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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 26.04.2005
Aktenzeichen: 10 UE 514/04
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 86 Abs. 1 S. 3
SGB VIII § 89a
SGB VIII § 89f
SGB VIII § 97
Die Vorschrift des § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII ist auch dann anzuwenden, wenn sich die Zuständigkeit vor dem Tod des Elternteils nicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1, sondern nach § 86 Abs. 2 oder Abs. 5 SGB VIII gerichtet hat.

Der erstattungsberechtigte Träger der Jugendhilfe ist auf Grund des Interessenwahrungsgrundsatzes verpflichtet, gemäß § 97 SGB VIII Ansprüche des Pflegekindes auf Ausbildungsförderung nachdrücklich zu verfolgen, um den erstattungsfähigen Aufwand gering zu halten.


Hessischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes Urteil

10. Senat

10 UE 514/04

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Jugendwohlfahrts- und Jugendförderungsrechts;

hier: Erstattung

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 10. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Pieper, Richter am Hess. VGH Thorn, Richter am Hess. VGH Dr. Saenger, ehrenamtliche Richterin Föller-Moser, ehrenamtliche Richterin Richter

ohne mündliche Verhandlung am 26. April 2005 für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 22. Januar 2002 - 5 E 1589/98 - geändert.

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Aufwendungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch in Höhe von 7.388,00 € zu erstatten.

Im Übrigen bleibt es bei der Abweisung der Klage.

In ihrem weitergehenden Inhalt wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Von den Kosten des gesamten Verfahrens haben die Klägerin 2/5 und der Beklagte 3/5 zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 7.400,00 € abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin, eine kreisfreie Stadt, will erreichen, dass der beklagte Landkreis verpflichtet wird, ihr Aufwendungen der Jugendhilfe in Höhe von insgesamt 26.095,00 DM = 13.342,16 € zu erstatten.

Die Klägerin gewährte der am 1. Februar 1976 geborenen R. B. für den Zeitraum von November 1982 bis Ende Januar 1994 Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege, weil die nicht verheirateten Eltern nicht in der Lage waren, für die Erziehung ihres Kindes zu sorgen. Bei Beginn der Leistung lebten die Eltern zwar beide im Zuständigkeitsbereich der Klägerin, aber nicht zusammen. Die Personensorge stand der Mutter zu. Am 23. August 1993 verstarb die Mutter. Bereits zuvor war der Vater in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten gezogen.

Für die Zeit vom 1. Februar 1994 bis 31. Oktober 1995 gewährte die Klägerin der nunmehr Volljährigen R. B. Hilfe für junge Volljährige nach § 41 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII), indem sie weiterhin die Aufwendungen für die Vollzeitpflege übernahm. Dabei zahlte sie an die Pflegeeltern für die Zeit vom 1. Februar 1994 bis 31. Oktober 1995 laufende monatliche Leistungen, die sich im Jahr 1994 auf monatlich 1.225,00 DM und im Jahr 1995 auf monatlich 1.262,00 DM beliefen. In diesen Beträgen war bereits das Kindergeld, das die Pflegeeltern erhielten, abgesetzt.

Für den Zeitraum von Februar 1994 bis Oktober 1994 bewilligte das Amt für Ausbildungsförderung der Volljährigen R. B. Ausbildungsförderung in Höhe von 590,00 DM monatlich. Diese Beträge wurden aber nicht an R. B. überwiesen, sondern als Erstattungssumme an das Jugendamt der Klägerin. Auch der Träger der Rentenversicherung führte die Halbwaisenrente der R. B. für den Zeitraum von Februar 1994 bis Juli 1995 in Höhe von insgesamt 1.615,32 DM als Erstattungssumme an das Jugendamt der Klägerin ab.

Für den Zeitraum ab November 1994 beantragte zwar das Jugendamt der Klägerin bei dem Amt für Ausbildungsförderung die Weitergewährung der Ausbildungsförderung für R. B.. Diesen Antrag lehnte das Amt für Ausbildungsförderung aber ab, weil R. B. nicht sämtliche erforderlichen Unterlagen vorgelegt hatte.

Mit einem Schreiben vom 8. Februar 1995, das am 10. Februar 1995 bei dem Beklagten einging, forderte die Klägerin den Beklagten auf, ihre Aufwendungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch für R. B. zu erstatten. Zur Begründung führte sie aus, für den Erstattungsanspruch sei maßgeblich, dass es insoweit nach § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII seit dem Tod der Mutter der R. B. im August 1993 auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Vaters ankomme. Dieser gewöhnliche Aufenthalt sei im Zuständigkeitsbereich des Beklagten.

