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Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 24.10.2006
Aktenzeichen: 12 A 2216/05
Rechtsgebiete: BImSchG, LuftVG, LuftVO, RL 96/82/EG, RL 2003/105/EG


Vorschriften:

BImSchG § 50
LuftVG § 27c
LuftVG § 29
LuftVO § 11
LuftVO § 27a
RL 96/82/EG idF
RL 2003/105/EG - Seveso II-RL -
1. Flugverfahren (bzw. Flugrouten) stellen keine Verkehrswege im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso II-RL dar. Bei der Ausweisung von Flugverfahren handelt es sich auch nicht um eine Politik der Flächenausweisung oder Flächennutzung oder eine sonstige einschlägige Politik im Sinne des Art. 12 Seveso II-RL.

2. Art. 12 Seveso II-RL will bestimmte öffentlich genutzte Gebiete in der Nachbarschaft einer Störfallanlage vor den Folgen eines eventuellen Störfalles schützen, aber nicht den Betreibern von Störfallanlagen ein Abwehrrecht gegenüber Nutzungen der Nachbarschaft der Anlage einräumen.

3. Mit der einschränkenden Formulierung, dass zwischen einer Störfallanlage einerseits und einem wichtigen Verkehrsweg andererseits ein angemessener Abstand "so weit wie möglich" einzuhalten ist, räumt Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso II-RL dem Planungsträger einen Gestaltungsspielraum ein, der es zulässt und gebietet, auch andere Belange als Sicherheitsrisiken, insbesondere Lärmschutzbelange, in die abwägende Entscheidung über die Planung eines Verkehrsweges einzustellen.

4. Das Luftfahrt-Bundesamt hat bei der Ausweisung von Flugverfahren grundsätzlich auch das Risiko des Eintritts eines absturzbedingten Störfalles zu berücksichtigen.


HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Az.: 12 A 2216/05

Verkündet am: 24. Oktober 2006

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Luftverkehrsrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof -12. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Zysk, Richter am Hess. VGH Pabst, Richterin am Hess. VGH Thürmer, Richter am Hess. VGH Dr. Dieterich, Richter am Hess. VGH Debus, ehrenamtliche Richterin Trappe, ehrenamtliche Richterin Weißbach

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 5. Oktober 2006

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.

Das Urteil ist wegen der außergerichtlichen Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die jeweilige Vollstreckungsgläubigerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen Abflugrouten vom Flughafen Frankfurt/Main, die das von ihr betriebene Chemiewerk (Ticona) tangieren.

Die Klägerin, eine hundertprozentige Tochter der Celanese AG, gründete etwa 1962 in der Gemeinde Kelsterbach ein Werk zur Herstellung von Kunststoffen. Seit 2002 ist das Werk Hauptsitz des Konzerns für den Geschäftsbereich "Ticona Technische Kunststoffe". Nach eigenen Angaben hat die Klägerin in den letzten Jahren ca. 20 Mio. Euro in den Bau eines neuen Verwaltungsgebäudes und ca. 5 Mio. Euro in die Errichtung eines neuen Labors investiert. Hauptsächlich produziert die Klägerin in dem Werk den Kunststoff Polyacetal (POM), der als Granulat unter dem Handelsnamen "Hostaform" vertrieben wird. Die Produktion umfasst derzeit ca. 90.000 t im Jahr. Im März 2002 stellte die Klägerin bei dem Regierungspräsidium Darmstadt den Antrag auf Genehmigung einer Kapazitätserweiterung auf jährlich 130.000 t mit einem Investitionsvolumen von ca. 25 Mio. Euro.

Bei dem Werk der Klägerin handelt es sich um eine nach § 4 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - BImSchG - in der Fassung vom 26. September 2002 (BGBl. I S. 3830), zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. Juni 2005 (BGBl. I S. 1865) genehmigungspflichtige Anlage, die außerdem den Bestimmungen der 12. VO zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (12. BImSchV) - Störfall-VO - vom 26. April 2000 (BGBl. I S 603), zuletzt geändert durch Verordnung vom 8. Juni 2005 (BGBl. I S. 1598), unterliegt.

Der Flughafen Frankfurt/Main ist vor dem Zweiten Weltkrieg angelegt worden. Die Betriebsgenehmigung wurde mehrfach geändert und neu gefasst. Mit Bescheid vom 23. August 1966 genehmigte der Hessische Minister für Wirtschaft und Verkehr im Zuge des geplanten Ausbaus des Flughafens die nochmalige Verlängerung der (parallelen) Start- und Landebahnen auf jeweils 4.000 m mit einer Verlegung der Schwellen 25 R und 25 L um ca. 600 bzw. 670 m nach Westen. Die genehmigten Änderungen wurden durch ministeriellen Beschluss vom 23. März 1971 festgestellt und 1984 in Betrieb genommen.

Die Klägerin wendet sich gegen diejenigen Flugverfahren, die dazu führen, dass ihr Werksgelände entweder direkt oder mit geringem seitlichen Abstand überflogen wird. Hierbei handelt es sich um Flugverfahren mit der Anweisung:

"Auf Startbahnkurs bis 5,0 DME FFM oder 800, je nach dem, was später erreicht wird; Rechtskurve, Kurs 276° mag (bei Startbahn 25 L: Kurs 279° mag)...."

Die Angabe 5,0 DME FFM bezeichnet die Entfernung von 5 nautischen Meilen (NM) von dem Bodennavigationspunkt (Funkfeuer) FFM. Bei dem Punkt 5,0 DME FFM handelt es sich um einen sog. Fly-by-Punkt; d. h. der Punkt muss nicht überflogen werden, sondern der Kurvenflug in nordwestlicher Richtung kann bei ausreichender Höhe (800 ft) schon vor Erreichen dieses Wegpunktes aufgenommen werden. Diese Anweisung für die erste Phase nach dem Start gilt für mehrere Flugverfahren und wird seit 1991 verwendet.

Rechtliche Grundlage dieser Flugverfahren war vor dem 28. November 2002 die 177. Durchführungsverordnung zur Luftverkehrsordnung - DVO-LuftVO - (Verordnung zur Festlegung von Flugverfahren für An- und Abflüge nach Instrumentenflugregeln zum und vom Flughafen Frankfurt/Main) mit zahlreichen Änderungen. Mit Verordnungen vom 13. November 2002 hat das Luftfahrt-Bundesamt, Verwaltungsstelle Flugsicherung, die 177. DVO mit Wirkung zum 28. November 2002 aufgehoben und mit Wirkung zu demselben Zeitpunkt die 212. DVO in Kraft gesetzt. Mit dieser Neufassung der Vorschriften ist die Anfangsphase der hier streitigen Flugverfahren in tatsächlicher Hinsicht nicht verändert worden. Die Änderung der Kursbezeichnung trägt allein der Änderung der Ortsmissweisung Rechnung. Die 212. DVO-LuftVO ist seit ihrem Inkrafttreten mehrfach geändert worden, zuletzt durch die 16. Änderungsverordnung - ÄndVO - vom 7. Juni 2006. Durch die 15. ÄndVO vom 24. Februar 2006 sind die Flugverfahren mit Wirkung zum 16. März 2006 ohne tatsächliche Änderung der Flugrouten teilweise umbenannt bzw. neu gekennzeichnet worden. Im Streit sind demnach folgende Flugverfahren:

BIBOS 6F und 6 G

TOBAK 2F, 2G und 2J,

MARUN 1F, 1G und 1J sowie

TAU 1Q

Neben diesen Flugverfahren, die die genannten Wegpunkte direkt ansteuern, legt die 212. DVO-LuftVO in der Gestalt der 16. ÄndVO Abflugverfahren für die Startbahnen 25 R und 25 L fest, die die vorgenannten Wegpunkte auf einem längeren Weg erreichen: Die Flugzeuge verlassen den Startbahnkurs bei 4,5 DME FFM nicht mit einer Rechtskurve, sondern nach links in südwestlicher Richtung, um dann in einer oder in zwei langgezogenen Rechtskurven den angestrebten westlichen oder nördlichen Kurs aufzunehmen (BIBOS 6N, TOBAK 3N und MARUN 1N). Diese Flugrouten werden derzeit nur nachts genutzt.

Im Juni 2003 beantragte die Beigeladene bei dem Hessischen Ministerium für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung, den Plan für einen Ausbau des Flughafens, insbesondere für die Herstellung einer neuen Landebahn im Nordwesten des Flughafens festzustellen. Die Klägerin erhob Einwendungen gegen den Plan, wobei sie sich insbesondere auf die Gefahr eines Flugzeugabsturzes über dem Werksgelände berief. Im Anschluss an ein Gutachten des TÜV Pfalz vom Juni 2004, das im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens im Auftrag des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung erstellt worden ist, gab die bei dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gebildete Störfallkommission unter dem 18. Februar 2004 gegenüber dem Ministerium eine Stellungnahme ab, nach der der geplante Bau einer Nordwest-Landebahn nicht mit dem Betrieb des Ticona-Werkes vereinbar sei. Das Risiko eines Störfalls infolge eines Flugzeugabsturzes sei nicht akzeptabel. Bezüglich des aktuellen Flugbetriebs sprach die Störfallkommission die Empfehlung aus, eine mögliche Erhöhung des Risikos für Betriebsbereiche bei der Planung von Flugrouten in den Abwägungsprozess einzubeziehen.

Im März 2004 beauftragte das Regierungspräsidium Darmstadt - Abteilung Staatliches Umweltamt Darmstadt den TÜV-Pfalz, die gegenwärtigen flugbetrieblichen Auswirkungen auf die Sicherheit von Betriebsanlagen und Arbeitsschutz der Firma Ticona zu untersuchen. Nach Bekanntgabe einer "Projektnotiz zur ersten Abschätzung der Störfalleintrittswahrscheinlichkeit für den Ist-Fall" (Anlage K10) und nach Bearbeitung ergänzender Fragen legte der TÜV Pfalz im Februar 2005 den Entwurf - "Revision B" - (Anlagen K5 bis 5b) und im März 2006 die - nahezu unveränderte - Endfassung des Gutachtens vor. Die Gutachten gelangen zusammengefasst zu dem Ergebnis, dass ein Flugzeugabsturz in dem Bereich der Produktionsanlagen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Verlust der Anlage führen würde. Der maximale Erwartungswert für einen absturzbedingten Störfall liege bei einem Ereignis in 61.400 Jahren. Dieser Wert sei seit 1991 insbesondere in Folge der Zunahme der Flugbewegungen um den Faktor 1,5 gestiegen. Eine relevante Minderung der Störfallhäufigkeit lasse sich nur durch eine weitgehende Verlegung der Abflüge auf südliche Routen erreichen.

