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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 12.07.2006
Aktenzeichen: 12 TG 494/06
Rechtsgebiete: ARB 1/80, Richtlinie 2004/38/EG


Vorschriften:

ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1
Richtlinie 2004/38/EG Art. 28
Mit Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) richtet sich der Ausweisungsschutz auch für türkische Staatsangehörige, auf die Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 anzuwenden ist, nach Art. 28 dieser Richtlinie.
HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

12 TG 494/06

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Ausländerrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 12. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Zysk, Richterin am Hess. VGH Thürmer, Richter am Hess. VGH Debus

am 12. Juli 2006 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 9. Februar 2006 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung abgeändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 21. Dezember 2005 wird wiederhergestellt, soweit er sich gegen die Ausweisung richtet, und angeordnet, soweit er sich gegen die Androhung der Abschiebung richtet.

Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Das Aufschubinteresse des Antragstellers überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung seiner Ausweisung. Bei summarischer Prüfung erweist sich die angefochtene Verfügung nach der für die Beschwerdeentscheidung maßgeblichen derzeitigen Sach- und Rechtslage wegen Verstoßes gegen den auch dem Antragsteller zukommenden Ausweisungsschutz, wie ihn die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 vorsieht, als rechtswidrig.

Die angefochtene Verfügung und der mit der Beschwerde angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts legen zutreffend zu Grunde, dass dem Antragsteller die Rechtsstellung aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 zugute kommt. Er ist am 3. Juli 1974 in der Bundesrepublik Deutschland als Kind eines türkischen Arbeitnehmers geboren. Eigenen Angaben zufolge hat er sich zwar von 1975 bis 1986 zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder in der Türkei aufgehalten, danach ist er aber wieder zu seinem Vater nach Deutschland gezogen und hatte dort seit annähernd zwanzig Jahren seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz. Er ist damit assoziationsberechtigt nach Art. 7 Abs. 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 und hat diesen Status auch durch seine drei Jahre währende Inhaftierung nicht wieder verloren.

Aufgrund seiner Rechtsstellung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger genießt der Antragsteller den Ausweisungsschutz nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 und darf danach nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ausgewiesen werden. Da die Vorschriften der Art. 6 bis 16 ARB 1/80 und damit auch Art. 14 Abs. 1 der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familien dienen und sich an Art. 39, 40 und 41 EG orientieren (EuGH, Urteil v. 10.02.2000 - C-340/97 [Nazli] Slg. 2000 I-957), hat der EuGH hierzu in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die im EG-Vertrag verankerten Freizügigkeitsrechte so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer übertragen werden müssen, die eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 besitzen (siehe zuletzt Urteil v. 02.06.2005 - C-138/03 -, DVBl. 2005, 1437; ferner Urteil v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya] DVBl. 2005, 113; vgl. auch Dörig, DVBl. 2005, 1226). Wegen der Übereinstimmung des Wortlauts von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 mit dem des Art. 39 Abs. 3 EG und im Hinblick auf das Ziel der Assoziationsvereinbarung mit der Türkei stellt der EuGH in seiner Rechtsprechung bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Beschränkung von Rechten nach dem Assoziationsbeschluss aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit darauf ab, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern ausgelegt wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es deshalb nahe, den gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz für nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte Türken in gleicher Weise materiell-rechtlich zu begründen und auszugestalten wie für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger (BVerwG, Urteil v. 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, InfAuslR 2005, 26). Dementsprechend haben der EuGH und das Bundesverwaltungsgericht die konkreten Einzelheiten des Ausweisungsrechts aus der Richtlinie 64/221 als Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG hergeleitet (Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung, Berücksichtigung neuer Umstände und weitere Behördenentscheidung).

Mit der Richtlinie 2004/38/EG ist - unter Aufhebung früherer Richtlinien - die Einschränkbarkeit der Freizügigkeit durch Ausweisungen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene für Unionsbürger weiter ausgestaltet bzw. konkretisiert worden. So ist den Begründungserwägungen zu entnehmen, dass mit der Richtlinie auch das Ziel verfolgt wird, die Umstände genauer zu definieren, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen ausgewiesen werden können (Erwägung 22). Die Wirkung derartiger Maßnahmen soll gemäß dem Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt werden, damit der Grad der Integration der Betroffenen, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedsstaat, Alter, Gesundheitszustand, die familiäre und wirtschaftliche Situation und die Bindungen zum Herkunftsstaat berücksichtigt werden können (Erwägung 23).

Mit Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG in nationales Recht am 30. April 2006 (Art. 40 Abs. 1 der RL) gilt diese unmittelbar, und die Einzelheiten des Ausweisungsschutzes richten sich nunmehr nach Art. 28 dieser Richtlinie als weiterer Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG. Art. 28 der Richtlinie sieht einen gestuften Schutz vor Ausweisung vor; nach Art. 28 Abs. 2 darf der Aufnahmemitgliedstaat gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen. Demgegenüber darf nach Art. 28 Abs. 3 gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben (lit. a) oder minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig (lit. b).

