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Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 15.03.2001
Aktenzeichen: 12 TZ 3667/00
Rechtsgebiete: AuslG


Vorschriften:

AuslG § 49 Abs. 1
AuslG § 55 Abs. 2
AuslG § 92 Abs. 1
1. Die Ausländerbehörde ist verpflichtet, einen ausreisepflichtigen Ausländer entweder unverzüglich abzuschieben oder ihm, falls die Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist, eine Duldung zu erteilen.

2. Sieht sich die Ausländerbehörde aus Kapazitätsgründen zur Abschiebung nicht im Stande, ist diese tatsächlich unmöglich mit der Folge, dass nur die Erteilung einer Duldung im Einklang mit Gesetz und den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz steht.


Gründe:

Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist er fristgerecht gestellt und begründet worden (§ 146 Abs. 5 VwGO).

Der Antrag ist auch begründet; denn mit ihm ist zu Recht geltend gemacht, dass die Beschwerde gemäß § 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuzulassen ist. Die mit dem Zulassungsantrag geltend gemachte Divergenz liegt vor.

Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuzulassen, wenn der verwaltungsgerichtliche Beschluss von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Die Divergenzrüge kann im Hinblick auf die Funktion des Rechtsmittels der Beschwerde und die Aufgaben der Beschwerdeinstanz (vgl. zum Asylverfahren: BVerwG, 31.07.1984 - 9 C 46.84 -, BVerwGE 70, 24 = EZAR 633 Nr. 9; Hess. VGH, 27.12.1982 - X TE 29/82 -, EZAR 633 Nr. 4 = NVwZ 1983, 237) sowohl rechtliche als auch tatsächliche Fragenbereiche betreffen (BVerwG, a.a.O.; Hess. VGH, 18.02.1985 - 10 TE 263/83 -). Dabei setzt eine die Beschwerdezulassung rechtfertigende Divergenz im rechtlichen Bereich voraus, dass der verwaltungsgerichtliche Beschluss bei objektiver Betrachtung von einem Rechtssatz abweicht, den z. B. das Bundesverwaltungsgericht aufgestellt hat. Erforderlich ist hierfür nicht, dass die Abweichung bewusst oder gar vorsätzlich erfolgt; es genügt vielmehr ein Abgehen von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in der Weise, dass das Verwaltungsgericht dem Beschluss erkennbar eine Rechtsauffassung zugrunde legt, die einem vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Rechtssatz widerspricht (Hess. VGH, 10.07.1986 - 10 TE 641/86 -; Hess. VGH, 14.10.1987 - 12 TE 1770/84 -, EZAR 633 Nr. 13). Andererseits kann eine zur Beschwerdezulassung führende Abweichung dann nicht festgestellt werden, wenn das Verwaltungsgericht gegen vom Bundesverwaltungsgericht vertretene Grundsätze verstößt, indem es diese stillschweigend übergeht oder sie übersieht (vgl. dazu BVerwG, 23.08.1976 - III B 2.76 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 147), den Sachverhalt nicht in dem erforderlichen Umfang aufklärt, eine rechtlich gebotene Prüfung tatsächlicher Art unterlässt (Hess. VGH, 15.02.1995 - 12 UZ 191/95 -, EZAR 633 Nr. 25 = AuAS 1995, 127) oder den festgestellten Sachverhalt fehlerhaft würdigt (vgl. dazu BVerwG, 17.01.1975 - VI CB 133.74 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 128) und damit Rechtsgrundsätze des Bundesverwaltungsgerichts unzutreffend auslegt oder anwendet; denn nicht jeder Rechtsverstoß in der Form einer unzutreffenden Auslegung oder Anwendung von Rechtsgrundsätzen gefährdet die Einheit der Rechtsprechung, die durch die Vorschrift des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG (ähnlich wie durch die Vorschrift des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO über die Divergenzrevision) gesichert werden soll (vgl. Hess. VGH, 14.10.1987 - 12 TE 1770/84 -, EZAR 633 Nr. 13 m.w.N.). Die Divergenzzulassung setzt voraus, dass der erstinstanzliche Beschluss auf der festgestellten Abweichung beruht. Sie kann aber nicht mit der Begründung versagt werden, der Beschluss erweise sich aus anderen Gründen als richtig (a. A. OVG Nordrhein-Westfalen, 05.11.1991 - 22 A 3120/91 A -, EZAR 633 Nr. 18); für die Beschwerdezulassung fehlt nämlich eine dem § 144 Abs. 4 VwGO vergleichbare Vorschrift (Hess. VGH, 12.06.1995 - 12 UZ 1178/95 -; Hess. VGH, 20.12.1993 - 12 UZ 1635/93 -; vgl. dazu Kopp, VwGO, 9. Aufl., 1992, Rdnr. 19 zu § 132).

