des Hessischen Kultusministeriums über die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen - VOLRR - vom 18. Mai 2006 in Kraft getreten. Eine Zuständigkeit der Jugendhilfe sei mithin ab dem 1. August 2006 für die beantragte Hilfe nicht gegeben. Die Schulen seien gemäß § 3 VOLRR vorrangig verpflichtet, entsprechende Fördermaßnahmen einzurichten und durchzuführen.

Das Schreiben wurde der Mutter des Klägers zur Kenntnisnahme übersandt.

Die Leiterin der X...schule bat das Jugendamt des Beklagten mit Schreiben vom 7. November 2006 darum, dem Kläger - sowie zwei weiteren Kindern - die beantragten Leistungen zu gewähren. Die Schule bzw. die Kolleginnen hätten für die Kinder Förderpläne geschrieben, die vorgelegt worden seien und vorgelegt würden. Da keine zusätzlichen Förderstunden (in Kleingruppen) eingerichtet werden könnten, müsse die Legasthenieförderung ausschließlich durch innere Differenzierung erfolgen. Dies geschehe selbst-verständlich, reiche aber zur Förderung der vorliegenden Schwächen allein nicht aus.

Mit Bescheid des Kreisausschusses des Landkreises Darmstadt-Dieburg vom 15. Januar 2007 wurde der Antrag auf Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten einer Legasthenietherapie abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, die X...schule habe unter dem 7. November 2006 schriftlich bestätigt, dass keine zusätzlichen Förderstunden eingerichtet werden könnten und nur eine unzureichende Förderung durch Binnendifferenzierung erfolge. Es sei offensichtlich, dass die Schule damit nicht die Vorgaben der VOLRR erfülle. Die Schule sei nach der Verordnung aber vorrangig zur Förderung verpflichtet. Es handle sich um Pflichtleistungen, die nicht von Stundenkontingenten oder Geld- und Personalmitteln abhängig gemacht werden könnten. Jugendhilfemittel seien demgegenüber gemäß § 10 SGB VIII nachrangig zu gewähren.

Mit am 22. Februar 2007 bei dem Beklagten eingegangenem Schreiben der Mutter des Klägers wurde gegen den Bescheid Widerspruch eingelegt und gebeten, den Antrag nach alter Rechtslage zu bearbeiten, da mit dem Antrag habe zugewartet werden sollen, bis auch die Stellungnahme der Schule vorgelegen habe.

Mit Widerspruchsbescheid des Kreisausschusses des Landkreises Darmstadt-Dieburg vom 23. Mai 2007 wurde der Widerspruch unter Wiederholung der Begründung des Ausgangsbescheides zurückgewiesen.

Am 19. Juni 2007 hat der Kläger Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung ist vorgetragen worden, die Schule habe bereits Förderstunden erteilt, diese reichten aber leider nicht aus. Seit dem 31. Oktober 2006 sei der Kläger einmal pro Woche mit Ausnahme der Ferien in Therapie. Die Kosten betrügen 42,00 EUR je Therapiesitzung. Aktuell würden für die Therapie pauschal 120,00 EUR monatlich gezahlt. Die Therapie finde zunächst über einen Zeitraum von einem Jahr statt und werde längstens zwei Jahre in Anspruch genommen.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid des Kreisausschusses des Landkreises Darmstadt-Dieburg vom 15. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 23. Mai 2007 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat weiterhin darauf verwiesen, dass es Aufgabe der Schule sei, Schüler mit besonderer Lese- und Rechtschreibschwäche angemessen zu fördern. Die ihr durch die VOLRR vorgegebenen Pflichtaufgaben erbringe die X...schule aber eindeutig nicht.

Mit Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 27. August 2007 - 3 E 1022/07 - ist die Klage abgewiesen worden. Das Verwaltungsgericht hat die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII als nicht erfüllt angesehen, weil schon nicht dargetan sei, dass bei dem Kläger eine Abweichung von der seelischen Gesundheit vorliege, die eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zur Folge habe. Ein Anspruch gegen den Beklagten auf Übernahme der Kosten für die Legasthenieförderung bestehe aber auch deshalb nicht, weil für die Förderung vorrangig die öffentliche Schule zuständig sei. Es sei indes nicht ersichtlich, dass die von dem Kläger besuchte Grundschule den Vorgaben der VOLRR nachgekommen sei. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe sei aber nicht verpflichtet, Säumnisse der Schulverwaltung auszugleichen und die Kosten für die begehrte Legasthenieförderung zu übernehmen.

Das Urteil ist der Mutter des Klägers am 8. September 2007 zugestellt worden.