Nach dem Verständnis des Richtliniengebers und bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des EuGH und diesem folgend des Bundesverwaltungsgerichts stellt die Richtlinie 2004/38/EG eine weitere Konkretisierung und Ausgestaltung von Art. 39 Abs. 3 EG dar. Was die vom Senat in seinen Entscheidungen vom 29. Dezember 2004 (Hess. VGH, Beschluss v. 29.12.2004 - 12 TG 3649/04 -, DVBl. 2005, 320) und vom 2. Mai 2005 (Hess. VGH, Beschluss v. 02.05.2005 - 12 TG 1205/05 -, InfAuslR 2005, 295) gemachte Aussage betrifft, die in Art. 28 der Richtlinie getroffenen Regelungen gingen nicht über die Freizügigkeitsgewährleistungen aus dem EG-Vertrag hinaus und entsprächen dem gemeinschaftsrechtlichen Stand des Freizügigkeitsrechts, ist zur Klarstellung auf Folgendes hinzuweisen: Nach Art. 40 EG trifft der Rat durch Richtlinien und Verordnungen alle erforderlichen Maßnahmen, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Sinne des Art. 39 EG herzustellen. Die Richtlinie 2004/38/EG ist ausweislich der Präambel unter anderem auch auf die Ermächtigung in Art. 40 EG gestützt. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Rat mit der Richtlinie 2004/38/EG über seine Befugnisse aus Art. 40 EG hinausgegangen ist. Dies hat der EuGH auch in seiner bisherigen Rechtsprechung zur Freizügigkeitsgewährleistung nicht angenommen, obwohl manche Konkretisierung bzw. Ausgestaltung der Freizügigkeitsgewährleistung im verfahrensrechtlichen Bereich wie etwa das "Vier-Augen-Prinzip" in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221 weniger nahe liegend aus Art. 39 EG bzw. dem früheren Art. 48 ableitbar erscheinen als die nach der Dauer des Aufenthalts gestuften Ausweisungseinschränkungen in Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG.

Der EuGH hat auch die Ausgestaltungen und Konkretisierungen der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 10 der VO 1612/68 (Urteil v. 30.09.2004 - C-275/02 - [Ayaz]) oder in Art. 3 der Richtlinie 64/221 (Urteil v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya]; DVBl. 2005, 103 oder in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG (Urteil v. 02.06.2005 - C-163/03 - [Dörr und Ünal], InfAuslR 2005, 289) ebenfalls auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige übertragen. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich dem angeschlossen und spricht von einer Konkretisierung der Freizügigkeitsgewährleistung durch Richtlinien der EU, die deshalb auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anzuwenden seien (BVerwG, Urteil v. 03.08.2004, a.a.O.).

Es sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass dies bei der Richtlinie 2004/38/EG anders zu sehen sein könnte. Vielmehr erscheint die "Stufenfolge" der Ausweisungseinschränkungen, die Art. 28 vorsieht, das Erfordernis von schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bei Daueraufenthaltsberechtigten (Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie) und das grundsätzliche Ausweisungsverbot unter anderem nach zehnjährigem Aufenthalt mit der Möglichkeit der Ausnahme bei zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit (Art. 28 Abs. 3 lit. a) als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nahe liegender und zwangloser aus Art. 39 Abs. 3 EG und der Ermächtigung in Art. 40 EG ableitbar als etwa die oben erwähnten verfahrensrechtlichen Konkretisierungen. Dem tragen die von der Vorinstanz in Bezug genommenen Entscheidungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschluss v. 05.10.2005 - 11 ME 247/05 - juris; Beschluss v. 06.06.2005 - 11 ME 39/05 -, NVwZ-RR 2005, 654), das eine gegenteilige Auffassung vertritt, nicht hinreichend Rechnung.

Hat sich der Ausweisungsschutz des Antragstellers damit an Art. 28 Abs. 3 lit. a der Richtlinie zu orientieren, dessen Regelung wegen des mehr als zehnjährigen Aufenthalts des Antragstellers auf ihn anzuwenden ist, so kann seine Ausweisung nur noch aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erfolgen. Aus den in der Richtlinie verwendeten Begriffen der schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit und der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit lässt sich der Schluss ziehen, dass mit dem letzteren Begriff eine über die schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit hinausgehende Voraussetzung für eine zulässige Ausweisung vorliegen muss. Für eine solche besondere Rechtfertigung ist entgegen den Ausführungen des Antragsgegners vorliegend nichts erkennbar.

Es bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung darüber, wie der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit im Einzelnen zu definieren ist. Hier rechtfertigt das Verhalten des Antragstellers jedenfalls nicht den Schluss, dass seine weitere Anwesenheit im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit mehr als schwerwiegend beeinträchtigt. Zwar hat er bei der seiner Verurteilung zugrunde liegenden Straftat das Opfer aus nichtigem Anlass rücksichtslos angegriffen und es besteht nach der Begutachtung auch eine gewisse Rückfallgefahr, es handelt sich aber andererseits bei der vom Antragsteller verbüßten dreijährigen Freiheitsstrafe um seine erstmalige Verurteilung, die auch der Höhe des Strafmaßes nach nicht über die "schwerwiegenden Gründe" hinausreichen dürfte (nach dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 13.03.2006 und dort nach Art. 2 zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU können zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde oder wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.).

Die Entscheidungen über die Kosten und den Streitwert des Beschwerdeverfahrens ergeben sich aus § 154 Abs. 2 VwGO und §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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