In einem weiteren Schreiben an den Beklagten vom 25. Februar 1997 erklärte die Klägerin, dass sie wegen der Regelung des § 111 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) den Erstattungsanspruch nur noch für den Zeitraum ab 1. Februar 1994 (bis 31. Oktober 1995) geltend mache.

Da der Beklagte dem Erstattungsbegehren nicht entsprach, hat die Klägerin am 11. Mai 1998 bei dem Verwaltungsgericht Kassel Klage erhoben und diese näher begründet.

Sie hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an sie 26.095,00 DM zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Auch er hat seinen Antrag begründet.

Mit Urteil vom 22. Januar 2002 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen Folgendes ausgeführt:

Für den geltend gemachten Erstattungsanspruch komme es nach § 89 a Abs. 1 und Abs. 3 SGB VIII darauf an, ob der Beklagte nach dem Tod der Mutter der R. B. der zuständige Träger der Jugendhilfe geworden wäre, wenn nicht die Sonderregelung des § 86 Abs. 6 SGB VIII für die Zuständigkeit bei Vollzeitpflege bestanden hätte. Dies sei aber zu verneinen. Die Klägerin wäre auch dann nach dem Tod der Mutter von R. B. zuständig geblieben, wenn die Regelung des § 86 Abs. 6 SGB VIII nicht bestanden hätte. Bereits vor dem Tod der Mutter habe sich die Zuständigkeit nicht nach § 86 Abs. 1, sondern nach § 86 Abs. 2 oder 5 SGB VIII gerichtet, da der Vater - anders als die Mutter der R. B. - nicht mehr im Zuständigkeitsbereich der Klägerin gelebt habe.

Wenn die Zuständigkeit sich aber nach § 86 Abs. 2 oder 5 SGB VIII gerichtet habe und nicht nach § 86 Abs. 1 SGB VIII, sei im Falle des Todes des personensorgeberechtigten Elternteils nicht die Regelung des § 86 Abs. 1 Satz 3, sondern die des § 86 Abs. 4 SGB VIII maßgeblich. Es komme daher auf den gewöhnlichen Aufenthalt der R. B. vor dem Beginn der Maßnahme der Jugendhilfe und nicht auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Vaters an. R. B. habe aber ihren gewöhnlichen Aufenthalt bereits vor dem Beginn der Jugendhilfe im Zuständigkeitsbereich der Klägerin gehabt.

Gegen dieses Urteil, das ihr am 31. Januar 2002 zugestellt worden ist, hat die Klägerin sich am 21. Februar 2002 mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung gewandt. Diesem Antrag hat der Senat mit Beschluss vom 17. Februar 2004 wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache entsprochen.

Daraufhin hat die Klägerin die Berufung mit einem Schriftsatz, der am 5. März 2004 eingegangen ist, im Wesentlichen wie folgt begründet:

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts habe sie nach der Vorschrift des § 89 a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 SGB VIII gegenüber dem Beklagten einen Anspruch auf Erstattung ihrer Aufwendungen. Denn der Beklagte wäre nach der Vorschrift des § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII seit dem Tod der Mutter der R. B. der zuständige Träger der Jugendhilfe gewesen, wenn nicht auf Grund der Sonderregelung des § 86 Abs. 6 SGB VIII für die Hilfe in Vollzeitpflege ihre Zuständigkeit gegeben gewesen wäre. Nach § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII sei dann, wenn nur ein Elternteil lebe, dessen gewöhnlicher Aufenthalt für die Zuständigkeit des Trägers der Jugendhilfe maßgebend. Diese Regelung sei auch dann anzuwenden, wenn die Eltern - wie hier - vor dem Tod eines Elternteils in den Bezirken unterschiedlicher Träger der Jugendhilfe gelebt hätten. Die Vorschrift des § 86 Abs. 4 SGB VIII, auf die das Verwaltungsgericht abgestellt habe, erfasse nur den Fall, dass beide Elternteile verstorben seien.

Die Klägerin beantragt,

unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Kassel vom 22. Januar 2002 den Beklagten zu verurteilen, an sie 13.342,16 € (= 26.095,00 DM) zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts. Dabei führt er unter anderem aus, dass die Vorschrift des § 86 Abs. 4 SGB VIII nach ihrem Wortlaut auch dann anzuwenden sei, wenn nur ein Elternteil verstorben sei.