Am 8. Oktober 2007 hat der Kläger die Zulassung der Berufung beantragt. Der Beklagte hat dazu mit Schriftsatz vom 27. November 2007 vorgetragen, er habe vorsorglich geprüft, ob bei dem Kläger eine Teilnahmebeeinträchtigung am Leben in der Gesellschaft bestehe oder zumindest drohe. Daher sei seitens der Fachabteilung des Beklagten am 2. August 2007 ein Gespräch mit der Schulleiterin geführt und der Bericht der Lerntherapeutin des Klägers herangezogen worden. Dabei sei der Beklagte zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Kläger die Teilhabe am Leben tatsächlich zumindest bedroht sei. Für den Beklagten stehe mithin fest, dass der Kläger zweifelsfrei einen Anspruch auf Durchführung von Fördermaßnahmen habe. Allerdings bestehe zunächst die vorrangige Hilfepflicht der Schule aufgrund der VOLRR. Erst nach Erfolglosigkeit der dort vorgesehenen Maßnahmen kämen Leistungen des Jugendhilfeträgers nach dem SGB VIII in Betracht.

Der Senat hat mit Beschluss vom 2. September 2008 - 10 UZ 2199/07 - die Berufung gegen das Urteil wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zugelassen. Ein Anspruch auf Hilfe könne nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 SGB VIII bereits dann bestehen, wenn eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zwar noch nicht vorliege, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei. Dazu habe der Beklagte unter dem 27. November 2007 erklärt, sein Jugendamt sei aufgrund eines Gesprächs mit der Schulleiterin und aufgrund eines Berichts der Lerntherapeutin zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Kläger die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft tatsächlich zumindest bedroht sei. Hinsichtlich des vom Verwaltungsgericht darüber hinaus angeführten Nachrangs der Jugendhilfe sei zu vergegenwärtigen, dass der Träger der Jugendhilfe nicht mehr berechtigt sei, die Hilfe unter Hinweis auf den Nachranggrundsatz abzulehnen, wenn die staatliche Schule den Hilfebedarf des Schülers nur unzureichend erfüllen könne.

Der Senatsbeschluss ist der Bevollmächtigten des Klägers am 9. September 2008 zugestellt worden. Auf einen am 8. Oktober 2008 gestellten Antrag ist die Berufungsbegründungsfrist von dem Senatsvorsitzenden durch dessen Vertreter bis zum 29. Oktober 2008 verlängert worden.

Am 29. Oktober 2008 hat der Kläger die Berufung begründet und den Berufungsantrag gestellt. Zur Begründung wird vorgetragen, der Träger der Jugendhilfe sei nicht berechtigt, sich auf den Nachrang der Jugendhilfe zu berufen, wenn schulische Maßnahmen den Hilfebedarf des Schülers - wie hier - nur unzureichend erfüllen könnten. Auf eine vorrangige Zuständigkeit der Schulen könne nur verwiesen werden, wenn an den Schulen eine Förderung präsent und auf die speziellen Belange des betroffenen Kindes ausgerichtet sei. Die in der Schule angebotene Hilfe müsse geeignet sein, die Störung zu bearbeiten. Bei Kindern mit einer seelischen Beeinträchtigung oder wenn eine solche drohe, sei die Schule regelmäßig nicht in der Lage, diesen speziellen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, denn die Schule könne keine seelische Entwicklungsstörung therapieren. Für die dann erforderliche außerschulische Förderung sei bei Vorliegen der Anspruchsgrundlagen der Eingliederungshilfe immer das Jugendamt zuständig.

An hessischen Schulen finde keine Legasthenieförderung statt, sondern lediglich eine LRS-Förderung. Die VOLRR gehe grundsätzlich von einer überwindbaren Lese- und Rechtschreibschwierigkeit aus. Bei der Legasthenie (= Lese-Rechtschreibstörung F 81.0) handele es sich jedoch um ein lebenslanges Problem, das in der Rechtsprechung als Behinderung im Sinne des Art. 3 GG anerkannt worden sei. Träten wie im vorliegenden Fall bereits weitere psychische Störungen auf, so sei selbst eine schulische Förderung in Kleingruppen nicht ausreichend. Lehrer und Lehrerinnen seien Pädagogen, die über keine psychologische Zusatzausbildung verfügten und nicht die Aufgaben von Legasthenietherapeuten übernehmen könnten.

Im Übrigen sei eine Förderung des Klägers an der X...schule erfolgt, die durchgeführten Maßnahmen hätten für den Kläger aber nicht ausgereicht. Entgegen der Auffassung des Beklagten folge daraus jedoch nicht, dass dem Kläger ein einklagbarer Anspruch insbesondere auf Unterricht in einer gesonderten Lerngruppe für LRS-Schüler gegen die Schulverwaltung zustehe. Der Beklagte verkenne, dass nach den Vorgaben des Schulrechts Schülerinnen und Schüler Anspruch auf Unterricht nach Maßgabe der Stundentafel hätten, und zwar nur im Rahmen der personellen, sächlichen und fachspezifischen Möglichkeiten der Schule.