Bereits Mitte des Jahres 2003 wandte sich die Klägerin bzw. die Celanese AG unter Hinweis auf das Sicherheitsrisiko an die DFS Deutsche Flugsicherung GmbH - DFS - und später auch an das Luftfahrt-Bundesamt mit der Bitte, die das Werksgelände tangierenden Flugrouten aufzuheben. Nachdem diese Eingaben ohne Erfolg geblieben waren, stellte die Klägerin mit Schreiben vom 22. Dezember 2003 (Anlage K13) einen ausdrücklichen Antrag auf Verlegung der fraglichen Flugrouten. Diesen lehnte das Luftfahrt-Bundesamt unter dem 27. Januar 2004 (Anlage K14) im Wesentlichen mit der Begründung ab, den Sicherheitsbelangen werde durch die Einhaltung der internationalen Vorschriften Rechnung getragen. Eine von der Klägerin begehrte Freihaltung des Luftraumes über dem Werksgelände lasse sich nur über die Anordnung eines Luftsperrgebietes oder eines Gebietes mit Flugbeschränkungen im Sinne des § 11 LuftVO erreichen. Diese Regelung schließe es aus, entsprechende Aspekte bei der Festsetzung von Flugrouten zu berücksichtigen.

Am 18. August 2005 hat die Klägerin Klage erhoben mit dem Begehren festzustellen, dass die Festsetzung der über das Werksgelände führenden Flugrouten rechtswidrig sei und sie in ihren Rechten verletze.

Während des gerichtlichen Verfahrens, mit Bescheid vom 6. April 2006 (Anlage K17), hat das Regierungspräsidium Darmstadt für die Anlage der Klägerin eine sicherheitstechnische Prüfung nach § 29a BImSchG angeordnet, nachdem es - teilweise unter Bezugnahme auf den Antrag der Klägerin auf Genehmigung der Kapazitätserweiterung - entsprechende Maßnahmen schon früher angekündigt und die Klägerin hierzu mehrfach Stellung genommen hatte. Die sicherheitstechnische Prüfung soll Möglichkeiten zur Verringerung der Auswirkungen eines durch einen Flugzeugabsturz ausgelösten Störfalles ermitteln. Zur Begründung beruft sich das Regierungspräsidium auf Sicherheitsbedenken, die auf Grund des Gutachtens des TÜV Pfalz zur Ist-Situation bestünden. Dem Risiko könne zwar auch durch eine Verlegung der Flugrouten begegnet werden, bei der Festsetzung von Flugverfahren könne aber nicht dem Störfallrisiko Rechnung getragen werden; insoweit sei es, das Regierungspräsidium, an die Entscheidung des Bundesministeriums für Verkehr gebunden. Nachdem die Klägerin Mitte 2005 einen Bunker zur sicheren Verwahrung des sehr giftigen Bortrifluorids in Betrieb genommen habe, sei nicht mehr mit relevanten Auswirkungen eines durch einen Flugzeugabsturz ausgelösten Störfalls außerhalb des Werksgeländes zu rechnen.

Zur Begründung ihrer Klage trägt die Klägerin - stark zusammengefasst - vor: Wie sich aus den zitierten Gutachten und Stellungnahmen insbesondere des Votums der Störfallkommission ergebe, sei das Ticona-Werk einem nicht mehr hinnehmbaren Risiko des Eintritts eines Störfalls in Folge eines Flugzeugabsturzes ausgesetzt. Die Startbahnen 25 R und 25 L seien nach den Baumaßnahmen im Jahr 1984 bis auf ca. 3.500 m an das Werksgelände herangerückt. Auch die Flugverfahren seien stetigen Änderungen unterworfen gewesen. Im Jahr 2002 sei mit der 212. DVO-LuftVO eine neue Rechtsgrundlage in Kraft getreten, und durch die 15. ÄndVO vom 24. Februar 2006 seien die Flugverfahren neu gekennzeichnet worden. Nach den Feststellungen des TÜV Pfalz sei das Sicherheitsrisiko mit der Zunahme der Überflüge über das Werk stetig angewachsen und habe ein nicht mehr hinnehmbares Maß erreicht. Die jetzt vom Regierungspräsidium Darmstadt angeordnete Sicherheitsüberprüfung und die noch zu erwartenden technischen Maßnahmen zur Eindämmung der Folgen eines eventuellen Störfalles seien mit ganz erheblichen finanziellen Aufwendungen verbunden. Die Anordnungen, die bis zu einer Betriebsstilllegung führen könnten, stellten einen schwerwiegenden Eingriff in ihre Rechte als Betreiberin des Werkes dar. Die Überflüge über das Werk könnten ohne weiteres vermieden werden. Eine Alternative bestehe darin, die jetzigen Nachtflugstrecken auch für den Tagflugverkehr zu nutzen; das führe lediglich zu einer durchschnittlichen Verspätung von fünf Minuten pro Flug, wie sich aus dem Gutachten "Flughafen Frankfurt/Main - Simulation für eine geringere Routenbelegung über Ticona" vom März 2005 der HNTB Corporation (Anlage K 22), ergebe. Es sei auch ohne Kapazitätseinbußen möglich, den Abdrehpunkt nach dem Startbahnkurs auf 5,5 DME FFM zu verschieben, was in früheren Jahren schon praktiziert worden sei. Schließlich könne das Störfallrisiko auch dadurch reduziert werden, dass die Phase des Steigflugs nach dem Start verlängert werde.

Die Klägerin ist der Auffassung, die angegriffenen Flugverfahren seien nicht mit Art. 12 Abs. 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie 96/82/EG des Rates vom 9. Dezember 1996 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen (ABl. L 010/97) in der Fassung der Richtlinie 2003/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2003 (ABl. L 345/03) - Seveso II-RL - vereinbar. Diese Bestimmung werde durch das nationale Recht (insbesondere § 50 BImSchG) nur unvollständig umgesetzt und sei deshalb unmittelbar anwendbar. Die Richtlinie gelte auch für Flugverfahren, weil Flugrouten als virtuelle Verkehrswege im Sinne der Richtlinie anzusehen seien. Die Festsetzung von Flugrouten stelle zumindest eine andere einschlägige Politik der Flächenausweisung oder Flächennutzung im Sinne der Richtlinie dar. Aus dem Gebot des Art. 12 Abs. 1 Unterabsatz 2, einen angemessenen Abstand zwischen dem Verkehrsweg und einer bestehenden Störfallanlage einzuhalten, ergebe sich die strikte Pflicht, das Risiko des Eintritts eines Störfalles infolge eines Flugzeugabsturzes zu minimieren. Dem könne hier nur durch eine Verlegung der Flugrouten Rechnung getragen werden. Auf die Einhaltung dieses Risikominimierungsgebotes könne sie sich auch als Betreiberin einer Störfallanlage berufen. Das Abstandsgebot schütze auch den unter die Störfallverordnung fallenden Betrieb gegenüber dem Heranrücken von Baugebieten oder Verkehrswegen. Das Ziel der Regelung, Unfälle zu vermeiden, könne nur durch eine Änderung der streitigen Flugrouten erreicht werden.

Die angegriffenen Flugverfahren verletzten darüber hinaus das nationale Recht. Sie seien nicht mit den Grundsätzen des Abwägungsgebots vereinbar. Entgegen der Auffassung der Beklagten müsse auch das Risiko eines Flugzeugabsturzes über einer Störfallanlage bei der Festlegung der Routen bedacht werden, wie sich aus § 29 LuftVG ergebe.

Die Klägerin beantragt,

festzustellen, dass § 4 Abs. 2 der 212. DVO zur LuftVO vom 13. November 2002 in der Fassung der 16. ÄndVO vom 7. Juni 2006 insoweit rechtswidrig ist und sie in ihren Rechten verletzt, als die von den Startbahnen 25 R und 25 L nach Nordwesten abdrehenden Abflugverfahren dazu führen, dass ihr Betriebsgrundstück überflogen wird;

hilfsweise, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach Art. 234 EGV die folgenden Fragen zur Auslegung des Art. 12 der Seveso II-RL vorzulegen:

Ist Art. 12 Abs. 1 Seveso II-Richtlinie zur Beherrschung der Gefahren bei Unfällen mit gefährlichen Stoffen in der durch die Richtlinie 2003/105/EG geänderten Fassung (ABl. 2003 L 345/97) dahingehend auszulegen, dass

- die darin enthaltenen Pflichten, insbesondere die in Satz 3 enthaltene Pflicht zur Wahrung eines angemessenen Abstandes zwischen "wichtigen Verkehrswegen" einerseits und unter diese Richtlinie fallenden Betrieben andererseits auch die Festlegung von Abflugrouten von einem wichtigen Verkehrsflughafen umfasst;

- sich aus dem Abstands- und Trennungsgebot des Satzes 3 in Verbindung mit der Überwachungspflicht in Satz 2 das Gebot zu einer soweit wie möglichen Minimierung des Störfallrisikos ergibt und daher

- die zuständigen innerstaatlichen Behörden, soweit das innerstaatliche Recht keine entsprechende Verpflichtung enthält, bei der Wahl zwischen mehreren Abflugrouten, diejenige auszuwählen und festzulegen haben, bei der das Unfallrisiko für die unter die Richtlinie fallenden Betriebe so weit als möglich begrenzt wird;

- die Vorschrift, soweit das innerstaatliche Recht keine entsprechende Verpflichtung enthält, den zuständigen innerstaatlichen Behörden die unmittelbar anwendbare Pflicht auferlegt, bei der Auswahl und der Festlegung von Flugrouten das Unfallrisiko so weit als möglich zu begrenzen;

- im Falle der Verneinung der in der Klageschrift (S. 2) angeregten Vorlagefragen (1 - 4) - die innerstaatlichen Behörden und Gerichte bei Anwendung ihres bei der Festlegung von Abflugrouten von großen Verkehrsflughäfen einschlägigen nationalen Rechts jedenfalls dem in Art. 12 Abs. 1 S. 1 Seveso II-Richtlinie enthaltenen Berücksichtigungsgebot dergestalt Rechnung tragen müssen, dass sie bei der Festlegung dieser Flugrouten das Risiko, dass es zu einem absturzbedingten schweren Unfall im Sinne der Seveso II-Richtlinie kommt, nicht außer Betracht lassen dürfen, sondern gehalten sind, dieses Risiko mit besonderem Gewicht zu berücksichtigen, was auch dazu führen kann, dass eine bestimmte Flugroutenführung nicht erfolgen darf;

- sich der Betreiber eines von dieser Vorschrift erfassten Störfallbetriebs unter Umständen, wie sie dem vorliegenden Verfahren zu Grunde liegen, vor innerstaatlichen Behörden und Gerichten darauf berufen kann, dass das in Art. 12 Abs. 1 S. 1 enthaltene Berücksichtigungsgebot und/oder das in Art. 12 Abs. 1 S. 3 enthaltene Risikominimierungsgebot (bzw. Abstandsgebot) aufgrund einer diesen Betrieb betreffenden Planung oder Unterlassung verletzt wird;

- ein Verstoß gegen die in Art. 12 Abs. 1 Satz 2 Seveso II-Richtlinie hierin verankerte Berücksichtigungspflicht vorliegt, wenn die zuständige Behörde bei Anwendung der in Art. 12 genannten Politiken diese Verpflichtung ausdrücklich verneint (weil sie sich an diese nicht gebunden fühlt) und lediglich hilfsweise Erwägungen zur Verhütung schwerer Unfälle bzw. zur Folgenbegrenzung anstellt oder nachholt und

- für den Fall, dass der Gerichtshof diese Frage verneint:

Ist Art. 12 Abs. 1 Satz 1 Seveso II Richtlinie im Lichte des effektiven Rechtsschutzes dahingehend auszulegen, dass eine nationale Behörde gegen diese Vorschrift verstößt, wenn die Art und Weise dieser hilfsweisen Berücksichtigung die Betroffenen im Unklaren darüber lässt, ob und wie die in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 genannten Ziele berücksichtigt worden sind?