Beide Beteiligten haben ihr Einverständnis erklärt, dass ohne mündliche Verhandlung über die Berufung entschieden wird.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten, das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts und den Inhalt der beigezogenen Behördenakte der Klägerin (2 Hefte).

Entscheidungsgründe:

Die Berufung, die der Senat zugelassen hat und die rechtzeitig begründet worden ist, ist auch im Übrigen zulässig. Sie ist teilweise begründet. Denn auch die zulässige Klage ist teilweise begründet. Auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten kann der Senat ohne mündliche Verhandlung über die Berufung entscheiden.

Die Klägerin hat gegenüber dem Beklagten einen Anspruch auf Erstattung ihrer Aufwendungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch für die junge Volljährige R. B., allerdings nicht in der vollen geltend gemachten Höhe. Die Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch bildet die Vorschrift des § 89 a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 SGB VIII. Diese ist in der Fassung anzuwenden, die in dem Zeitraum der Gewährung der Hilfe, also von Februar 1994 bis Oktober 1995 galt. Denn der Änderung dieser Vorschrift durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 15. Dezember 1995 (BGBl. I S. 1775 f.) ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber damit auch Erstattungsansprüche für Zeiträume begründen wollte, die vor dem Inkrafttreten der Änderung am 1. Januar 1996 geendet haben. Maßgeblich ist daher die Fassung der Bekanntmachung vom 3. Mai 1993 (BGBl. I. S. 637 ff.).

Nach § 89a Abs. 3 SGB VIII (Fassung 1993) ist der Anspruch auf Kostenerstattung davon abhängig, dass ein "Zuständigkeitswechsel" eingetreten ist und sich danach der für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt geändert hat. Beide Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Ein Zuständigkeitswechsel im Sinne von § 89 a Abs. 3 SGB VIII (F. 1993) ist auch darin zu sehen, dass sich die Rechtsgrundlage für die Zuständigkeit ändert. Es reicht dabei aus, dass an die Stelle der Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII tritt. Es muss also nicht ein anderer Träger der Jugendhilfe zuständig geworden sein. Diese Sicht ist auf Grund des Zusammenhangs von § 89a Abs. 3 mit § 89a Abs. 1 SGB VIII (F. 1993) geboten. Sie wird durch die Neufassung des § 89a Abs. 3 SGB VIII durch das Änderungsgesetz vom 15. Dezember 1995 bestätigt. Denn in der neuen Fassung wird das Wort "Zuständigkeitswechsel" nicht mehr verwandt

Ein "Zuständigkeitswechsel" im Sinne von § 89a Abs. 3 SGB VIII (F. 1993) ist hier darin zu sehen, dass die Klägerin zunächst auf der Grundlage des § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII und der Vorgängervorschriften für die Jugendhilfe für R. B. zuständig war und danach der Tatbestand des § 86 Abs. 6 SGB VIII (bzw. der Vorgängervorschrift) erfüllt war, woraus sich ebenfalls die Zuständigkeit der Klägerin ergab. Diese Sicht des "Zuständigkeitswechsels" im Sinne von § 89 a Abs. 3 SGB VIII (F. 1993) ist zwischen den Beteiligten auch nicht umstritten. Umstritten ist allein, ob sich danach der für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt geändert hat. Dies ist entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts zu bejahen.

Mit dem Tod der Mutter der R. B. am 23. August 1993 ist der Tatbestand des § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII erfüllt, so dass sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Vaters der R. B. gerichtet hätte, wenn nicht die Sonderzuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII gegeben wäre. Zuvor hätte die Zuständigkeit sich entweder nach § 86 Abs. 2 oder nach § 86 Abs. 5 SGB VIII nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der personensorgeberechtigten Mutter der R. B. gerichtet, da die Eltern der R. B. vor dem Tod der Mutter in den Bereichen unterschiedlicher Träger der Jugendhilfe ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten. Auf der Grundlage des § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII hat sich daher mit dem Tod der Mutter der R. B. am 23. August 1993 der für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt im Sinne von § 89 a Abs. 3 SGB VIII geändert.