Bei dem Bericht der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Riedstadt vom 8. Mai 2006 handele es sich um einen Bericht über eine ärztliche Diagnostik. Wenn der Beklagte nunmehr behaupte, die Diagnostik sei nicht umfangreich dargestellt worden, so zeige dies gerade die Notwendigkeit, dass der Beklagte dann entweder bei dem diagnostizierenden Kinder- und Jugendpsychiater habe nachfragen oder eine neue Stellungnahme habe einholen müssen. Nach § 35a Abs. 1a SGB VIII hätten nicht die Eltern ein kinderpsychiatrisches Gutachten vorzulegen, sondern der Träger der öffentlichen Jugendhilfe habe die Stellungnahme eines der in den Nrn. 1 bis 3 der Vorschrift genannten Ärzte oder Therapeuten einzuholen. Dieser Verpflichtung sei der Beklagte nicht nachgekommen. Um die dabei anfallenden Kosten zu sparen, lasse man vielmehr die Hilfe- und Ratsuchenden im Stich. Sich nunmehr auf eine nicht ausreichende oder fehlende Stellungnahme zu berufen und dann noch zu behaupten, man habe keinerlei Entscheidungsfindung vornehmen können, verstoße gegen die gesetzlichen Vorschriften und mache den Bescheid schon aus diesem Grunde rechtswidrig.

Im Übrigen benenne der Bericht vom 8. Mai 2006 auf Seite 1 unten sämtliche Testverfahren, die zu einer Diagnose der Lese-Rechtschreibstörung geführt hätten. Der CFT 1 sei ein sprachfreier Intelligenztest. Hier führe der Bericht aus, dass das Ergebnis dieses Testverfahrens im voll durchschnittlichen Bereich des intellektuellen Grundleistungsvermögens gelegen habe. Dies bedeute bei einem durchschnittlichen IQ von 100, dass der Kläger einen Wert über 100 bis 120 erreicht habe. Angegeben seien ferner der durchgeführte Rechtschreibtest (HSP = Hamburger Schreibprobe) und der durchgeführte Lesetest (SLRT = Salzburger Lese- und Rechtschreibtest). Die von der Klinik diagnostizierte emotionale Störung sei eine Diagnose eines Kinder- und Jugendpsychiaters, die keiner Testverfahren bedürfe.

Darüber hinaus habe dem Beklagten der Bericht der Lerntherapeutin vom 2. Juli 2007 vorgelegen. Danach sei die erste Therapiestunde am 31. Oktober 2006 erfolgt, am 2. Juli 2007 seien 26 Therapiestunden absolviert gewesen. Der Kläger sei dem Bericht zufolge immer pünktlich gewesen und habe seine Unterlagen dabeigehabt. Oft habe er unter Kopfschmerzen gelitten. Deshalb habe die Therapeutin mit ihm Entspannungstechniken eingeübt. Trotz vieler Versuche der Eltern seien seine Fingernägel immer noch abgekaut. Der Kläger leide darunter, da sich sein Nagelbett immer wieder entzünde und er dann Schmerzen habe. Sie hätten einige Rechtschreibregeln erarbeiten können. Der Kläger habe sich zunehmend auch sicherer und gestärkt gefühlt, da er gemerkt habe, dass er auch schon sehr viel wisse. Kurz vor Schuljahresende habe der Kläger wieder zunehmend angespannter und skeptischer gewirkt. Die Therapeutin sei sich sicher, dass der Kläger gerade mit dem Schulwechsel ihre Begleitung brauche. Seine psychische Verfassung sei noch nicht so stabil, dass er den neuen Anforderungen standhalten könne.

Ferner habe ein Gespräch im Jugendamt stattgefunden, zu dem die Mutter des Klägers mit ihrem Sohn geladen worden sei; dort habe die Mutter des Klägers umfassend beschrieben, in welcher Situation sich der Kläger in der Zwischenzeit aufgrund seiner Störungen befunden habe. Des Weiteren sei seitens des Jugendamtes ein Gespräch mit der Schulleiterin geführt worden. Nach Einholung all dieser Informationen seien die Mitarbeiter des Beklagten ausweislich dessen Schriftsatzes vom 27. November 2007 selbst zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Kläger zumindest eine Teilhabebeeinträchtigung drohe.

Seit dem Schuljahr 2007/2008 besuche der Kläger ein Gymnasium in A-Stadt. Dort würden in der Klasse 5 und in der Klasse 6 schulische Fördermaßnahmen in Kleingruppen angeboten, die der Kläger besuche. Außerdem sei er von der Rechtschreibbenotung befreit. Aus dem Konferenzprotokoll vom 21. September 2007 ergebe sich darüber hinaus die Empfehlung, außerschulische Fördermaßnahmen einzuleiten bzw. fortzusetzen.

