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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 21.11.2003
Aktenzeichen: 10 UZ 984/03.A
Rechtsgebiete: AsylVfG


Vorschriften:

AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1
Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, in Asylstreitverfahren den Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache auf neue tatsächliche Verhältnisse zu stützen.

Die auf neue Tatsachen gestützte Grundsatzrüge kann nur erfolgreich sein, wenn sie einer grundsätzlichen Klärung in einem Berufungsverfahren zugänglich und auch noch bedürftig sind.


Hessischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss

10 UZ 984/03.A

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Asylrechts

hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 10. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Pieper, Richter am Hess. VGH Dr. Saenger, Richterin am Hess. VGH Hannappel,

am 21. November 2003 beschlossen:

Tenor:

Die Anträge des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten und der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 19. März 2003 - 2 E 4078/01.A - werden abgelehnt.

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten und die Beklagte haben die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens zu gleichen Teilen zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

Die Anträge auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor näher bezeichnete Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen sind zulässig, haben aber in der Sache keinen Erfolg. Der Rechtssache kommt die allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG nicht zu.

Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG hat eine Rechtsstreitigkeit nur dann, wenn sie eine rechtliche oder eine tatsächliche Frage aufwirft, die für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich ist und über den Einzelfall hinaus im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung einer Klärung bedarf (BVerwG, 31.07.1984 - 9 C 46.84 - BVerwGE 70, 24 = EZAR 633 Nr. 9; HessVGH, 27.12.1982 - X TE 29/82 -, EZAR 633 Nr. 4 = NVwZ 1983, 237; HessVGH, 14.10.1987 - 12 TE 1770/84 - EZAR 633 Nr. 13). Die Rechts- oder Tatsachenfrage muss allgemein klärungsbedürftig sein und nach Zulassung der Berufung anhand des zugrunde liegenden Falles mittels verallgemeinerungsfähiger Aussagen geklärt werden können. Für die Frage der Klärungsbedürftigkeit und der Klärungsfähigkeit einer vom Antragsteller aufgeworfenen allgemeinen Frage ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der obergerichtlichen Entscheidung über den Zulassungsantrag abzustellen (HessVGH, Beschluss vom 30. Januar 1998 - 14 TZ 2416/97 -, NVwZ 1998, 755 ff.; Senatsbeschluss vom 29. Juli 2003 - 10 UZ 2084/02.A).

Gemessen daran ist die vom Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten auf Blatt 3 oben seines Zulassungsantrags vom 7. April 2003 aufgeworfene Frage ("Sind Flüchtlinge aus dem Zentralirak ... allein wegen ihrer illegalen Ausreise ..., ihres Asylgesuchs ... von politischer Verfolgung bedroht, sobald sie in ihre Heimat zurückgekehrt sind?") angesichts der grundlegend geänderten Verhältnisse im Irak nach dem 2. Golfkrieg nicht mehr entscheidungserheblich. Dasselbe gilt für die vom Bundesamt im Zulassungsantrag vom 2. April 2002 aufgeworfene und für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Tatsachenfrage. Die Regierung von Saddam Hussein hat ihre politische und militärische Herrschaft über den Irak verloren. Dieser steht unter Besatzungsrecht und wird derzeit von einer "Provisorischen Behörde" (CPA) der Koalition regiert. Die CPA stützt sich vor allem auf rund 170.000 Soldaten aus den USA und Großbritannien. Weitere Militär- und Polizeikontingente aus 36 Staaten sind entweder bereits im Irak im Einsatz oder stehen vor der Ankunft (Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs-relevante Lage im Irak, Stand: Juli 2003). Zwar berichtet die Presse fast täglich über Anschläge auf Truppen der Alliierten und zivile bzw. militärische Einrichtungen. Doch ist zugrunde zu legen, dass dadurch nicht die Entschlossenheit der Alliierten berührt wird, zumindest mittelfristig und solange im Irak zu bleiben, bis sich die Verhältnisse stabilisiert haben und Saddam Hussein gefunden worden ist.

Nach alledem kann von einer "übergreifenden effektiven Ordnungsmacht des früheren Regimes" (siehe dazu BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 505/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315 ff. = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151) und seiner Fähigkeit, illegal ausgereiste irakische Staatsangehörige nach der Rückkehr in den Irak wegen der illegalen Ausreise bzw. der Asylantragstellung im Ausland zu bestrafen, keine Rede mehr sein. Es gibt auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass eine künftige irakische Regierung irakische Staatsangehörige, die - wie der Kläger - in der Regierungszeit von Saddam Hussein in das westliche Ausland gereist sind, dort einen Asylantrag gestellt und sich länger aufgehalten haben, allein wegen dieser Umstände politisch verfolgen wird.