Zwar spricht der Zusammenhang des § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII mit den beiden ersten Sätzen des § 86 Abs. 1 SGB VIII dafür, dass der Gesetzgeber in erster Linie die Zuständigkeit bei dem Beginn der Leistung der Jugendhilfe regeln wollte. Andererseits ist nicht ersichtlich, dass diese Regelung ausschließlich auf die Zuständigkeit bei dem Beginn der Leistung beschränkt sein sollte. Gegen eine solche Beschränkung spricht neben dem Wortlaut auch die Entstehungsgeschichte des § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII. Mit dieser Vorschrift sollte eine Regelungslücke geschlossen werden (Bundestags-Drucksache 12/2866 S. 34). Eine solche Regelungslücke ist dann anzunehmen, wenn die folgenden Absätzen des § 86 SGB VIII die Zuständigkeit im Falle des Todes des Elternteils, der zuvor für die Zuständigkeit maßgeblich war, nicht regeln. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass der Gesetzgeber in § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII zwar ebenfalls den Tod der Eltern angesprochen hat, aber der Wortlaut des § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII dafür spricht, dass damit nur der Fall erfasst sein soll, dass beide Eltern verstorben sind.

Zwar meint der Beklagte, die Worte "oder sind sie verstorben" in § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII seien wegen des Bezugs zu den vorstehenden Satzteilen auch dann sprachlich korrekt, wenn auch das Versterben nur eines Elternteils umfasst sein sollte. Da das Sprachempfinden aber für eine andere Sicht spricht und es in der Gesetzesbegründung zu § 86 Abs. 4 (Bundestags-Drucksache 12/2866 S. 22) ausdrücklich heißt, dass damit zusätzlich der Fall berücksichtigt werden solle, dass "die Eltern verstorben sind", ist die Vorschrift des § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII dahin zu verstehen, dass ihr Tatbestand nur im Falle des Todes beider Elternteile erfüllt ist (ebenso Schellhorn, SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 2. Aufl. 2000, Rdnr. 45 zu § 86; Hauck, SGB VIII , Kommentar, Stand 2003, Rdnr. 11 zu § 86). Wenn aber der Tatbestand des § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII nicht erfüllt ist, bleibt allein der Rückgriff auf § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII.

Dafür dass § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII auch dann anzuwenden ist, wenn die Eltern zuvor verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten, sprechen auch sachliche Gründe. Dabei ist Folgendes zu beachten: Die Regelungen über die Zuständigkeit in § 86 Abs. 1 bis 3 und Abs. 5 SGB VIII zeigen, dass der Gesetzgeber mit der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern oder des maßgeblichen Elternteils den engen Kontakt zwischen dem verantwortlichen Jugendamt und den Eltern bzw. dem maßgeblichen Elternteil gewährleisten will. Lebt nur noch ein Elternteil, ist nur noch mit diesem der Kontakt möglich. Dies kann am leichtesten durch das Jugendamt geschehen, in dessen Bereich der überlebende Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (vgl. dazu OVG Schleswig, Urteil vom 28. März 2001 - 2 L 68/01 -, FEVS 53, 25 ff.).

Zwar tritt dieser Anknüpfungsgrund der Kontaktpflege zu den Eltern dann zurück, wenn - wie hier - die Sonderregelung des § 86 Abs. 6 SGB VIII eingreift. Im Rahmen des § 89 a Abs. 3 SGB VIII ist aber auf die fiktive Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII abzustellen, also darauf, welcher Träger der Jugendhilfe zuständig gewesen wäre, wenn die Sonderregelung des § 86 Abs. 6 SGB VIII nicht bestünde.

Auf der Grundlage des § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII ist der Beklagte hier nach § 89 a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 SGB VIII für den Zeitraum ab dem Tod der Mutter der R. B. am 23. August 1993 erstattungspflichtig geworden. Denn der Vater der R. B. hatte am 23. August 1993 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Diesen gewöhnlichen Aufenthalt hat er dort auch bis zum Ende des hier maßgeblichen Hilfezeitraums am 31. Oktober 1995 beibehalten. Denn er hat sich erst im November 1996 wieder im Bereich der Klägerin angemeldet, und zwar unter Angabe seiner bisherigen Anschrift im Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Dies belegt die Auskunft des Einwohnermeldeamts vom März 1997 (Bl. 396 d. BA).

Der Anspruch auf Erstattung ist allerdings nach § 111 SGB X insoweit erloschen, als es um Aufwendungen geht, die im Zeitpunkt des Geltendmachens des Anspruchs länger als ein Jahr zurücklagen.