In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger die Berufung hinsichtlich der Kosten der über 20 Therapiestunden hinausgehenden Hilfeleistungen zurückgenommen.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 27. August 2007 - 3 E 1022/07 - und unter Aufhebung der Bescheide des Landkreises Darmstadt-Dieburg vom 15. Januar 2007 und 23. Mai 2007 den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der Übernahme der Therapiekosten zu gewähren und ihm die Kosten für 20 Stunden Therapie zu einem Stundensatz von 42,00 € zu erstatten.

Der Beklagte hat der teilweisen Rücknahme der Berufung zugestimmt und beantragt,

die Berufung im Übrigen zurückzuweisen.

Er trägt vor, mit der Einbeziehung der Schulen in den Regelungsbereich des § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII habe der Gesetzgeber dokumentiert, dass die Jugendhilfe nicht mehr Ausfallbürge für die seitens der Schulen zu erbringende Förderung sei. Angesichts der zum 1. August 2006 in Hessen in Kraft getretenen VOLRR komme die Jugendhilfe nur in besonderen Einzelfällen für eine außerschulische Förderung in Ausgestaltung des § 35a SGB VIII im Zusammenhang mit schulischen Teilleistungsstörungen in Betracht.

Die dem Antrag des Klägers beigefügte ärztlich-psychologische Bescheinigung vom 8. Mai 2006 stelle keinerlei Begutachtung dar, sondern enthalte lediglich Feststellungen, die vom Jugendamt in keiner Weise hätten überprüft werden können. Da aber in dem Schulbericht erklärt worden sei, dass Auffälligkeiten bezüglich einer Lese- und Rechtschreibschwäche festgestellt worden seien und der Kläger einen zusätzlichen Förderkurs seit 2006 besuche, habe das Jugendamt zunächst nicht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 35a SGB VIII prüfen müssen, denn mit Blick auf den Nachrang der Eingliederungshilfe sei zunächst zu prüfen gewesen, ob es bei den Teilleistungsstörungen unter Umständen einen anderen Leistungs- und damit Kostenträger gebe. Diese Prüfung habe ergeben, dass nach der VOLRR zunächst der alleinige und damit vorrangige Bildungsauftrag der Schule zu beachten sei. Mit dem Schreiben der Leiterin der X...schule vom 7. November 2006 werde lediglich dargestellt, dass der vom hessischen Gesetzgeber vorgegebene Auftrag an die Schule aufgrund interner Organisationsobliegenheiten des Schulträgers nicht erfüllt werden könne. Dies beseitige jedoch den gesetzlichen Auftrag an die Schule durch die VOLRR nicht. Mithin sei die Schule verpflichtet gewesen, differenziert und aussagekräftig zur schulischen Situation des Klägers und zu dessen Fähigkeitsdefiziten Stellung zu nehmen und über die schulischen Fördermaßnahmen und deren Erfolgsaussichten Aussagen zu treffen. Insbesondere die zu ergreifenden und durchgeführten Fördermaßnahmen hätten dargestellt und die entsprechenden Erfolge oder Misserfolge hätten dokumentiert werden müssen. Dies sei jedoch nach der Erklärung der Schulleiterin nicht erfolgt und nicht möglich.

In Bezug auf die Lese- und Rechtschreibschwäche sei festzustellen, dass bis zu jenem Zeitpunkt bei dem Beklagten keine Unterlagen vorgelegen hätten oder angekündigt worden seien, die eine qualifizierte gutachterliche Würdigung im Hinblick auf das Bestehen einer Lese- und Rechtschreibschwäche darstellten und eine qualifizierte Aussage hinsichtlich einer seelischen Behinderung im Sinne von § 35a SGB VIII nachwiesen. Eine entsprechende Prüfung, ob sekundäre psychische oder psychosomatische Störungen bei dem Kläger bereits vorlagen oder zu befürchten waren, sei daher ausgeschlossen gewesen. Der Ablehnungsbescheid des Beklagten sei daher zwingend gewesen und zu Recht erfolgt.

Bis zur verwaltungsgerichtlichen Entscheidung vom 27. August 2007 sei allein noch das Schreiben der Lerntherapeutin vom 2. Juli 2007 erfolgt. Die darin enthaltene Darstellung könne jedoch die Anforderungen für die Feststellung einer seelischen Behinderung, die durch eine Legasthenie ausgelöst worden sein könne, nicht erfüllen. Dies gelte auch für den Bericht der Institutsambulanz vom 8. Mai 2006, der dem Beklagten zudem nicht mit dem Antrag oder bis zum Urteil vorgelegt worden sei. Aus diesem Bericht, der keinesfalls die Anforderung an ein qualifiziertes Gutachten erfülle, sei nicht ersichtlich, welche konkreten Tests angewandt worden seien. Hierfür genüge nicht allein die Benennung nach F 81.0, sondern es sei erforderlich, die genaue Störung zu diagnostizieren und die wesentlichen Achsen darzustellen und die Testergebnisse zu bezeichnen. Auch sei nicht dargestellt worden, unter welchen Bedingungen die Tests durchgeführt worden seien und was aus den einzelnen Testergebnissen konkret zu folgern sei. Eine Prüfung und Feststellung der Höhe des IQ-Wertes sei ebenfalls nicht erfolgt.