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Klage abzuweisen.

Sie erwidern ebenfalls stark zusammengefasst: Die angegriffenen Flugverfahren würden seit 1991 unverändert praktiziert. Aber auch schon vorher sei das Werk der Klägerin auf Grund der Streuung der Flugspuren überflogen worden, zumal die Abweichungen von der Ideallinie früher stärker als heute ausgefallen seien. Die Verlängerung der Parallelbahnen habe sich nur unerheblich auf die Zahl der Überflüge ausgewirkt; insoweit komme es nicht auf die Landeschwelle, sondern den Abhebepunkt an. Auch die Lage des Abdrehpunktes wirke sich nicht wesentlich darauf aus, wie häufig das Werksgelände überflogen werde. Die von der Klägerin vorgeschlagenen Alternativen seien ungeeignet. Sie führten zu einer vermeidbaren Lärmbelastung der betroffenen Bevölkerung, insbesondere der Kommunen Raunheim, Rüsselsheim, Mainz und Wiesbaden. Gegen eine ständige Nutzung der Nachtflugrouten sprächen auch erhebliche betriebliche Gründe. Sie erforderten einen hohen Koordinierungsaufwand und führten zu Kapazitätsverlusten. Das von der Klägerin vorgelegte Gutachten sei schon wegen fehlender Kalibrierung ungeeignet.

Die Klage sei wegen fehlender Klagebefugnis und wegen Verwirkung unzulässig. Jedenfalls sei sie nicht begründet. Art. 12 der Seveso II-RL sei aus mehreren Gründen nicht anwendbar. Sie sei vollständig in nationales Recht umgesetzt worden, und sie begründe nur Pflichten, aber keine Rechte der Betreiber von Störfallanlagen. Flugverfahren dürften weder als Politik der Flächennutzung noch als sonstige einschlägige Politik betrachtet werden. Flugverfahren stellten auch keine Verkehrswege im Sinne der Richtlinie dar. Darunter seien nur verkörperte und auf eine gewisse Dauerhaftigkeit angelegte Verkehrsverbindungen zu verstehen. Bei der Festlegung von Flugverfahren, tragen die Beklagte und die Beigeladene weiter vor, sei das Luftfahrt-Bundesamt nicht verpflichtet, das Risiko eines Flugzeugabsturzes und die daraus möglicherweise entstehenden Schäden zu berücksichtigen. Dafür fehle eine gesetzliche Ermächtigung; darüber hinaus enthalte § 11 LuftVO eine abschließende Regelung für die Errichtung von Sperrgebieten oder von Gebieten mit eingeschränktem Flugbetrieb. Schließlich müssten Maßnahmen der Schadensbegrenzung an der Störfallanlage selbst ansetzen. Die von dem Regierungspräsidium Darmstadt insoweit ergriffenen Maßnahmen müsse die Klägerin als Betreiberin der Anlage hinnehmen; eine Rechtsbeeinträchtigung könne darin nicht gesehen werden.

Wegen des Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf deren Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Behördenvorgänge der Beklagten (2 Ordner) und des Regierungspräsidiums Darmstadt (2 Ordner) verwiesen, die beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als Feststellungsklage nach § 43 VwGO zulässig.

In ihrem Hauptantrag hat die Klägerin die angegriffenen Flugverfahren zwar nicht im Einzelnen bezeichnet, sondern nach dem Überflugkriterium zusammenfassend beschrieben, gleichwohl genügt der Antrag dem Bestimmtheitserfordernis, weil sich aus dem Vortrag der Klägerin (vgl. Schriftsatz v. 28.04.2006, S. 6 - Bl. II/311 der Akten -) klar ergibt, welche Verfahren im Einzelnen von dem Antrag erfasst sein sollen.

Die auch für die Feststellungsklage entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis steht der Klägerin zu. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass bei der Festlegung von Flugverfahren nach den luftverkehrsrechtlichen Bestimmungen Sicherheitsbelange zu berücksichtigen und hier nicht in ausreichendem Maße beachtet worden sind. Somit kann die Klägerin die Möglichkeit einer Rechtsverletzung geltend machen.

Die Klägerin hat ihr Klagerecht nicht verwirkt. Auszugehen ist davon, dass die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 VwGO nicht fristgebunden ist. Eine analoge Anwendung des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kommt nicht in Betracht, weil die Klage zwar gegen eine Rechtsnorm gerichtet, gleichwohl nicht als Normenkontrollverfahren oder sonstiges (objektives) Beanstandungsverfahren zu qualifizieren ist. Das Rechtsschutzbegehren zielt letztlich auf Abwehr einer Verletzung subjektiver Rechte (vgl. BVerwG, Beschluss v. 04.05.2005 - 4 C 6.04 -, juris, Rdnr. 34 a. E.).

Der Klägerin kann nicht mit Erfolg entgegen gehalten werden, sie habe ihr Klagerecht illoyal verspätet ausgeübt und somit verwirkt. In zeitlicher Hinsicht kommt es hier entgegen der Auffassung der Beklagten und der Beigeladenen nicht darauf an, dass die streitigen Flugverfahren tatsächlich seit 1991 unverändert angewendet werden. Die Klage richtet sich nicht gegen das tatsächliche Flugverhalten der Piloten (oder tatsächliche Anordnungen der Fluglotsen), sondern gegen die rechtliche Grundlage der Flugbewegungen, also die 212. DVO-LuftVO in der Gestalt der im Tatbestand zitierten Änderungsverordnungen. Diese Rechtsverordnung ist erst im November 2002 bei gleichzeitiger ausdrücklicher Aufhebung der 177. DVO-LuftVO in Kraft getreten.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass sich die für die Beurteilung des Sicherheitsrisikos nicht unerhebliche Zahl der Flugbewegungen seit 1991 ständig verändert hat und dass die Klägerin eine hinreichend sichere Kenntnis über das Sicherheitsrisiko erst durch die nach Inkrafttreten der 212. DVO-LuftVO erstellten Gutachten des TÜV Pfalz, insbesondere das Gutachten vom Februar 2005, erlangt hat.

Dem Einwand der Verwirkung stehen auch die Umstände des Falles entgegen. Die sonst bei der Verwirkung maßgeblichen Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes (Treu und Glauben) kommen hier nicht zum tragen. Einerseits handelt das Luftfahrt-Bundesamt nicht im Vertrauen auf den Bestand bestimmter Maßnahmen oder auf das Verhalten bestimmter Betroffener, sondern es macht lediglich von seiner Rechtssetzungsbefugnis Gebrauch. Andererseits hat auch die Klägerin keinen Anlass gegeben, darauf zu vertrauen, sie werde die Flugverfahren klaglos hinnehmen. Denn sie hat sich ab Mitte des Jahres 2003 an die Flugsicherungsstelle, das zuständige Bundesministerium und letztlich auch an das Luftfahrt-Bundesamt gewandt.

Die Klage ist jedoch nicht begründet; die angegriffenen Flugverfahren verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Die 212. DVO-LuftVO vom 13. November 2002 in der Gestalt der 16. ÄndVO vom 7. Juni 2006 findet ihre Rechtsgrundlage in § 27a Abs. 2 Satz 1 LuftVO. Danach ist das Luftfahrt-Bundesamt ermächtigt, bei An- und Abflügen zu und von Flugplätzen mit Flugverkehrskontrolle die Flugverfahren einschließlich der Flugwege, Flughöhen und Meldepunkte durch Rechtsverordnung festzulegen. Die Vorschrift beruht auf § 32 Abs. 1 Satz 1 LuftVG. Danach ist das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen u.a. ermächtigt, durch Rechtsverordnung Bestimmungen über das Verhalten im Luftraum und am Boden unter Einfluss von Starts und Landung zu treffen. § 32 Abs. 3 Satz 3 LuftVG lässt es zu, die Regelung der Einzelheiten über die Durchführung dieser Verhaltenspflichten durch Rechtsverordnung auf das Luftfahrt-Bundesamt zu übertragen.

Die Klägerin stützt ihr Feststellungsbegehren in erster Linie auf die Erwägung, das Luftfahrt-Bundesamt habe bei seiner Entscheidung über die Festlegung der Nordwestrouten Vorgaben aus Art. 12 der Richtlinie 96/82/EG des Rates vom 9. Dezember 1996 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen (ABl. L 010 vom 14.01.1997) in der Fassung der Richtlinie 2003/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2003 (ABl. L 345 vom 31.12.2003) - Seveso II-RL - nicht beachtet. Die Absätze 1 und 1a dieser Bestimmung lauten in der derzeit gültigen Fassung:

Artikel 12

Überwachung der Ansiedlung

(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass in ihren Politiken der Flächenausweisung oder Flächennutzung und/oder anderen einschlägigen Politiken das Ziel, schwere Unfälle zu verhüten und ihre Folgen zu begrenzen, Berücksichtigung findet. Dazu überwachen sie

a) die Ansiedlung neuer Betriebe,

b) Änderungen bestehender Betriebe im Sinne des Artikels 10,

c) neue Entwicklungen in der Nachbarschaft bestehender Betriebe wie beispielsweise Verkehrswege, Örtlichkeiten mit Publikumsverkehr, Wohngebiete, wenn diese Ansiedlungen oder Maßnahmen das Risiko eines schweren Unfalls vergrößern oder die Folgen eines solchen Unfalls verschlimmern können.

Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass in ihrer Politik der Flächenausweisung oder Flächennutzung und/oder anderen einschlägigen Politiken sowie den Verfahren für die Durchführung dieser Politiken langfristig dem Erfordernis Rechnung getragen wird, dass zwischen den unter diese Richtlinie fallenden Betrieben einerseits und Wohngebieten, öffentlich genutzten Gebäuden und Gebieten, wichtigen Verkehrswegen (so weit wie möglich), Freizeitgebieten und unter dem Gesichtspunkt des Naturschutzes besonders wertvollen bzw. besonders empfindlichen Gebieten andererseits ein angemessener Abstand gewahrt bleibt und dass bei bestehenden Betrieben zusätzliche technische Maßnahmen nach Artikel 5 ergriffen werden, damit es zu keiner Zunahme der Gefährdung der Bevölkerung kommt.

(1a) Die Kommission wird ersucht, bis zum 31. Dezember 2006 in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten Leitlinien zur Definition einer technischen Datenbank einschließlich Risikodaten und Risikoszenarien aufzustellen, die der Beurteilung der Vereinbarkeit zwischen den unter diese Richtlinie fallenden Betrieben und den in Absatz 1 genannten Gebieten dient.