Da das Schreiben, mit dem die Klägerin den Erstattungsanspruch erstmals geltend gemacht hat, am 10. Februar 1995 bei dem Beklagten eingegangen ist und die zu erstattenden Leistungen im Rahmen der Vollzeitpflege monatlich gewährt worden sind, ist der Erstattungsanspruch auf die Aufwendungen ab 1. Februar 1994 beschränkt. Nur in diesem Umfang wird er auch von der Klägerin geltend gemacht.

Der geltend gemachte Erstattungsanspruch ist allerdings nach § 89 f Abs. 1 SGB VIII davon abhängig, dass die Aufwendungen den Vorschriften des SGB VIII entsprochen haben. Dabei kommt es darauf an, ob die Leistungsvoraussetzungen nach § 41 i.V.m. § 33 SGB VIII erfüllt waren. Dies ist zu bejahen.

R. B., die am 1. Februar 1994 volljährig geworden ist und zu diesem Zeitpunkt seit etwa 10 1/2 Jahren bei ihren Pflegeeltern lebte, besuchte noch bis zum 27. Juni 1995 von ihrem Wohnort Dortmund aus die gymnasiale Oberstufe einer Schule in Bochum. Während dieser Zeit und einer anschließenden viermonatigen Orientierungsphase benötigte sie nach der Einschätzung der Sozialarbeiter des Jugendamts der Klägerin noch den Rückhalt in der Pflegefamilie, da zu dem Vater kein Kontakt bestand. Diese Einschätzung des Jugendamts ist nicht zu beanstanden.

Hinsichtlich der Höhe der Aufwendungen des Jugendamts ist in der Behördenakte belegt, dass die Klägerin entsprechend den Richtlinien des Landes für die Monate Februar bis Dezember 1994 laufende Leistungen in Höhe von monatlich 1.225,00 DM und für die Monate Januar bis Oktober 1995 solche in Höhe von monatlich 1.262,00 DM gewährt hat. Daraus ergeben sich für das Jahr 1994 Aufwendungen in Höhe von 11 x 1.225,00 DM = 13.475,00 DM und für das Jahr 1995 in Höhe von 10 x 1.262,00 DM = 12.620,00 DM, so dass eine Summe von 26.095,00 DM erreicht wird.

Davon sind allerdings die Erstattungsbeträge des Amtes für Ausbildungsförderung auf Grund des Bescheids dieser Behörde vom 29. Juni 1994 (Bl. 333/334 d. BA) in Höhe von monatlich 590,00 DM für die Monate Februar bis Oktober 1994, also von insgesamt 5.310,00 DM abzusetzen.

Zusätzlich sind die Erstattungsleistungen der Landesversicherungsanstalt auf Grund des Bescheids vom 25. Oktober 1995 in Höhe von 1.615,32 DM abzusetzen.

Danach verbleiben von der Summe von 26.095,00 DM noch 19.169,68 DM.

Schließlich ist hinsichtlich der Höhe der Aufwendungen zu berücksichtigen, dass die junge Volljährige es unterlassen hat, für den Zeitraum von November 1994 bis Juni 1995, dem Ende ihrer Schulausbildung, in einem neuen Verfahren auf Ausbildungsförderung die erforderlichen Belege vorzulegen, so dass das Amt für Ausbildungsförderung die Förderung versagte.

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass es für das Erstattungsrecht im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) zu der Vorschrift des § 111 BSHG anerkannt ist, dass der erstattungsberechtigte Rechtsträger die Pflicht hat, die Interessen des erstattungspflichtigen Rechtsträgers zu wahren (vgl. Lehr- und Praxiskommentar zum Bundessozialhilfegesetz, 6. Aufl. 2003, Rdnr. 11 zu § 111). Dieser Interessenwahrungsgrundsatz ist auch im Rahmen des § 89 f SGB VIII zu berücksichtigen, da diese Vorschrift der Bestimmung des § 111 BSHG nachgebildet ist (ebenso Wiesner u.a., SGB VIII-Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 2. Aufl. 2000, Rdnr. 7 zu § 89 f; BVerwG, Urteil vom 12. August 2004 - 5 C 51.03 -, NVwZ-RR 2005, 119).

Die Klägerin war danach gehalten, alles zu tun, um den erstattungsfähigen Aufwand gering zu halten. Deshalb hatte sie die Pflicht, selbst nach § 97 SGB VIII die Feststellung der Ausbildungsförderung für die junge Volljährige R. B. für den Zeitraum von November 1994 bis Juni 1995 zu betreiben. Dies hat sie aber nicht mit der gebotenen Intensität getan.