Die Klage habe daher bereits an diesem Punkt abgewiesen werden müssen und der Kläger sei gehalten gewesen, einen Anspruch auf adäquate schulische Förderung in dem genannten Teilleistungsbereich gerichtlich gegen die Schule durchzusetzen. Eine Rechtsgrundlage für einen Anspruchsübergang auf den Träger der Jugendhilfe, weil die staatliche Schule den Hilfebedarf des Schülers nur unzureichend erfüllen könne, sei nicht ersichtlich. Eine Überleitung nach § 95 SGB VIII sei ausgeschlossen, denn der Anspruch des Schülers könne nicht auf den Träger der Jugendhilfe übergeleitet werden, da es sich bei dem Anspruch auf schulische Förderung um einen höchstpersönlichen Anspruch des Schülers handele.

Die Berufung sei daher bereits wegen des Fehlens der entsprechenden vorrangigen Anwendung der VOLRR durch die X...schule zurückzuweisen.

Rein vorsorglich werde darauf hingewiesen, dass nach den bislang vorliegenden Unterlagen eine qualifizierte Diagnose über gravierende Beeinträchtigungen, die eine bestehende oder drohende Teilhabebeeinträchtigung des Selbstwertgefühls und des Zutrauens in die Leistungsfähigkeit des Klägers offenbaren könne, nicht vorgelegt worden sei. Insbesondere wäre nachzuweisen gewesen, dass trotz schulischer Förderung seelische Störungen in dem Maße vorhanden seien, dass auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, totale Schulverweigerung, Rückzug aus dem sozialen Kontakt und Vereinzelung in der Schule vorlägen. Dies sei nicht geschehen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (2 Bände) und der vorgelegten Behördenakte (1 Hefter) verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Da der Kläger die Berufung hinsichtlich der Kosten für die über 20 Therapiestunden hinausgehenden Hilfeleistungen zurückgenommen hat, ist das Berufungsverfahren insoweit einzustellen (§ 126 Abs. 1 und 3, § 125 Abs. 1 i.V.m. § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO).

Soweit sie noch anhängig ist, hat die Berufung Erfolg.

Die vom Senat mit Beschluss vom 2. September 2008 zugelassene Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 27. August 2007 ist auch im Übrigen zu-lässig, da die Berufung mit am 29. Oktober 2008 und damit innerhalb der verlängerten Begründungsfrist (§ 124a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 3 VwGO) bei Gericht eingegangenem Schriftsatz begründet und der Berufungsantrag gestellt worden ist.

Der Eingliederungshilfeanspruch des Klägers gemäß § 35a SGB VIII scheitert entgegen der Auffassung des Beklagten nicht schon an der Regelung des § 10 Abs. 1 SGB VIII.

Nach dieser Vorschrift werden Verpflichtungen anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen und der Schulen, durch das SGB VIII nicht berührt (§ 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Auf Rechtsvorschriften beruhende Leistungen anderer dürfen nicht deshalb versagt werden, weil nach dem SGB VIII entsprechende Leistungen vorgesehen sind (§ 10 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Diesen Bestimmungen ist nach einhelliger Auffassung zu entnehmen, dass Jugendhilfeleistungen subsidiär sind und dass insbesondere auch die Verpflichtung der Schule, etwa bei Teilleistungsstörungen besondere Fördermaßnahmen zu ergreifen, gegenüber der Jugendhilfe vorrangig ist (vgl. Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 10 Rdnr. 23; Vondung in: LPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 10 Rdnr. 12; Schellhorn in: Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII/KJHG, 3. Aufl. 2007, § 10 Rdnr. 6, 19). In diesem Zusammenhang ist zwar die Regelung des § 1 Abs. 4 der am 1. August 2006 in Kraft getretenen Verordnung über die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen (VOLRR) vom 18. Mai 2006 (Amtsblatt des Hessischen Kultusministeriums 2006, 425) zu beachten. Danach haben Schüler mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen in allen Schulformen Anspruch auf individuelle Förderung.