Das Begehren der Klägerin lässt sich schon deshalb nicht mit Erfolg auf Art. 12 Seveso II-RL stützen, weil diese Regelung nicht auf Flugverfahren (bzw. Flugrouten) anwendbar ist. Art. 12 Abs. 1 gilt für Politiken der Flächenausweisung oder Flächennutzung sowie für andere einschlägige Politiken, wobei unter dem Begriff der Politik verbindliche Planungen im weiteren Sinne zu verstehen sind. Im Unterabs. 2 werden außerdem Verfahren zur Durchführung dieser Politiken (z.B. Genehmigungsverfahren) genannt sowie im Zusammenhang mit dem Abstandsgebot bestimmte Bereiche benannt (z.B. Wohngebiete, öffentlich genutzte Gebäude und Gebiete sowie Freizeitgebiete). Auch wenn diese Bereiche im Unterabs. 2 nicht (wie im Falle des Unterabs. 1 Satz 2 lit. c) ausdrücklich als Beispielsfälle bezeichnet werden, stellen sie doch typische Produkte oder Ergebnisse von flächenbezogenen Planungen dar, so dass diese Einzelfälle auch zur Auslegung des Begriffs der "einschlägigen" Politik herangezogen werden können. Für diese Auslegung spricht deutlich, dass die Aufnahme weiterer Fälle in den Katalog des Unterabs. 2 durch die Änderungsrichtlinie vom 16. Dezember 2003 ausdrücklich als "Präzisierung" und nicht als Erweiterung verstanden wird (vgl. Erwägung 14 zu der Änderungsrichtlinie vom 16.12.2003).

Schon nach allgemeinem Sprachgebrauch ist unter einem Verkehrsweg ein körperlich-gegenständlicher Bereich als Teil der Erdoberfläche zu verstehen, der hergestellt wird oder in der Natur vorhanden ist, und der der Abwicklung von Verkehrsabläufen - in der Regel nach bestimmten Verkehrsregeln - dient. Die Eigenschaft der Beanspruchung bestimmter oder zumindest bestimmbarer Flächen teilen die Verkehrswege mit den sonstigen in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso II-RL genannten Gebieten (Baugebiete, Gebäude, Freizeitgebiete, naturschutzrechtlich besonders bedeutsame oder empfindliche Gebiete). Der Richtliniengeber betrachtet Verkehrswege selbst als Gebiete. Denn er fasst die Verkehrswege, die öffentlich genutzten Gebäude und die im Unterabs. 2 ausdrücklich als solche bezeichneten Gebiete sowohl in Art. 12 Abs. 1a Seveso II-RL als auch in der Erwägung Nr. 22 mit dem Begriff "Gebiete" zusammen und stellt sie den Störfallanlagen gegenüber. Der Schienenverkehr, der Schiffsverkehr und grundsätzlich auch der Straßenverkehr sind auf die gegenständliche Existenz der Verkehrswege angewiesen, um ihre Verkehrsfunktion erfüllen zu können.

Flugverfahren dagegen erschöpfen sich in Verkehrsregelungen oder Verhaltensvorschriften für die Luftfahrzeugführer (und nach Auffassung des erkennenden Senats auch für die Fluglotsen); sie beschreiben eine virtuelle Linie, auf der ein Flugzeug im Idealfall das Ziel erreichen soll. Tatsächlich aber kann diese Ideallinie aus unterschiedlichen Gründen nicht strikt eingehalten werden. Es kommt zu einer Streuung der Flugspuren sowohl zur Seite als auch in der Höhe. Nach den Ermittlungen des TÜV Pfalz (vgl. Anlage K5b) liegt die laterale Ausdehnung der Streubereiche über dem Werksgelände der Klägerin bei 600 bis 1200 m, wobei dieser Bereich als Durchschnittswert angegeben wird, von dem Ausnahmen möglich sind. Als Beispiel für die horizontale Auffächerung kann die in der mündlichen Verhandlung von der Beklagten überreichte Radarspuraufzeichnung - Summe der Höhenprofile - vom 11. Juli 2003 (Bl. IV/915 d.A.) angeführt werden. Diese Streuung liegt in der Natur des Flugverkehrs begründet; sie stellt keine Abweichung von den Flugverfahren, sondern eine (nach den Regeln der ICAO) normgerechte Nutzung der Routen dar. Dieses flugroutenspezifische Phänomen verbietet es, die durch die Flugverfahren festgelegten Ideallinien als - virtuelle - Verkehrswege im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso II-RL zu qualifizieren. Gerade das Abstandsgebot des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 kann nur sinnvoll angewendet werden, wenn das der Störanlage gegenübergestellte Gebiet - wie in den im Unterabs. 2 genannten Fällen - klar abgegrenzt oder zumindest abgrenzbar ist.

Das Problem des fehlenden Flächenbezugs und der mangelnden Abgrenzbarkeit kann nicht in der Weise gelöst werden, dass der gesamte Korridor als dreidimensionaler Raum, in dem Flugbewegungen stattfinden, oder gar der Raum, in dem Flugbewegungen stattfinden dürfen, insgesamt als Verkehrsweg eingestuft wird. Denn dann würden diese Verkehrswege Ausmaße annehmen, die eine sinnvolle Anwendung sowohl des Abstandsgebots als auch des Berücksichtigungsgebots ausschließen würden. Ebenso wenig lässt sich das Problem des fehlenden Flächen- oder Raumsbezugs und der fehlenden Flächenabgrenzung mit der Erwägung ausräumen, nur Flugrouten in relativ niedriger Höhe, also nur Flugrouten in der Nähe von Flughäfen, als Verkehrswege zu betrachten (so Repkewitz, VBlBW 2005, 1). Abgesehen davon, dass sich der von dem Bundesverwaltungsgericht (Urteil v. 28.06.2000, BVerwGE 111, 276, 283) geprägte Begriff des "Flugerwartungsgebiets" auf den Luftraum und nicht auf den Boden bezieht (dann müsste von einem Fluglärmerwartungsgebiet gesprochen werden), löst diese Betrachtung auch nicht das Problem der fehlenden Abgrenzbarkeit, sondern projiziert es lediglich auf den Boden. Diese Auffassung kann auch nicht überzeugend begründen, bis zu welcher Höhe Flugrouten Verkehrswege sein sollen, und sie kann auch nicht erklären, warum ein Flugzeug bei Erreichen einer bestimmten Höhe den vorher benutzten Verkehrsweg verlässt, obwohl die die Flugroute beschreibenden Verhaltensvorschriften fortbestehen.

Die Besonderheiten der Flugroutenplanung, die nach den vorstehenden Ausführungen insbesondere in dem fehlenden Flächen- oder Raumbezug und in der mangelnden oder nicht ausreichenden Abgrenzbarkeit liegen, stehen nicht nur der Qualifizierung der Flugrouten als Verkehrswege im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso II-RL entgegen, sondern schließen es auch aus, die Festlegung von Flugverfahren als andere "einschlägige" Politik im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 und Unterabs. 2 einzuordnen. Mit dem Begriff einschlägig wird der Auffangtatbestand der anderen Politiken dahingehend eingegrenzt, dass ein Bezug zu dem Merkmal Politik der Flächenausweisung oder Flächennutzung und damit auch, wie dargelegt, zu den im Unterabs. 2 aufgelisteten Anwendungsfällen hergestellt wird. Nur wenn die Grundstruktur einer Planung mit der Flächenausweisung im Allgemeinen oder mit der Festsetzung von den im Unterabs. 2 genannten Gebieten prinzipiell vergleichbar ist, kann sie als einschlägig im Sinne des Art. 12 Seveso II-RL aufgefasst werden. Das ist hier aber gerade nicht der Fall.

Die Klägerin wendet demgegenüber ein, Flugrouten müssten schon deshalb als Verkehrswege oder zumindest als andere einschlägige Politiken angesehen werden, weil nur diese Interpretation dem Grundanliegen der Richtlinie, nämlich Störfälle möglichst zu vermeiden, Rechnung tragen könne. Dieser Argumentation vermag sich der erkennende Senat aus im wesentlichen zwei Gründen nicht anzuschließen:

Zum einen wäre eine so weit gefasste Zielsetzung, unterstellt sie läge der Seveso II-RL wirklich zu Grunde, keine ausreichende Rechtsgrundlage, Flugrouten entgegen der oben entwickelten Interpretation als Verkehrswege oder andere einschlägige Politiken aufzufassen. Die Beklagte und die Beigeladene haben der Argumentation der Klägerin zu Recht entgegengehalten, dass bestimmte Tatbestände, z. B. der Transport gefährlicher Stoffe, ausdrücklich aus dem Geltungsbereich der Seveso II-RL ausgeklammert worden sind (vgl. Art. 4), obwohl diese Tätigkeiten nicht weniger riskant sind als das Vorhandensein gefährlicher Stoffe in Anlagen. Die Nichtanwendbarkeit der Seveso II-RL hat nicht zur Folge, dass ein eventuelles Risiko unbewältigt bleibt, sondern anderweitigen Regelungen im gemeinschaftlichen oder nationalen Recht überlassen wird.

Zum anderen trifft auch die Prämisse der Klägerin nicht zu, dass Art. 12 Seveso II-RL auf eine Minimierung des Störfallrisikos mit der Konsequenz abzielt, dass diese Norm dem Betreiber einer Anlage einen Abwehranspruch gegenüber dem Heranrücken geschützter Gebiete einräumt.

Die Seveso II-RL wird insgesamt, wie schon die - zuvor geltende - Richtlinie 82/501/EWG des Rates vom 24. Juli 1982 über die Gefahren schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten (ABl. L 230 vom 05.08.1982) von der Intention getragen, die Betreiber von Anlagen wegen der aus der Verarbeitung von gefährlichen Stoffen resultierenden Risiken für den Betrieb und für die Umgebung des Betriebes in die Pflicht zu nehmen. Kern der Richtlinie ist die Normierung der allgemeinen Betreiberpflichten in Art. 5, die durch die Art. 6 ff. ergänzt werden. Durch Art. 8 wird der Verantwortungsbereich auf benachbarte Betriebe erstreckt, um bei schweren Unfällen einen "Domino-Effekt" möglichst zu verhindern. Erwähnenswert ist auch die Regelung in Art. 9 Abs. 1 lit. e) Seveso II-RL, nach der der Sicherheitsbericht des Betreibers auch Informationen über Entwicklungen in der Nachbarschaft bestehender Betriebe enthalten muss. Die Pflichten des Betreibers einer unter die Richtlinie fallenden Anlage bestehen in zweifacher Hinsicht in zwei Richtungen. Zum einen "haftet" er für Risiken, die ihre Ursache sowohl innerhalb als auch außerhalb des Betriebes haben können. Für externe Risken, z.B. Unfälle außerhalb des Werksgeländes oder unbefugte Eingriffe in den Betrieb, ist er unabhängig davon verantwortlich, in welchem Maß er Einfluss auf mögliche Risikoquellen nehmen kann. Zum anderen können sich die Folgen eines Unfalls sowohl innerhalb als auch außerhalb des Werkes auswirken. Dementsprechend erfasst die Definition des Begriffes "schwerer Unfall" in Art. 3 Nr. 5 Seveso II-RL interne und externe Gefahrenlagen. Deshalb ist es auch konsequent, wenn der Betreiber sowohl für die internen als auch für die externen Folgen eines schweren Unfalls verantwortlich gemacht wird (vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. a) und b) Seveso II-RL sowie die Erwägungen 20 und 21). Aus der Definition des schweren Unfalls lässt sich aber entgegen der Auffassung der Klägerin kein Argument für ihre Auffassung herleiten, die Richtlinie begründe auch Rechtspositionen zu Gunsten der Betreiber von Anlagen. Mit der Pflicht zur Abwendung externer Schäden korrespondiert nicht zwangsläufig ein Recht, bestimmte Nutzungen in der Nachbarschaft der Anlage abwehren zu können. Diese weitgehende Verantwortung des Betreibers einer Störfallanlage für interne und externe Risiken sowie für Auswirkungen innerhalb und außerhalb des Werksgeländes findet ihre Rechtfertigung in dem Umstand, dass er den wirtschaftlichen Nutzen aus der Verarbeitung gefährlicher Stoffe zieht.