Auch die vom Bundesbeauftragten auf Seite 4 unten des Zulassungsantrages für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Frage ("Hat der Einmarsch der alliierten Streitkräfte in den Zentralirak... die Ausübung einer übergreifenden staatlichen Herrschaftsgewalt durch die derzeitigen Potentaten in Bagdad gegenwärtig schon soweit reduziert, dass jetzt bei realistischer Einschätzung der Lage auch die Voraussetzungen für die Annahme einer politischen Verfolgung wegen illegaler Ausreise und Asylantragstellung zu verneinen sind..."), führt nicht zur Berufungszulassung.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die geltend gemachte Veränderung der Sachlage nach der Entscheidung der ersten Instanz grundsätzlich auch im Rahmen des Berufungszulassungsverfahrens zu berücksichtigen ist. Der beschließende Senat hält die vom Verwaltungsgerichtshofs Mannheim (siehe Urteil vom 31. März 1993 - A 13 S 3048/92 -, EZAR 633 Nr. 21 sowie Beschluss vom 4. Juli 2000 - A 9 S 1275/00 -, VBlBW 2001, 66 ff.) und von der Kommentarliteratur ( Berlit in : GK-AsylVfG, Stand April 1998, § 78 Rdnr. 142 ff. m.w.N.; Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 78 AsylVfG Rdnr. 12 ) vertretene Auffassung für zutreffend, wonach es nicht von vornherein ausgeschlossen ist, in Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz den Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache auf neue tatsächliche Verhältnisse zu stützen. Es ist unerheblich, dass das Verwaltungsgericht die betreffende Tatsachenfrage bei seiner Entscheidung nicht schon klären konnte, § 78 Abs. 3 AsylVfG enthält keine zeitliche Sperre (VGH Mannheim, Urteil vom 31. März 1993, a.a.O. ). Allerdings kann die auf neue Tatsachen gestützte Grundsatzrüge nur dann erfolgreich sein, wenn die neuen tatsächlichen Verhältnisse einer grundsätzlichen Klärung in einem Berufungsverfahren zugänglich und auch noch bedürftig sind (VGH Mannheim, Beschluss vom 4. Juli 2000, a.a.O.; GK-AsylVfG, a.a.O.). Dies ist jedoch - wie sich aus dem oben Ausgeführten bereits ergibt - im vorliegenden Fall zu verneinen, da nach dem Sturz von Saddam Hussein eine grundlegend veränderte Verfolgungssituation eingetreten ist, von deren Dauerhaftigkeit zumindest auf längere Sicht auszugehen ist.

Somit bedarf auch die vom Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten des Weiteren für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage, ob "grundlegende Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsstaat des Asylsuchenden, die nach dem Zeitpunkt der Urteilsfällung, aber noch vor deren Rechtskraft eingetreten sind, bereits mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung geltend gemacht werden müssen oder allein einem späteren Widerrufsverfahren gemäß § 73 AsylVfG vorbehalten sind", keiner rechtsgrundsätzlichen Klärung in einem Berufungsverfahren. Der Bundesbeauftragte hat in seinem Zulassungsantrag vom 7. April 2003 auf Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse im Irak hingewiesen, die zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht als grundlegend bezeichnet werden konnten. Dass die Grundsatzrüge auch auf neue tatsächliche Umstände gestützt werden kann, wurde oben des Näheren ausgeführt. Die Alternative lautet allerdings - aus der Sicht eines Asylsuchenden und Zulassungsantragstellers - nicht "Geltendmachung im Rahmen eines Antrags auf Zulassung der Berufung" oder "Widerrufsverfahren nach § 73 AsylVfG", sondern "Geltendmachung im Rahmen eines Antrags auf Zulassung der Berufung" oder "Geltendmachung mit einem Folgeantrag nach § 71 AsylVfG" (siehe dazu auch VGH Mannheim, Beschluss vom 11. Januar 1994 - A 14 S 2163/93 -). Die von beiden Zulassungsantragstellern in diesem Zusammenhang erwähnte Problematik, auf welchen Zeitpunkt für den Eintritt einer Änderung im Widerrufsverfahren nach § 73 AsylVfG abzustellen sei, ist für den vorliegenden Fall ohne Bedeutung, wie den am 8. Mai 2003 ergangenen Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts zu entnehmen ist (siehe insbesondere BVerwG - 1 C 15.02 -, DVBl. 2003, 128 = EZAR 214 Nr. 15 ). Danach ist für die Prüfung der Voraussetzungen des Widerrufs von Asylanerkennungen, die in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils ergangen sind, nicht der Zeitpunkt des Ergehens des Anerkennungsbescheides maßgeblich, sondern der Zeitpunkt des rechtskräftig gewordenen Verpflichtungsurteils (Leitsatz 1). Von einer "ähnlichen Fallkonstellation" kann hier folglich hier nicht die Rede sein.

Auch die vom Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten auf Seite 8 seines Zulassungsantrages aufgeworfene Frage nach dem Vorliegen einer inländischen Fluchtalternative in den kurdischen Autonomiegebieten angesichts der deutlich verbesserten wirtschaftlichen Situation in dieser Region ist nicht mehr entscheidungserheblich. Nach dem Ende des 2. Golfkriegs haben sich - wie erwähnt - die Verhältnisse im Irak so grundlegend geändert, dass dem Kläger auch auf der Grundlage seines bisherigen Vorbringens bei der Rückkehr in den Zentralirak keine asylrelevante politische Verfolgung bzw. kein Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG mehr droht. Auf eine Fluchtalternative im Nordirak kommt es unter diesen Umständen nicht mehr an. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass der Kläger nach seinen eigenen Angaben ein kurdischer Volkszugehöriger aus Kirkuk (Zentralirak) ist.

Da die eingelegten Rechtsmittel ohne Erfolg geblieben sind, haben der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten und die Beklagte gemäß § 154 Abs. 2 VwGO, § 159 VwGO i. V. m. § 100 ZPO die Kosten des Zulassungsverfahrens zu gleichen Teilen zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).

Ende der Entscheidung

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