Auf eine gegenüber der Jugendhilfe vorrangige Leistungsverpflichtung eines anderen Trägers oder der Schule darf ein Hilfesuchender nach ebenfalls einhelliger Auffassung allerdings nur dann verwiesen werden, wenn dieser vorrangige Anspruch auch rechtzeitig verwirklicht werden kann. Es dürfen deshalb nur solche vorrangigen Alternativleistungen in Betracht gezogen werden, die tatsächlich zur Bedarfsdeckung zur Verfügung stehen; es muss sich um sogenannte präsente Mittel handeln. Kann die staatliche Schule den konkreten Hilfebedarf des Kindes oder Jugendlichen hingegen nur unzureichend erfüllen, so ist der Träger der Jugendhilfe nicht berechtigt, die Hilfe unter Hinweis auf den Nachranggrundsatz abzulehnen (vgl. Hess. VGH, Beschlüsse vom 19. August 2008 - 10 UZ 1479/07 - sowie vom 13. März 2001 - 1 TZ 2872/00 -, NVwZ-RR 2002, 126; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. März 2006 - 12 A 806/03 -; Beschluss vom 30. Januar 2004 - 12 B 2392/03 -, FEVS 55, 469; Wiesner, a.a.O., § 10 Rdnr. 25; Vondung, a.a.O.; Fischer in: Schellhorn/ Fischer/Mann, a.a.O., § 35a Rdnr. 30).

Ein solcher Sachverhalt ist hier indes gegeben. Bereits im Schulbericht der X...schule vom 14. September 2006 wurde angegeben, dass eine zusätzliche schulische Förderung des Klägers in Bezug auf seine Lese- bzw. Rechtschreibschwäche erfolge, diese aber nicht ausreiche, sondern eine gezielte und qualifizierte zusätzliche außerschulische Förderung für zwingend erforderlich gehalten werde. Die weitere Stellungnahme der Schulleiterin vom 7. November 2006 bestätigte nochmals, dass die der Schule möglichen Fördermaßnahmen zur Förderung des Klägers nicht ausreichten, weil ausschließlich eine Förderung durch innere Differenzierung erfolgen könne. Da die Schule die erforderliche Hilfe somit nicht im notwendigen Umfang anbot und leistete und diese Hilfe auch nicht kurzfristig präsent gemacht werden konnte, war es dem Kläger auch nicht zuzumuten, gegen die Schulverwaltung etwa im Wege eines einstweiligen Anordnungsverfahrens vorzugehen.

Bei dem Kläger liegen auch die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII vor.

Kinder oder Jugendliche haben nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35 a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).

Eine Abweichung von der seelischen Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII liegt nicht schon deshalb vor, weil bei dem Kläger ausweislich der Bescheinigung der Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie des Diplom-Psychologen vom 8. Mai 2006 eine Lese- und Rechtschreibstörung (ICD-10: F81.0) diagnostiziert wurde. Bei dieser Teilleistungsschwäche ist eine Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Zustand der seelischen Gesundheit vielmehr nur zu bejahen, wenn es als Sekundärfolge zu einer seelischen Störung kommt, so dass deshalb die seelische Gesundheit des Kindes oder Jugendlichen länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26. März 2007 - 7 E 10212/07 -, FEVS 58, 477, 478; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Februar 2007 - 12 A 1472/05 -; Hess. VGH, Urteil vom 8. September 2005 - 10 UE 1647/04 -, JAmt 2006, 37; Vondung, a.a.O., § 35a Rdnr. 7).

Auch bei Vorliegen einer solchen sekundären seelischen Störung kann ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII zudem nur dann bestehen, wenn "daher", also infolge der sekundären seelischen Störung die Teilhabe des Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Deshalb genügt nicht das Bestehen einer jeden sekundären seelischen Störung, sondern es kommt für die Frage, ob ein Kind oder Jugendlicher seelisch behindert ist, auf das Ausmaß, den Grad der seelischen Störung an. Entscheidend ist, ob die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung erwarten lässt. Dies ist beispielsweise bei einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, bei einer totalen Schul- und Lernverweigerung, bei einem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder bei einer Vereinzelung in der Schule anzunehmen, nicht aber schon bei bloßen Schulproblemen und Schulängsten, die andere Kinder oder Jugendliche teilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. September 2000 - 5 C 29.99 -, BVerwGE 112, 98, 105; Urteil vom 26. November 1998 - 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487, 488 f.).

Gemessen hieran war im entscheidungsrelevanten Zeitraum eine Beeinträchtigung der Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft aufgrund einer seelischen Störung zu erwarten.