Gegen die These, dass Art. 12 Seveso II-RL Abwehrrechte des Anlagenbetreibers gegenüber bestimmten Nutzungen in der Nachbarschaft des Werkes begründet, sprechen schließlich Wortlaut und Systematik des Unterabs. 2 des Art. 12 Seveso II-RL. Dort werden als Konkretisierung des allgemeinen Berücksichtigungsgebots des Abs. 1 Satz 1 zwei sich ergänzende Anforderungen aufgestellt. Zum einen das Gebot, zwischen Störfallanlage einerseits und schutzwürdigen Gebieten andererseits einen angemessenen Abstand einzuhalten, und zum anderen das Gebot, bei bestehenden Betrieben zusätzliche technische Maßnahmen nach Art. 5 zu ergreifen. Beide Prinzipien stehen in einer Wechselbeziehung. Je größer der Abstand zwischen der Anlage und dem schutzwürdigen Gebiet ist, desto weniger müssen technische Maßnahmen im Betrieb ergriffen werden. Durch das Trennungsgebot wird der Betreiber einer Anlage zwar tatsächlich begünstigt, dieser Effekt ist aber kein Anliegen, das der Richtliniengeber mit der Normierung verfolgt. Das ergibt sich deutlich aus dem letzten Satzteil des Unterabs. 2, der ausdrücklich als Ziel der Regelung bestimmt, dass es zu keiner Zunahme der Gefährdung der "Bevölkerung" kommt. Dieser letzte Teil des Unterabs. 2 gilt nicht nur für das Gebot der Anordnung technischer Maßnahmen im Betrieb, sondern auch für das Abstandsgebot. Das folgt schon aus dem grammatikalischen Aufbau des Unterabs. 2. Darüber hinaus entspricht diese Zielvorgabe der oben beschriebenen Intention der Richtlinie insgesamt. Insoweit deckt sich somit die Schutzrichtung des Abstandsgebots des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso II-RL mit dem Trennungsgebot des § 50 BImSchG. Nach dieser Vorschrift sind bei raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen Flächen einander so zuzuordnen, dass die u.a. von schweren Unfällen hervorgerufenen Auswirkungen auf Wohn- und sonstige schutzwürdige Gebiete soweit wie möglich vermieden werden.

Aus der Gegenüberstellung der Störfallanlagen und der schutzwürdigen Gebiete in der Nachbarschaft des Betriebes ergibt sich, dass mit dem Begriff "Bevölkerung" im Sinne des letzten Satzteils des Unterabs. 2 des Art. 12 Seveso II-RL diejenigen Menschen gemeint sind, die in den benachbarten Baugebieten wohnen, die die öffentlich genutzten Gebäude und Gebiete aufsuchen, die sich in den Freizeitanlagen aufhalten und die die Verkehrswege benutzen. Mit diesem Begriff werden - wie mit der sonst in der Richtlinie häufig gebrauchten Formulierung "Mensch und Umwelt" - die externen Schutzgüter gleichsam auf einen gemeinsamen Nenner gebracht. Diese am Zweck der Richtlinie orientierte einschränkende Interpretation des Begriffes Bevölkerung versagt nicht der Belegschaft oder den Besuchern des Werkes den gebotenen Schutz. Die Pflicht des Betreibers umfasst, wie oben dargelegt, auch den Schutz der internen Rechtsgüter. Auf den Arbeitsschutz oder - in der Terminologie der Richtlinie - "den Gesundheitsschutz und die Sicherheit am Arbeitsplatz" (vgl. z.B. die Erwägung 10) erstreckt sich aber nicht das normative Anliegen des Art. 12 Seveso II-RL, wie sich aus Art. 2 Abs. 2 ergibt.

Somit ist als Zwischenergebnis festzustellen, dass Flugverfahren auch unter Berücksichtigung der Intention der Richtlinie weder als Verkehrswege noch als Ergebnis einer anderen einschlägigen Politik im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 und Unterabs. 2 Seveso II-RL angesehen werden dürfen, so dass diese Bestimmung bei der Überprüfung der 212. DVO-LuftVO weder unmittelbar anwendbar ist noch als Maßstab für eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts herangezogen werden darf. Daraus folgt nicht, wie bereits erwähnt, dass die Klägerin die Flugverfahren ohne Rechtsschutzmöglichkeit hinnehmen muss; darauf ist später zurückzukommen.

Aber selbst wenn man unterstellt, dass Flugrouten als Verkehrswege im Sinne des Art. 12 Seveso II-RL einzuordnen seien, würden sich aus dieser Norm keine konkreten Vorgaben herleiten lassen, die hier nicht beachtet worden wären. Das ergibt sich im Einzelnen aus folgenden Erwägungen:

Das Abstandsgebot des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso II-RL ist in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass für die Ermittlung eines angemessenen Abstandes nur sicherheitstechnische Aspekte berücksichtigt werden dürfen (so Weidemann/Freytag, StoffR 2004, 225; Jarass, BImSchG, 6. Aufl., § 50, Rdnr. 22) wäre ein Verstoß nicht festzustellen, weil es hier, wie oben dargelegt, allein auf die Folgen eines eventuellen Störfalles für die Benutzer des Verkehrsweges ankommt und nicht erkennbar ist, dass sich ein solcher Unfall in dem Werk der Klägerin auf die Sicherheit des Luftverkehrs auswirken würde. Die Frage nach der Einhaltung eines angemessenen Abstandes stellt sich daher nur, wenn man zusätzlich unterstellt, dass Art. 12 Seveso II-RL ein Abwehrrecht des Betreibers gegenüber einer Nutzung in der Nachbarschaft der Anlage zu begründen vermag. Aber auch für diese Fallkonstellation bedarf es keiner Entscheidung, wie ein angemessener Abstand letztlich zu ermitteln ist. Denn zwischen Störfallanlagen einerseits und Verkehrswegen andererseits muss ein angemessener Abstand nur "so weit wie möglich" gewahrt werden. Dieser Zusatz ist entgegen der Auffassung der Klägerin nicht als Verschärfung des Gebots auf den technisch möglichen Abstand zu verstehen, sondern als eine Relativierung in dem Sinne, dass auch andere als sicherheitsrelevante Belange bei der Ermittlung des einzuhaltenden Abstandes Bedeutung erlangen können. Diese Relativierung trägt dem Umstand Rechnung, dass bei der Planung von Verkehrswegen in größerem Maße Zwangspunkte für die Trassierung bestehen als bei der Standortwahl für die sonstigen im Unterabs. 2 genannten Gebiete.

Für die somit vorzunehmende Abwägung zwischen dem Interesse des Anlagenbetreibers auf Einhaltung eines möglichst großen Abstandes und den dagegen sprechenden Belangen gilt nach Auffassung der Klägerin ein uneingeschränkter Vorrang der von ihr geltend gemachten Sicherheitsbelange vor allen anderen Belangen, soweit sie nicht die Sicherheit des Flugverkehrs selbst betreffen. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob Art. 12 Seveso II-RL, seine Anwendbarkeit unterstellt, eine derart strikte Abwägungsdirektive zu entnehmen ist. Angesichts der Umstände, dass auf der einen Seite sowohl die Ermittlung als auch die Bewertung der Sicherheitsrisiken mit nicht unerheblichen Unwägbarkeiten verbunden sind und andererseits erhebliche bis an die Grenze der Unzumutbarkeit reichende und teilweise diese Schwelle sogar überschreitende Lärmbelastungen real bestehen, erscheint es nicht als von vornherein abwägungsfehlerhaft, wenn das Luftfahrt-Bundesamt bei der Festlegung von Flugverfahren im Einzelfall Lärmschutzbelangen den Vorrang einräumt.

Die Frage nach dem Rang der widerstreitenden Belange bedarf hier keiner abschließenden Beurteilung. Denn diese von der Klägerin aufgeworfene Frage stellt sich so für den Senat nicht. Entscheidungserheblich ist hier bei genauer Betrachtung nicht das Verhältnis zwischen Sicherheits- und sonstigen Belangen, sondern die Frage, wer für bestimmte Risiken verantwortlich ist und demzufolge die Aufwendungen oder sonstigen Nachteile für die Bewältigung dieser Risiken zu tragen hat:

Auszugehen ist davon, dass das Risiko eines Flugzeugabsturzes über dem Werksgelände der Klägerin nicht größer ist als über vergleichbaren Bereichen der anderen An- und Abflugrouten (auch in Relation zu den Abflugrouten 07-N, vgl. "den von der Beigeladenen herausgegebenen Fluglärmreport", Ausgabe 1/2006, S. 6 f.).

Das erhöhte, den vorliegenden Rechtsstreit auslösende Risiko, dass ein eventueller Absturz eines Flugzeugs auf eine Betriebsfläche des Ticona-Werkes mit hoher Wahrscheinlichkeit den Verlust der Anlage bewirken wird, beruht allein auf der Tatsache, dass in dem Werk der Klägerin in erheblichem Umfang gefährliche Stoffe gelagert und verarbeitet werden. Die Klägerin kann zwar nicht die Risiken eines Flugzeugabsturzes beeinflussen, wohl aber die Folgen eines solchen Unglücks eindämmen. Diese Maßnahmen zur vorsorglichen Schadensbegrenzung gehören, wie oben ausführlich dargelegt, zu dem Kernbereich der Pflichten des Betreibers einer Störfallanlage, und zwar sowohl nach Art. 5 Seveso II-RL als auch nach nationalem Immissionsschutzrecht (insbesondere §§ 3 und 5 Störfall-VO). Deshalb hat das Regierungspräsidium Darmstadt als für die Anlagensicherheit zuständige Behörde ein Verfahren eingeleitet, das darauf abzielt, die erforderlichen Schutzvorkehrungen im Betrieb zu ergreifen. Die Klägerin beruft sich zur Darlegung ihrer subjektiven Rechtsbetroffenheit auch ausdrücklich darauf, dass dieses Verfahren zu erheblichen wirtschaftlichen Belastungen und Betriebseinschränkungen bis hin zu einer Betriebsstilllegung führen könne. Dieser Vortrag verdeutlicht, dass im vorliegenden Rechtsstreit nicht um die Frage gestritten wird, ob Sicherheitsrisiken in Kauf zu nehmen sind, sondern um die Entscheidung, wer für die Beseitigung oder Minimierung der Risiken verantwortlich ist. Letztlich stehen sich betriebliche Belange der Klägerin auf der einen und betriebliche Interessen der Beigeladenen und der Flugsicherung auf der anderen Seite gegenüber. Diesen Konflikt löst Art. 5 Seveso II-RL grundsätzlich zu Lasten des Betreibers einer Störfallanlage.

