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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 14.12.2007
Aktenzeichen: 11 TG 2475/07
Rechtsgebiete: AufenthG, FreizügG, Richtlinie 2004/38


Vorschriften:

AufenthG § 50 Abs. 1
FreizügG § 7 Abs. 2 S. 4
FreizügG § 11 Abs. 2
Richtlinie 2004/38 Art. 32
Ein Aufenthaltsverbot gegenüber einem Unionsbürger kann durchgesetzt werden, auch wenn die zugrundeliegende bestandskräftige Ausweisung möglicherweise rechtswidrig erfolgt ist. Dies gilt auch, solange ein Antrag auf Aufhebung bzw. Befristung des Aufenthaltsverbots noch nicht beschieden ist.
HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

11 TG 2475/07

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Ausländerrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 11. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Zysk, Richter am Hess. VGH Dr. Dieterich, Richter am Hess. VGH Debus

am 14. Dezember 2007

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 31. Oktober 2007 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,-- € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet. Aufgrund des Beschwerdevorbringens, auf dessen Überprüfung der erkennende Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), kann nicht festgestellt werden, dass es das Verwaltungsgericht zu Unrecht abgelehnt hat, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 10. Juli 2006 gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 28. Juni 2006 anzuordnen oder hilfsweise dem Antragsgegner aufzugeben, keine aufenthaltsbeendende Maßnahmen vor der Entscheidung über den Widerspruch zu ergreifen.

Die Verfügung des Antragsgegners vom 28. Juni 2006 ist offensichtlich rechtmäßig und im Hinblick darauf überwiegen unter den gegebenen Umständen die öffentlichen Interessen am Sofortvollzug die privaten Interessen des Antragstellers an einem vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet. Die in der Verfügung vom 28. Juni 2006 enthaltene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig auf der Grundlage der §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 59 AufenthG ergangen.

Das Aufenthaltsgesetz ist für die Regelung der Rechtsverhältnisse des Antragstellers, eines italienischen Staatsangehörigen, in entsprechender Anwendung von § 11 Abs. 2 Freizügigkeitsgesetz heranzuziehen. Der Antragsteller genießt derzeit kein Freizügigkeitsrecht, weil er bestandskräftig durch die Verfügung vom 21. Mai 2002 ausgewiesen worden ist und diese sog. "Altausweisung" gegenüber einem Unionsbürger unbeschadet ihrer möglichen materiellen Rechtswidrigkeit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 04.09.2007 - 1 C 21.07) einschließlich des damit verbundenen Einreise- und Aufenthaltsverbots wirksam geblieben ist.

Somit ist der Antragsteller gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet, weil er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt. Die Ausreisepflicht ist nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG auch vollziehbar, weil der Antragsteller trotz des bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots unerlaubt eingereist ist. In dieser Situation war ihm gemäß § 58 Abs. 1 i.V.m. § 59 Abs. 1 AufenthG die Abschiebung nach Italien anzudrohen. Dies ist mit der vorliegend in Rede stehenden Verfügung vom 28. Juni 2006 geschehen.

Auch der Hilfsantrag mit dem sinngemäßen Inhalt, dem Antragsgegner aufzugeben, keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vor der Entscheidung über den Widerspruch (gemeint wohl: vom 10. Juli 2006) zu ergreifen, kann keinen Erfolg haben. Denn der Antragsteller kann keinen Anordnungsanspruch (§ 123 VwGO) glaubhaft machen. Insbesondere ergeben sich aus seinem Vortrag keine Vollstreckungshindernisse.

Ein Vollstreckungshindernis besteht entgegen der mit der Beschwerde ausführlich dargelegten Auffassung auch nicht darin, dass der Antrag auf Befristung der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung, den der Antragsteller am 30. Mai 2005 gestellt hat, noch nicht beschieden ist und der Antragsgegner offenbar vor der Ausreise des Antragstellers den Antrag auch nicht bescheiden will.

Allerdings weist der Antragsteller zu Recht auf den seit 29. April 2006 unmittelbar anwendbaren Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 hin (bzw. jetzt: § 7 Abs. 2 Satz 4 Freizügigkeitsgesetz). Hiernach hat ein EU-Bürger, der derzeit im Bundesgebiet nicht freizügigkeitsberechtigt ist, spätestens drei Jahre nach Vollzug einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme in Deutschland Anspruch auf Überprüfung, ob die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbots weiterhin gerechtfertigt ist oder ob das Aufenthaltsverbot aufgehoben werden muss. Über einen solchen Antrag muss die zuständige Behörde - hier der Antragsgegner - nach Art. 32 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2004/38 binnen sechs Monaten entscheiden. Daher rügt der Antragsteller zu Recht, dass eine Entscheidung bisher nicht ergangen ist. Denn die Ausweisungsverfügung wurde offenbar am 21. November 2003 vollstreckt, so dass spätestens (je nach den gegebenen Umständen auch früher) am 21. November 2006 ein Anspruch auf eine Entscheidung über die weitere Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbots bestand. Diesem Anspruch hat der Antragsgegner nicht binnen der vorgegebenen Frist von sechs Monaten (21. Mai 2007) genügt.

Hieraus ergibt sich entgegen der Auffassung der Beschwerde jedoch kein Vollstreckungshindernis für die erneute Durchsetzung der Ausreisepflicht, sondern ein gegebenenfalls mit Untätigkeitsklage vom Ausland aus einklagbarer Bescheidungsanspruch. Dies folgt aus Art. 32 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38. Hiernach sind die Betroffenen nämlich nicht berechtigt, während der Prüfung ihres Antrags betreffend die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbots in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedsstaats einzureisen. Dies bedeutet, das Aufenthaltsverbot besteht während des Prüfungszeitraums fort und kann zwangsweise durchgesetzt werden.

Materieller Maßstab für die Entscheidung über die Aufrechterhaltung oder Beendigung des Aufenthaltsverbots ist - wie mit der Beschwerde richtig herausgearbeitet wird - die Frage einer gegenwärtigen tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Hierzu weist der Antragsteller darauf hin, dass seine letzte berücksichtigungsfähige Verurteilung wegen einer Straftat nunmehr bereits über sechs Jahre zurückliege. Nach der Rechtsprechung mehrerer Oberlandesgerichte könne eine rechtswidrige Regelausweisung eines Unionsbürgers - auch wenn sie bestandskräftig und weiterhin wirksam ist - nicht Grundlage einer strafrechtlichen Verurteilung sein und deshalb hätte - so der Antragsteller - die strafrechtliche Verurteilung vom 16. Januar 2005 wegen unerlaubter Einreise und unerlaubten Aufenthalts nicht ergehen dürfen. Allerdings bleibt insoweit dennoch zu berücksichtigen, dass ein Verstoß gegen das mit einer bestandskräftigen Ausweisung und Abschiebung verbundene Aufenthaltsverbot auch unabhängig von der Frage der Strafbarkeit und Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung einen Ordnungsverstoß darstellt. Die damit verbundene Gefährdung eines "Grundinteresses der Gesellschaft" dürfte aber als weniger gewichtig einzustufen sein. Unter diesen Umständen gibt der Senat - auch zur Vermeidung weiterer Rechtsstreitigkeiten um die Befristungsfrage - den Hinweis, dass die Obergrenze für ein Aufenthaltsverbot nach derzeitigem Stand der Dinge bei neun bis zwölf Monaten nach Ausreise des Antragstellers liegen dürfte.

Die Entscheidung über die Kosten und den Streitwert des Beschwerdeverfahrens ergeben sich aus § 154 Abs. 2 VwGO und §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 GKG.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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