Der ärztlich-psychologischen Bescheinigung vom 8. Mai 2006 ist zu entnehmen, dass es bei dem Kläger bereits zu einer seelischen Störung in Gestalt einer erheblichen emotionalen Beeinträchtigung und damit einer Sonstigen emotionalen Störung des Kindesalters nach ICD-10: F93.8 gekommen war. Da keinerlei Anhalt dafür gegeben ist, dass diese seelische Störung nicht in Zusammenhang mit der diagnostizierten Lese- und Rechtschreibstörung des Klägers stand, geht der Senat davon aus, dass die festgestellte seelische Störung Sekundärfolge der LRS war, auch wenn dies in der Bescheinigung nicht ausdrücklich herausgestellt wurde. Für diese Sichtweise sprechen auch die Ausführungen der Lerntherapeutin des Klägers in deren Schreiben vom 2. Juli 2007 an den Beklagten. Hiernach habe der Kläger, der am 31. Oktober 2006 zur ersten Therapiestunde gekommen sei, nicht verstehen können, warum er in Deutsch so große Probleme habe, sei er doch ein kluges Kind. Durch die vielen Misserfolge trotz großer Anstrengung und Arbeitseinsatzes zu Hause sei er inzwischen entmutigt gewesen und habe resigniert gehabt. Er habe sehr gehemmt und verunsichert gewirkt. Seine Körperhaltung sei auffallend verkrampft gewesen. Er habe ängstlich und angespannt gewirkt. Aufgefallen seien ferner die abgebissenen Fingernägel, die auch später noch oft Anlass für ein Gespräch gewesen seien. Der Kläger habe außerdem ungewöhnlich oft unter Kopfschmerzen leiden müssen. Er habe unter einer großen Last gelitten.

Vor diesem Hintergrund wich die seelische Gesundheit des Klägers von dem für sein Lebensalter typischen Zustand länger andauernd ab.

Sofern der Beklagte die ärztlich-psychologische Bescheinigung in diesem Zusammenhang für nicht ausreichend erachtete, hätte es nach § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII ihm oblegen, eine aussagekräftigere Stellungnahme einzuholen.

Das erkennende Gericht ist ferner der Überzeugung, dass aufgrund der festgestellten seelischen Störung eine Beeinträchtigung der Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten war.

Hierbei verkennt das Gericht nicht, dass der Schulbericht vom 14. September 2006 in dieser Hinsicht wenig ergiebig ist, da dort lediglich angegeben wurde, der Kläger sei eher schüchtern und brauche oftmals Hilfe und Ermunterung, seine Arbeit anzugehen; ihm fehle es oft an Selbstvertrauen. In dem Förderplan der X...schule vom 5. Juni 2007 ist ferner festgehalten, mit seinen Klassenkameraden verstehe der Kläger sich gut und sie respektierten ihn. Der Senat teilt gleichwohl die von dem Beklagten in dessen Schriftsatz vom 27. November 2007 mitgeteilte Auffassung, der Kläger habe angesichts der seitens des Jugendamtes am 2. August 2007 getroffenen Feststellung, dass bei dem Kläger die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft tatsächlich zumindest bedroht sei, einen Anspruch auf Durchführung von Fördermaßnahmen. Die Einschätzung der sachkundigen Mitarbeiter des Jugendamtes, die sich auf die vorgelegten Nachweise und Gespräche mit der Mutter des Klägers sowie mit der Schulleiterin der X...schule und mit der Lerntherapeutin des Klägers stützt, ist nicht in Zweifel zu ziehen, sondern entspricht dem, was schon in Anbetracht der Schilderungen der Lerntherapeutin in ihrem Bericht vom 2. Juli 2007 - auch für den zurückliegenden Zeitraum - zu besorgen war.

Die in § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII geforderte fachliche Begutachtung des Vorliegens einer Teilhabebeeinträchtigung obliegt den pädagogischen Fachkräften des Jugendamtes, so dass die Bestimmung des Behindertenbegriffs des § 35a Abs. 1 SGB VIII letztlich im Verantwortungsbereich des Jugendamtes verbleibt. Allerdings unterliegt der unbestimmte Rechtsbegriff der seelischen Behinderung der vollen gerichtlichen Überprüfung (vgl. Sächsisches OVG, Beschluss vom 9. Juni 2009 - 1 B 288/09-; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26. März 2007 - 7 E 10212/07 -, FEVS 58, 477, 479; Vondung, a.a.O., § 35a Rdnr. 7; Fischer, a.a.O., § 35a Rdnr. 14). Erst dann, wenn die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII erfüllt sind und deshalb "dem Grunde nach" ein Hilfeanspruch besteht, steht dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei der Entscheidung "über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart" (§ 36 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) bzw. über "Art und Umfang der Hilfe" (§ 36 Abs. 1 Satz 1 sowie § 27 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII), bei der "Ausgestaltung der Hilfe" (§ 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII) und gegebenenfalls "bei der Auswahl der Einrichtung oder Pflegestelle" (§ 36 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII) ein Beurteilungsspielraum zu, weil es sich bei dieser Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes bzw. des Jugendlichen und mehrerer Fachkräfte handelt, das nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1999 - 5 C 24.98 -, BVerwGE 109, 155, 167).