Zur Vermeidung von Missverständnissen besteht in diesem Zusammenhang Anlass klarzustellen, dass nach den Erkenntnissen der Fachbehörde auf der Grundlage der vorliegenden Gutachten nicht damit zu rechnen ist, dass ein eventueller absturzbedingter Störfall zu relevanten Auswirkungen außerhalb des Werksgeländes führen wird, nachdem die Klägerin im Sommer 2005 das Lager für das sehr giftige Bortrifluorid eingebunkert hat.

Die Pflicht der Klägerin, auch Vorsorge für einen eventuellen absturzbedingten Störfall zu treffen, wird allerdings durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt. Die Inanspruchnahme der Klägerin würde sich als unverhältnismäßig erweisen, wenn das Luftfahrt-Bundesamt die streitigen Abflugrouten - gleichsam mit einem Federstrich - verlegen könnte, ohne dass sich erhebliche Nachteile für andere Belange ergeben. Das trifft aber auf keine der von der Klägerin vorgeschlagenen Alternativen zu.

Als Variante zu den aktuell geltenden Flugverfahren schlägt die Klägerin zunächst vor, den Punkt, an dem die Flugzeuge den Startbahnkurs verlassen und nach Nordwesten abdrehen, um 0,5 NM auf 5,5 DME FFM zu verschieben. Diesem Vorschlag stehen erhebliche Nachteile gegenüber. Es ist schon zweifelhaft, ob diese Alternative überhaupt geeignet ist, das Störfallrisiko für das Ticona Werk hinreichend zu reduzieren. Diese Bedenken resultieren entgegen der Auffassung der Beklagten und der Beigeladenen nicht schon daraus, dass ein großer Teil der Flugzeuge das Ticona-Gelände auch im Falle der vorgeschlagenen Verschiebung des Abdrehpunktes überfliegen würden. Denn mit der Verschiebung der Ideallinie dürfte auch eine Verlagerung der Flugbewegungen einhergehen mit der weiteren Folge, dass sich - jedenfalls rechnerisch - das Risiko des Eintritts eines Störfalles reduzieren würde.

Zweifel bestehen jedoch, ob diese Veränderung einen Umfang erreichen kann, der es rechtfertigt, die Maßnahme als geeignete Alternative erscheinen zu lassen. Dem steht die Aussage in dem Gutachten des TÜV Pfalz (Anlage K5, S. 86) entgegen, dass eine geringfügige Veränderung der jetzigen Nordwestrouten zu keiner relevanten Minderung der Störfallhäufigkeit führen und nur eine weitgehende Verlagerung auf südliche Routen eine wesentliche Entlastung bedeuten würde. Es besteht keine Veranlassung, zu dieser Frage entsprechend dem Beweisantrag der Klägerin zu 1) (Bl. IV/905 der Akten) ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen. Das wäre nur dann geboten, wenn die Klägerin das vorliegende Gutachten des TÜV Pfalz vom Februar 2005 erschüttert hätte, wofür aber die bloße Behauptung des Gegenteils nicht ausreicht. Die in dem Beweisantrag zu 3) (Bl. 907 der Akten) aufgestellten Behauptungen zu der Zahl der Überflüge über das Werksgelände und der Zahl der Flugbewegungen insgesamt kann als wahr unterstellt werden, ohne dass sich daraus Rückschlüsse auf die konkreten Auswirkungen der vorgeschlagenen Maßnahme herleiten lassen.

Darüber hinaus sind die Beweisanträge zu 1) bis 3) auch deshalb abzulehnen, weil es auf die Richtigkeit dieser Behauptungen letztlich nicht ankommt. Selbst wenn diese Alternative zu einer relevanten Reduzierung des Sicherheitsrisikos beitragen könnte, stünden ihr erhebliche Nachteile entgegen. Das gilt in erster Linie für den Lärmschutz. Die Verkürzung des Startbahnkurses bis zu der heutigen Marke ist im Jahr 1991 auf Vorschlag der Lärmschutzkommission verordnet worden, um die Fluglärmbelastung der Stadt Raunheim zu reduzieren. Nach den Bescheiden des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung vom 26. April 2001 und 25. November 2002 ist der größte Teil der Wohngebiete in den Nachtschutzbereich einbezogen worden mit der Folge, dass die Beigeladene passiven Schallschutz zu gewähren hat, um eine sonst unzumutbare Lärmbelastung auszugleichen (vgl. Bl. II/430 ff. und 437 ff. der Akten). Die hohe Belastung ergibt sich auch aus den Lärmwerten, die in dem von der Beigeladenen herausgegeben Fluglärmreport (Ausgabe 1/2006) ausgewiesen sind. Aufgrund der Form der Lärmkonturen ist es für den Senat ohne weiteres nachzuvollziehen, dass die Verschiebung des Abdrehpunktes auf 5,5 DME FFM eine Steigerung der schon hohen Lärmbelastung bewirken würde.

Dem kann die Klägerin nicht mit Erfolg entgegenhalten, dieser Nachteil könne durch Einführung eines anderen Abflugverfahrens - Verlängerung der ersten Steigphase - ausgeglichen werden. Es bedarf hier keiner Entscheidung, ob ein solches Verfahren tatsächlich eine spürbare Lärmentlastung bewirken und ob es ohne flugbetriebliche Nachteile eingeführt werden kann. Denn wenn das so wäre, müsste dem das Luftfahrt-Bundesamt unabhängig von anderweitigen Veränderungen Rechnung tragen. Schon deshalb darf eine mögliche Lärmentlastung nicht - nach Art einer Aufrechnung - den Nachteilen einer alternativen Flugroutenführung entgegengesetzt werden.

Darüber hinaus tragen die Beklagte und die Beigeladene zu Recht vor, dass sich eine Verlegung des Abdrehpunktes auf 5,5 DME FFM auch insoweit nachteilig auswirken würde, als die Flugbewegungen dichter an ein - ebenfalls unter die Seveso II-RL fallendes - Tanklager heranrücken würden. Das Tanklager und seine Konfiguration zu den Flugrouten sind auf der Abbildung 2 der von der Klägerin vorgelegten "Dokumentation" über den Verlauf der Flugrouten (Anlage K23, S. 2) deutlich zu erkennen. Entgegen der Auffassung der Klägerin war das Luftfahrt-Bundesamt nicht gehalten, Einzelheiten der Lärmbelastung und der Sicherheitsrisiken zu ermitteln. Die Besonderheiten bei der Festlegung von Flugverfahren gebieten eine eher pauschalierende Ermittlung und Bewertung der betroffenen Belange (vgl. BVerwG, Urteil v. 24.06.2004, BVerwGE 121, 152, 166 f.). Diese Betrachtung rechtfertigt auch die Schlussfolgerung, dass die mit einer Verlegung des Abdrehpunktes verbundenen Nachteile jedenfalls so beachtlich sind, dass sie die Beibehaltung der streitigen Nordwestrouten insgesamt als abwägungsfehlerfrei erscheinen lassen. Daraus folgt auch zwangsläufig, dass es nicht als unverhältnismäßig anzusehen ist, wenn die Klägerin verpflichtet wird, die zur Eindämmung der Folgen eines Unfalles erforderlichen Schutzvorkehrungen im Betrieb zu ergreifen. Weder dem Berücksichtigungsgebot des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 Seveso II-RL noch der Soweitregelung im Unterabs. 2 lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass insoweit andere Verfahrensgrundsätze anzuwenden sind. Daher führt auch die - hier ohnehin unterstellte - Anwendbarkeit des Art. 12 Seveso II-RL auf die Planung von Flugrouten nicht dazu, die Inanspruchnahme der Klägerin als unverhältnismäßig erscheinen zu lassen.

Das gilt auch für den Vorschlag der Klägerin, die jetzt nur für den nächtlichen Flugverkehr genutzten Routen (N-Routen) auch für den Tagesverkehr zu nutzen. Ob, wie die Klägerin behauptet, diese Variante ohne Kapazitätsverlust realisiert werden könnte, ist sehr fraglich. Die Aussagen in dem HNTB-Gutachten haben die Beklagte und die Beigeladene durch den Einwand fehlender Kalibrierung erschüttert. Demgegenüber kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg darauf berufen, diese ergebe sich aus dem von der Beigeladenen im Ausbauverfahren vorgelegten FAA-Gutachten. Denn Gegenstand dieses Gutachtens ist allein die "Betonkapazität" des Flughafens (vgl. Abschlussbericht vom August 1999, Anlage B10 - Bl. IV/869 der Akten). Die bloße Behauptung, dass gleichwohl eine Kalibrierung stattgefunden habe, gibt daher keinen hinreichenden Anlass für eine Beweisaufnahme. Somit stellt sich auch der Beweisantrag zu 4) als ein unzulässiger Ausforschungsbeweisantrag dar. Im Übrigen kommt es auf die Beweisthemen der Anträge zu 4) bis 7) nicht an. Denn auch wenn der Vorschlag der Klägerin kapazitätsneutral realisiert werden könnte, stünden der vollständigen oder teilweisen Verlegung der Flüge auf die N-Routen so erhebliche Nachteile gegenüber, dass sich die Beibehaltung der hier streitigen Flugverfahren als abwägungsfehlerfrei und die Heranziehung der Klägerin zu Schutzvorkehrungen im Betrieb nicht als unverhältnismäßig erweisen würde. Die Beklagte und die Beigeladene führen insoweit zu Recht an, dass bei Verwirklichung des klägerischen Vorschlags ein erheblicher Koordinierungsaufwand entstehen würde. Diese Argumentation lässt sich leicht nachvollziehen, weil dann neben der Koordination der An- und Abflüge auf den Parallelbahnen auch eine Koordinierung mit den Abflügen von der Startbahn 18 erforderlich wird. Ca. 1/3 dieser Abflugverfahren vereinen sich auf einem Abschnitt in südwestlicher Richtung mit den N-Routen.