Zwar hat das Jugendamt der Klägerin mit einem Schreiben vom 30. November 1994 bei dem Amt für Ausbildungsförderung der Klägerin die Feststellung des Anspruchs auf Ausbildungsförderung für R. B. beantragt. Auch hat sie die junge Volljährige mit einem Schreiben vom 16. Februar 1995 aufgefordert, die erforderlichen Unterlagen für die Ausbildungsförderung vorzulegen. Schließlich hat sie, als R. B. dieser Aufforderung nicht nachkam, als Druckmittel die Zahlung an die Pflegeeltern eingestellt. Als R. B. dann aber im Sommer 1995 einzelne Unterlagen vorlegte, hat das Jugendamt nicht bei dem Amt für Ausbildungsförderung nachgefragt, ob die Unterlagen vollständig waren und ausreichten, um die Ausbildungsförderung zu bewilligen. Vielmehr hat das Jugendamt ohne weitere Prüfung die Leistungen an die Pflegeeltern nachgezahlt und schließlich bis Ende Oktober 1995 gewährt, obwohl R. B. nicht sämtliche erforderlichen Unterlagen vorgelegt hatte.

Hier war es geboten, dass das Jugendamt sich vor der Wiederaufnahme der Leistungen bei dem Amt für Ausbildungsförderung vergewisserte, ob nunmehr alle erforderlichen Unterlagen vorlagen.

In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass das Amt für Ausbildungsförderung ebenso wie das Jugendamt eine Dienststelle der Klägerin ist, so dass das Jugendamt leicht die erforderliche Auskunft von dem Amt für Ausbildungsförderung hätte erhalten können.

Schließlich hätte das Jugendamt gegen die ihr bekannt gegebene Ablehnung der Ausbildungsförderung Widerspruch einlegen müssen, um im Widerspruchsverfahren noch zu erreichen, dass die noch fehlenden Unterlagen eingereicht wurden und Ausbildungsförderung gewährt wurde.

Wenn das Jugendamt aber in dem gebotenen Umfang das Verfahren auf Ausbildungsförderung gefördert hätte, hätte das Amt für Ausbildungsförderung auch für die Monate November 1994 bis Juni 1995 Ausbildungsförderung bewilligt und an das Jugendamt abgeführt. Dies hätte die erstattungsfähigen Aufwendungen um diese Beträge verringert.

Da anzunehmen ist, dass die Ausbildungsförderung für die Zeit von November 1994 bis zum Ende des Schulbesuchs im Juni 1995 - ebenso wie in dem vorhergehenden Zeitraum - monatlich 590,00 DM betragen hätte, hätten sich die zu erstattenden Aufwendungen um 8 x 590,00 DM = 4.720,00 DM verringert.

Da die Klägerin gegen die Pflicht verstoßen hat, im Interesse des erstattungspflichtigen Rechtsträgers ihre Aufwendungen in diesem Maße zu mindern, ist die Summe von 4.720,00 DM von dem Erstattungsbetrag abzusetzen, so dass eine zu erstattende Summe von 14.449,68 DM = 7.388,00 € verbleibt.

Soweit die Klägerin einen höheren Erstattungsbetrag verlangt hat, ist die Klage nicht begründet, so dass es insoweit bei der Abweisung der Klage bleiben muss.

Nach dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten erscheint es nach § 155 Abs. 1 VwGO angemessen, dass die Klägerin von den Kosten des gesamten Verfahrens 2/5 trägt, während der Beklagte 3/5 zu tragen hat. Nach § 188 Satz 2 VwGO in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung werden Gerichtskosten nicht erhoben. Diese Fassung ist auf diejenigen Verfahren anzuwenden, die in der ersten Instanz vor dem 31. Dezember 2001 anhängig geworden sind. Dies folgt aus der Übergangsvorschrift des § 194 Abs. 5 VwGO. Der dort verwendete Begriff der Anhängigkeit stimmt mit der Rechtshängigkeit überein, die mit dem Eingang in der ersten Instanz begründet wird (vgl. Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 13. Aufl. 2003, Rdnr. 8 zu § 194).

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10 und § 711 ZPO.

Die Revision ist zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die grundsätzliche Bedeutung ergibt sich aus der entscheidungserheblichen Rechtsfrage, ob § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII auch dann anzuwenden ist, wenn sich die Zuständigkeit des Jugendamts vor dem Tod des Elternteils nicht mehr nach § 86 Abs. 1 Satz 1 , sondern nach § 86 Abs. 2 oder 5 SGB VIII gerichtet hat.

Ende der Entscheidung

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