Vorliegend ist entscheidend, ob die seelische Störung des Klägers nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv war, dass sie dessen Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft zu beeinträchtigen drohte. Dies war auch nach Auffassung des Senats der Fall.

Dem Vermerk des Jugendamtes vom 2. August 2007 ist zwar zu entnehmen, dass der Kläger in der Klasse integriert sei, einige Freunde habe und zum Fußballtraining gehe. Dies erfährt allerdings sogleich wieder eine Einschränkung dadurch, dass der Kläger nur sehr unregelmäßig in den Fußballverein gehe, weil er wegen Kopfschmerzen sehr oft daheim bleibe. Daneben werden Versagensängste des Klägers und seine mittlerweile auch große Angst vor der neuen Schule benannt. Die Leiterin der X...schule bestätigte, obwohl sie nur wenige Stunde in der Klasse des Klägers war, auch ihr sei aufgefallen, unter welchem Druck das Kind stehe. Es nimmt daher nicht Wunder, wenn die Mutter des Klägers gegenüber dem Jugendamt weiter schilderte, der Kläger kaue Fingernägel, bis keine mehr da seien. In der Schule zerkaue er Stifte ohne Ende. Sobald Deutschhausaufgaben anstünden, komme es zur Eskalation. Der Kläger schreie dann 20 Minuten am Stück herum, raste völlig aus und lasse sich nicht beruhigen. Wenn er in diesem Moment etwas in die Hände bekomme, werfe er den Gegenstand auf den Boden. Die Hausaufgaben, die sonst bei gutem Verlauf 45 Minuten in Anspruch nähmen, dauerten dann zwei bis drei Stunden. Diese Schreianfälle träten ca. dreimal in der Woche auf. Hinterher entschuldige sich der Kläger bei seiner Mutter und verstehe selbst nicht, was das gewesen sei. Er sage öfter, dass er blöd sei. Er schlafe schlecht und verliere schnell die Lust an allem, was er tue.

Infolge einer Teilleistungsstörung entwickelte sekundäre seelische Probleme führen, wenn sie das Maß der nachhaltigen Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 SGB VIII erreicht haben, regelmäßig in der Folge auch zu einer Teilhabebeeinträchtigung im Sinne dieser Vorschrift (vgl. Sächsisches OVG, a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Februar 2007 - 12 A 1472/05 -). So führten auch die hier festzustellenden Probleme wie Versagensängste, fehlendes Selbstwertgefühl, Verhaltens- und Anpassungsstörungen mit Zukunftsängsten, Rückzug von außerschulischen Aktivitäten bereits im entscheidungserheblichen Zeitraum aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Gefährdung des Klägers in seiner sozialen Entwicklung, wie dies im Ergebnis auch in der ärztlich-psychologischen Bescheinigung vom 8. Mai 2006 bereits prognostiziert worden war.

Der nach allem gegebene Eingliederungshilfeanspruch des Klägers gegen den Beklagten ist auf die Übernahme der Kosten gerichtet, die ihm infolge der Durchführung der Lerntherapie gemäß § 35a Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII bei der Lerntherapeutin Margit Knauf in der Zeit vom 31. Oktober 2006 bis zum 23. Mai 2007 - mithin für 20 Therapiestunden - entstanden sind. Dem steht nicht entgegen, dass sich der Kläger diese Leistung selbst beschafft hat, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe gemäß § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII die Kosten der Hilfe aber grundsätzlich nur dann trägt, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe eines Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Vorliegend ist der Beklagte gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen verpflichtet, weil der Hilfebedarf gegenüber dem Beklagten rechtzeitig geltend gemacht wurde, die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe entsprechend den obigen Ausführungen vorlagen und die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub duldete.

Die von der Mutter des Klägers eingeleitete ambulante Therapie erscheint ferner auch als eine zur Abdeckung des bestehenden Eingliederungshilfebedarfs geeignete Maßnahme. Eine konkrete, besser geeignete Alternativmaßnahme wurde dem Kläger bzw. seiner Mutter seitens des Beklagten nicht aufgezeigt. Da die seelische Störung des Klägers auf seine Lese-Rechtschreibstörung zurückzuführen war, musste die Hilfe für den Kläger auch an diesem Punkt ansetzen. Auch wenn die Therapie allein nicht ausreichen mochte, um die Eingliederung des Klägers in die Gesellschaft zu sichern, war sie doch erforderlich, um dieses Ziel zu erreichen. Hinsichtlich der Höhe der Kosten für die einzelne Therapiestunde hat der Senat keine durchgreifenden Bedenken; solche sind auch seitens des Beklagten nicht erhoben worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2, 126 Abs. 3 Satz 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit auf § 188 Satz 2 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils folgt aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die hierfür erforderlichen Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Ende der Entscheidung

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