Vor allem aber stehen auch dieser Alternative Lärmschutzbelange entgegen. Durch das aktuelle System der Routenführung und Routenbelegung werden die Abflüge unter Lärmschutzaspekten ausgewogen verteilt. Das ergibt sich schon aus der Darstellung und der Belegung der wichtigsten Routen auf den Seiten 4 bis 7 des bereits zitierten Fluglärmreports. Ca. 2/3 der Abflüge werden über die Startbahn 18 abgewickelt und von dort auf drei Routen aufgeteilt. Die restlichen Abflüge, also ca. 1/3, entfallen bei Westwind auf die Nordwestrouten, die ihrerseits in Tag- und Nachtflugrouten unterteilt sind. Dieses ausgewogene System der Verteilung des Fluglärms würde bei Verwirklichung des Vorschlags der Klägerin empfindlich gestört. Die Menschen, die jetzt den nächtlichen Fluglärm infolge der N-Routen hinnehmen müssen, würden auch noch mit dem am Tag verursachten Fluglärm belastet, obwohl ein Teil der insoweit betroffenen Bereiche bei Ostbetrieb auch durch die landenden Flugzeuge beeinträchtigt wird.

Hinzu kommt, dass die N-Routen nicht den gesamten verlagerten Verkehr aufnehmen können, sondern dass ein Teil der Abflüge auf die Startbahn 18 gelegt werden muss (vgl. S- und T-Routen), wie sich aus dem Ausbauplan ergibt (vgl. Anlage K15). Das hätte zur Folge, dass die durch die südlichen Abflugrouten stark belasteten Wohngebiete eine weitere - und vermeidbare - Beeinträchtigung hinnehmen müssten.

Auch der dritte Alternativvorschlag der Klägerin lässt die bestehenden Flugverfahren nicht als abwägungsfehlerhaft und die Heranziehung der Klägerin zu betrieblichen Schutzvorkehrungen nicht als unverhältnismäßig erscheinen.

Die Klägerin schlägt insoweit vor, den Piloten vorzuschreiben, die anfängliche Steigrate auch über eine Flughöhe von 1.500 Fuß hinaus einzuhalten. Es bestehen erhebliche Bedenken, ob diese Alternative geeignet ist, das in dem Gutachten des TÜV Pfalz beschriebene Sicherheitsrisiko für das Ticona-Werk spürbar zu reduzieren. Wie bereits mehrfach dargelegt, legen die jetzt vorgeschriebenen Flugverfahren Ideallinien fest, von denen auch horizontal abgewichen werden darf und auch tatsächlich in nicht unerheblichem Umfang abgewichen wird. Die Verfahren schließen es deshalb nicht aus, dass Piloten das von der Klägerin geforderte Verfahren schon jetzt einhalten. Herr Heldmaier, der sachverständige Beistand der Klägerin, hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass diese Verfahren schon jetzt von einem Teil der Piloten, insbesondere von den aus den skandinavischen Ländern, eingehalten werde. Auf der anderen Seite ist es bei einem Abstand von ca. 3,5 km zwischen den Startbahnen und dem Werksgelände nachvollziehbar, dass ein großer Teil der Flugzeuge die Höhe von 1500 Fuß erst gewonnen hat, wenn die Flugzeuge das Werksgelände schon oder nahezu erreicht haben. Bei beiden Gruppen würde sich aus einer obligatorischen Einführung des ICAO-A-Verfahrens keine tatsächliche Veränderung ergeben. Die Bandbreite der Flughöhen über dem Werksgelände wird - wenn auch nur beispielhaft - durch die von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Aufzeichnung der Höhenprofile belegt (vgl. IV/915 der Akten).

Vor allem aber sind keine Anhaltspunkte dafür von der Klägerin vorgetragen worden oder sonst ersichtlich, dass die obligatorische Einführung des ICAO-A-Verfahrens die Überflughöhen insgesamt derart verändern könnte, dass die in dem Gutachten des TÜV Pfalz vom Februar 2005 geäußerten Sicherheitsrisiken entfallen würden. Dem steht die in Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse getroffene Aussage der Gutachter des TÜV Pfalz entgegen, dass eine hinreichende Reduzierung der Risiken für die Anlage nicht durch Veränderung der Flugverfahren, sondern nur durch eine Verlagerung auf südliche Routen erreicht werden könne. Diese Aussage hat die Klägerin, wie bereits ausgeführt, nicht zu erschüttert vermocht. Die in dem Beweisantrag zu 8) (mit den zu Protokoll erklärten Ergänzungen) aufgestellten Behauptungen entbehren jeglicher fachlicher Erläuterung; sie sind schlicht aus der Luft gegriffen. Bei diesem Beweisantrag handelt es sich somit auch um einen unzulässigen Ausforschungsbeweisantrag; das gilt im Übrigen auch für den Antrag zu 9). Auf die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die obligatorische Einführung des ICAO-A-Verfahrens Lärmentlastungen für die Stadt Raunheim bewirken würde, kommt es im Übrigen nicht an. Es wurde bereits dargelegt, dass eine Lärmentlastung durch ein geeignetes und fliegbares Verfahrens unabhängig von den hier streitigen Fragen zu realisieren wäre.

Schließlich spricht der folgende Einwand deutlich gegen den Vorschlag der Klägerin, das Sicherheitsrisiko für ihren Betrieb durch eine Einflussnahme auf die Flughöhe auszuräumen. Eine obligatorische Einführung dieses Verfahrens wäre nur in der Gestalt möglich, dass bestimmte Mindestflughöhen festgelegt werden. Diese müssten aber, um nach den vorstehenden Ausführungen überhaupt eine Reduzierung des Sicherheitsrisikos als möglich erscheinen zu lassen, so deutlich ausfallen, dass sie von einem Teil der Flugzeuge nicht sicher erreicht werden könnten. Das wiederum hätte einen, wie ebenfalls dargelegt, aus Lärmschutzgründen unerwünschten Verdrängungseffekt auf andere Routen zur Folge. Insgesamt betrachtet kann auch eine Einflussnahme auf die Überflughöhe nicht als geeignete Alternative angesehen werden. Das Luftfahrt-Bundesamt hat nicht abwägungsfehlerhaft gehandelt, wenn es diesem Alternativvorschlag der Klägerin nicht gefolgt ist. Gleichzeitig ist es auch unter dem Aspekt dieser Alternative nicht unverhältnismäßig, wenn die Klägerin zur Beherrschung der Sicherheitsrisiken selbst Schutzvorkehrungen in ihrem Betrieb treffen muss.

Weitere Varianten hat die Klägerin nicht vorgeschlagen; sie mussten sich dem Luftfahrt-Bundesamt auch nicht aufdrängen. Der Luftraum in der Umgebung des Flughafens Frankfurt/Main ist, wie sich auch aus dem Fluglärmreport ergibt, sehr stark durch Flugverkehr belastet. Jede auch kleine Veränderung eines Flugverfahrens wirkt sich zwangsläufig auf die anderen Routen aus. Die jetzigen Verfahren stellen das Ergebnis jahrelanger Auseinandersetzungen in und außerhalb der Fluglärmkommission dar. Die Routen sind auch Gegenstand mehrerer gerichtlicher Verfahren gewesen (vgl. BVerwG, Urteile vom 24.06.2004, 4 C 11.03 - BVerwGE 121, 152 -, sowie 4 C 15.03; Hess. VGH, Urteile vom 12.12.2002 - 2 A 717/01 -, vom 14.03.2006 - 12 A 2659/04 - sowie vom 16.03.2006 - 12 A 3258/04 und 12 A 3260/04 -). Bei dieser Sachlage ist nicht erkennbar, dass das Luftfahrt-Bundesamt dadurch gegen das Abwägungsgebot verstoßen hat, dass es eine weitere Alternative nicht in Betracht gezogen hat. Auch für den Senat ist keine Route ersichtlich, die das Ticona-Werk meidet, ohne sich zugleich erheblich nachteilig auf andere Belange auszuwirken.

Entgegen der Auffassung der Klägerin sind die durch die 212. DVO-LuftVO festgelegten Nordwest-Abflugrouten auch nicht wegen eines Abwägungsausfalls rechtswidrig. Das Luftfahrt-Bundesamt hat zwar auch während des gerichtlichen Verfahrens seinen Rechtsstandpunkt aufrecht erhalten, dass bei der Festsetzung der Flugverfahren Störfallrisiken infolge des Überflugs von Störfallanlagen generell unbeachtlich seien. Gleichwohl hat es - gleichsam hilfsweise - insbesondere während des gerichtlichen Verfahrens deutlich zu erkennen gegeben, dass und aus welchen Gründen es trotz der von der Klägerin geltend gemachten Interessen und vorgeschlagenen Alternativrouten an den festgesetzten Flugverfahren festhält. Die Klägerin hat im gerichtlichen Verfahren ihre Einwendungen gegen die aktuellen Nordwest-Routen dargelegt und drei Varianten vorgeschlagen. Das Luftfahrt-Bundesamt hat die streitigen Routen insbesondere durch die 15. ÄndVO vom 24. Februar 2006 zum Teil umbenannt und neu festgesetzt. Auch mit Erlass der 16. ÄndVO vom 7. Juni 2006 hat es diese Routen - durch Unterlassen einer Änderung - in der Sache bestätigt. Mit diesen Rechtssetzungsakten hat das Luftfahrt-Bundesamt deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es diese Verfahren auch in Kenntnis der Einwendungen und Alternativvorschläge der Klägerin beibehalten will. Da es sich mit diesen Gesichtspunkten im gerichtlichen Verfahren auseinandergesetzt hat, kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass diese Argumente auch für die Beibehaltung der Flugverfahren maßgeblich gewesen sind. Damit ist hinreichend erkennbar, dass das Luftfahrt-Bundesamt die für und gegen die Beibehaltung der Routen streitenden Belange abgewogen hat.

Dass es die Sachargumente im Prozess gleichsam nur hilfsweise vorgetragen und grundsätzlich seine Rechtsauffassung aufrecht erhalten hat, wonach die von der Klägerin geltend gemachten Risikobelange schon vom rechtlichen Ansatz her nicht beachtlich seien, berührt nicht die Rechtmäßigkeit des Abwägungsvorgangs. Diese Verfahrensweise unterliegt weder bei der Ermessensbetätigung noch bei Ausübung der planerischen Gestaltungsfreiheit rechtlichen Bedenken; sie entspricht vielmehr dem Grundsatz der Verfahrensökonomie. Es ist auch kein Anhaltspunkt dafür von der Klägerin vorgebracht worden oder sonst erkennbar, dass diese Verfahrensgrundsätze keine Geltung beanspruchen können, wenn man unterstellt, dass Art. 12 Seveso II-RL anwendbar ist und eine Rechtsposition zu Gunsten der Klägerin zu begründen vermag.

Vor diesem rechtlichen Hintergrund war der Senat nicht gehalten, dem Beweisantrag der Klägerin zu 10) (Bl. IV/914 der Akten) nachzugehen. Es wurde bereits im Zusammenhang mit den einzelnen Alternativen dargelegt, dass die die Entscheidung des Luftfahrt-Bundesamtes tragenden tatsächlichen Umstände ohne weiteres dem Prozessstoff entnommen werden konnten und dass keine weitergehenden Ermittlungen in Bezug auf die nachteiligen Auswirkungen der Alternativen, insbesondere hinsichtlich der Lärmschutzbelange und des Tanklagers in Raunheim, geboten waren. Auch die Sicherheitsrisiken für das Werk der Klägerin können den im Prozess vorgelegten Gutachten hinreichend sicher entnommen werden. Soweit die für die Abwägung maßgeblichen tatsächlichen Umstände bekannt oder ohne weiteres erkennbar sind, bedarf es keiner Ermittlung und deshalb auch keiner Beweiserhebung darüber, ob Ermittlungen stattgefunden haben.

Rechtlich relevant kann in diesem Zusammenhang nur die Frage sein, ob die bekannten Tatsachen ausreichen, um die widerstreitenden Belange angemessen bewerten zu können. In diese Richtung zielt die Behauptung der Klägerin, das Luftfahrt-Bundesamt habe keine "Ermittlungen und Bewertungen" alternativer Flugverfahren vorgenommen. Die Frage aber, ob eine (gebotene) Ermittlung und Beurteilung und damit letztlich eine Abwägung stattgefunden hat, ist keine der Beweisaufnahme zugängliche Sach-, sondern eine Rechtsfrage. Die Entscheidung kann nur im Wege einer umfassenden rechtlichen Bewertung aller Umstände des Falles getroffen werden. Schließlich sind auch die zu dem Beweisantrag zu 10) angegebenen Beweismittel von vornherein untauglich. Auf den Inhalt der Akten zu der 12. bis 16. ÄndVO zur 212. DVO-LuftVO kommt es nicht an, weil sich der Abwägungsvorgang auch aus anderen Umständen ergeben kann und hier auch, wie dargelegt, tatsächlich ergibt. Für die allein entscheidungserhebliche Frage, ob der Sachverhalt ausreichend ermittelt und angemessen bewertet worden ist, kommt es auch nicht auf die subjektive Betrachtung des Leiters der Verwaltungsstelle Flugsicherung des Luftfahrt-Bundesamtes an.

Nach allem würden die durch die 212. DVO-LuftVO festgesetzten Nordwest-Abflugrouten auch dann nicht gegen Art. 12 Seveso II-RL verstoßen, wenn man unterstellt, dass diese Richtlinie überhaupt auf Flugrouten anwendbar ist und die Richtlinie eine Rechtsposition zu Gunsten der Klägerin begründen könnte. Das gilt sowohl für das Abstandsgebot des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso II-RL als auch - erst recht - für das Berücksichtigungsgebot des Art. 12 Abs. 1 Satz 1, das der Klägerin, wenn überhaupt, jedenfalls keine weitergehende Rechtsposition als das Abstandsgebot verleiht. Aus diesen Gründen besteht für den Senat auch keine Veranlassung die Rechtssache wegen der in dem Hilfsantrag formulierten Fragen dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft vorzulegen. Die Vorlage wäre angesichts der Zulassung der Revision auch nicht zweckmäßig.

Im Ergebnis sind die durch die 212. DVO-LuftVO in der Gestalt der 16. ÄndVO festgelegten Nordwest-Abflugrouten auch mit dem nationalen Luftverkehrsrecht vereinbar. Allerdings teilt der Senat nicht die grundsätzliche Rechtsposition der Beklagten und der Beigeladenen, dass bei der Festlegung von Flugverfahren ganz generell Sicherheitsrisiken nicht zu berücksichtigen seien.

Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 24.06.2004, BVerwGE 121, 152, 157 f., sowie Beschluss v. 02.08.2006 - 4 B 69.05 -, juris, Rdnr. 6) anerkannt, dass das Luftfahrt-Bundesamt bei der Festlegung einer Flugroute eine abwägende Entscheidung zu treffen hat, die allerdings strukturell nicht den Anforderungen genügen muss, die im Fach- und Bauplanungsrecht entwickelt worden sind. In welchem Umfang das Luftfahrt-Bundesamt bei der Festlegung von Flugrouten einer Abwägungspflicht unterliegt, "richtet sich nach den gesetzlichen Vorgaben und im Übrigen nach dem rechtsstaatlich für jede Abwägung unabdingbar Gebotenen" (BVerwG, Urteil v. 24.06.2004, a.a.O., S. 157 f.). Als eine das Abwägungsprogramm determinierende Vorschrift zieht das Bundesverwaltungsgericht § 29 Abs. 1 Satz 1 LuftVG heran (a.a.O., S. 158) und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass die Luftfahrtbehörden, also auch das Luftfahrt-Bundesamt, bei der Abwehr von Gefahren für die Sicherheit des Luftverkehrs nicht aus den Augen verlieren dürfen, dass Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auch durch die Luftfahrt drohen können (a.a.O., S. 159). Aus § 29 Abs. 1 Satz 1 LuftVG folgt daher die grundsätzliche Verpflichtung des Luftfahrt-Bundesamtes, bei der Planung von Flugrouten auch eventuelle Gefahren zu beachten, die Störfallanlagen infolge eines Flugzeugabsturzes drohen können.

Dem können die Beklagte und die Beigeladene nicht mit Erfolg entgegenhalten, Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits seien keine Gefahrenlagen, sondern lediglich Risiken. Denn damit ist kein struktureller, sondern ein lediglich gradueller Unterschied angesprochen. Wenn Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in die Abwägung einzustellen sind, gilt das grundsätzlich - wenn auch mit eventuell anderer Gewichtung - für erkennbare Risiken als potenzielle Vorstadien von Gefahrenlagen (vgl. z.B. die Definitionen dieser Begriffe in Art. 3 Nr. 6 Seveso II-RL einerseits und Nr. 7 andererseits), soweit sie nicht nach den Umständen des Falles von vornherein als so gering einzustufen sind, dass sie schon unter diesem Aspekt keine Abwägungserheblichkeit beanspruchen können. Insoweit gilt für Absturzrisiken grundsätzlich nichts anderes als für Lärmschutzbelange, die, soweit sie nicht als geringfügig einzustufen sind, unabhängig davon in die planerische Abwägung einzustellen sind, ob sie die Gesundheitsgefährdungs- oder lediglich die Erheblichkeitsschwelle erreichen. Auch bei Sicherheitsbelangen und Gefahrenlagen können unterschiedliche Abstufungen auch unterschiedliche Anforderungen an die Ermittlung und Bewertung im Rahmen der Abwägung auslösen. Dieser graduelle Unterschied rechtfertigt es aber nicht, Risikobelange ohne konkrete Gefährdungssituation von vornherein aus der Abwägung der für und gegen die Routen sprechenden Belange auszugrenzen.

Um das Institut der planerischen Gestaltungsfreiheit überhaupt von einer schrankenlosen Planungsbefugnis abgrenzen und mit den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips vereinbaren zu können, hat es die Rechtsprechung den Anforderungen des Abwägungsgebots unterworfen. Auch unter diesem Aspekt erscheint es als nicht zulässig, den Belang des Absturzrisikos generell aus dem Abwägungsprozess bei der Festlegung von Flugrouten auszuklammern. Denn diesem Aspekt kann nach Lage der Dinge im Einzelfall ein ganz beachtliches Gewicht zukommen, so dass er auch nicht von vornherein als nicht "rechtsstaatlich unabdingbar" ausgeklammert werden darf.

Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung der Beklagten und der Beigeladenen auch nicht aus § 11 LuftVO. Nach dieser Vorschrift legt das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Luftsperrgebiete und Gebiete mit Flugbeschränkungen fest, wenn dies zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere für die Sicherheit des Luftverkehrs erforderlich ist. Es ist zwar richtig, dass Festsetzungen nach dieser Regelung den Gestaltungsspielraum des Luftfahrt-Bundesamtes eingrenzen. Umgekehrt lässt sich der Vorschrift aber nicht entnehmen, dass Sachverhalte, die Maßnahmen nach § 11 LuftVO rechtfertigen könnten, nicht auch bei der Planung von Flugrouten berücksichtigt werden dürfen. Es besteht keine Kongruenz der Regelungsgegenstände. Während die Anordnung eines Sperrgebiets oder eines Gebiets mit Flugbeschränkungen (z.B. bis zu einer bestimmten Flughöhe) strikt zu beachten ist, erweist sich die Flugroutenführung als flexiblere Lösung, mit der ein Gebiet von Flugverkehr entlastet werden kann, ohne, wegen der zulässigen Abweichungen von der Normallinie, ein striktes Verbot auszusprechen. Der Unterschied besteht insbesondere darin, dass die Festsetzung der Flugroute einzelne Überflüge über ein bestimmtes Gebiet grundsätzlich zulässt, während sie bei einem Sperr- oder Beschränkungsgebiet in jedem Einzelfall ausdrücklich zugelassen werden müssen. Jedenfalls vermag der Senat nicht zu erkennen, dass der Schutz bestimmter Gebiete vor möglichen Risiken ausschließlich durch Maßnahmen nach § 11 LuftVO gewährt werden darf.

Aus der Verpflichtung des Luftfahrt-Bundesamtes, bei der Festlegung von Flugverfahren grundsätzlich auch Sicherheitsrisiken zum Beispiel infolge des Überfliegens von Störfallanlagen zu berücksichtigen, folgt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht die Notwendigkeit, bei der Ausweisung neuer Routen oder der Bestätigung bestehender Routen im Einzelnen zu ermitteln, wie viele Störfallanlagen mit welchem Risikopotenzial und welche sonstigen Betriebe mit ähnlichen Risiken betroffen sind. Auch insoweit gelten die - aus der Natur der Flugroutenplanung folgenden - Einschränkungen in Bezug auf die Ermittlungs- und Kontrolltiefe. Jedenfalls dann, wenn ein Störfallbetrieb in einer geringen Entfernung von der Startbahn überflogen wird und wenn das Sicherheitsrisiko der planenden Behörde infolge von Gutachten bekannt ist, darf sie diesen Aspekt nicht generell aus der Abwägung ausklammern.

Gleichwohl hat die Klage auch mit Blick auf das nationale Luftverkehrsrecht keinen Erfolg. Das Luftfahrt-Bundesamt hat sich unter Wahrung seines Rechtsstandpunktes letztlich mit den Sicherheitsbelangen auch unter Berücksichtigung der Alternativvorschläge auseinandergesetzt. Das ist weder hinsichtlich des Abwägungsergebnisses noch hinsichtlich des Abwägungsvorgangs rechtlich zu beanstanden. Insoweit wird auf die Ausführungen zu Art. 12 Seveso II-RL verwiesen. Aus den luftverkehrsrechtlichen Vorschriften ergeben sich keine strengeren Anforderungen an die Entscheidung des Luftfahrt-Bundesamtes als aus dem Abstandsgebot des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 und dem allgemeinen Berücksichtigungsgebot des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 Seveso II-RL, immer unterstellt, dass diese Vorschrift überhaupt auf die Planung von Flugrouten anwendbar sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3 i.V.m. 162 Abs. 3 VwGO. Die Vollstreckbarkeitserklärung beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.

Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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