Wie die Antragsteller zu Recht geltend machen, weicht der angegriffene Beschluss von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. März 2000 - 1 C 23.99 - (EZAR 045 Nr. 12 = NVwZ 2000, 938) ab und beruht hierauf. In diesem Revisionsurteil ist unter anderem ausgeführt, für die Erteilung einer Duldung sei allein maßgeblich, ob der Abschiebung tatsächlich Hindernisse entgegenstehen, die es der Ausländerbehörde unmöglich machten, ihrer Abschiebeverpflichtung nachzukommen; das Ausländergesetz lasse keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt. Die Antragsteller berufen sich zu Recht darauf, dass das Bundesverwaltungsgericht dort unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 25. September 1997 - 1 C 3.97 - (BVerwGE 105, 232 = EZAR 045 Nr. 7 = NVwZ 1998, 297) ausgeführt hat, die Systematik des Ausländergesetzes lasse grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt, vielmehr gehe das Gesetz davon aus, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben werde oder zumindest eine Duldung erhalte. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb einer förmlichen Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben werde, sehe das Gesetz nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung der Ablehnung vorläufigen Rechtsschutzes ausgeführt, einer freiwilligen Ausreise oder Abschiebung der Antragsteller stehe offensichtlich weder ein rechtliches noch ein tatsächliches Abschiebungshindernis entgegen, nach Auskunft der georgischen Behörden gegenüber der Ausländerbehörde könne unabhängig von der Frage der Entlassung aus der georgischen Staatsangehörigkeit und eines fehlenden georgischen Passes eine Rückübernahme in den georgischen Staatsverband ohne Probleme erfolgen und Gegenteiliges hätten die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Wie die Antragsgegnerin in dem Schriftsatz vom 9. Februar 2000 erklärt hat, beruht der Umstand, dass die Antragsteller bisher nicht abgeschoben worden sind, allein darauf, dass die Antragsgegnerin wegen der Vielzahl der in ihrem Zuständigkeitsbereich zu vollziehenden Fälle bisher noch nicht in der Lage war, die notwendigen Vollstreckungsmaßnahmen zu ergreifen. Unter diesen auch dem Verwaltungsgericht bekannten Umständen weicht der angegriffene Beschluss objektiv von den zitierten Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts ab, wonach es Raum für einen ungeregelten Aufenthalt außerhalb von Aufenthaltsgenehmigungen und Duldungen nicht gibt und ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält. Aus welchen Gründen ein ausreisepflichtiger Ausländer tatsächlich nicht abgeschoben wird, ist danach unerheblich. Das Gesetz sieht es nicht vor, dass der Aufenthalt eines ausreisepflichtigen Ausländers tatsächlich hingenommen und die Vollstreckung der Ausreisepflicht nicht betrieben wird, ohne dass eine förmliche Duldung erteilt wird. Genauso verhält sich aber die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin, wenn sie die Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen gegenüber den Antragstellern aus Gründen der Überlastung unterlässt. Wenn eine Ausländerbehörde aus von ihr und der hinter ihr stehenden Körperschaft zu vertretenden Gründen eine Abschiebung tatsächlich nicht vornimmt, handelt es sich um eine tatsächliche Unmöglichkeit im Sinne von § 55 Abs. 2 AuslG, die die Ausländerbehörde zur Erteilung einer Duldung von Rechts wegen verpflichtet. Dabei ist auch zu bedenken, dass andernfalls allein Personalmangel bei der Ausländerbehörde zur Kriminalisierung der Antragsteller (vgl. § 92 Abs. 1 AuslG) führen würde.

Dieses Ergebnis folgt nicht nur aus dem eindeutigen Wortlaut des § 55 Abs. 2 AuslG, wonach einem Ausländer eine Duldung erteilt "wird", solange seine Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist, und aus der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, sondern wird auch durch die für die Ausländerbehörden verbindlichen Bestimmungen der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz vom 28. Juni 2000 (GMBl. 618; BAnz. Nr. 188a - AuslG - VwV) bestätigt. Nach Nr. 55.2.1 AuslG VwV "muss eine Duldung erteilt werden", wenn - unter anderem - die Abschiebung eines Ausländers aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist, beispielsweise im Falle fortdauernder Passlosigkeit, wenn nach den Erfahrungen der Ausländerbehörde eine Abschiebung ohne Pass oder deutschen Passersatz nicht möglich ist oder ein Abschiebungsversuch gescheitert ist oder wenn es sich um einen Staatenlosen oder einen anderen Ausländer handelt, dessen Aufnahme der Herkunftsstaat zum Beispiel nach einem erfolglosen Abschiebungsversuch verweigert hat (Nr. 55.2.1.2.2 und Nr. 55.2.1.2.5 AuslG VwVO). Diese Beispielsfälle für die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung verdeutlichen, dass die Ausländerbehörde in erster Linie ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachzukommen hat, einen ausreisepflichtigen Ausländer bei Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht abzuschieben (§ 49 Abs. 1 AuslG) und, wenn alle Voraussetzungen für die Abschiebung wie im vorliegenden Fall vorliegen, die Abschiebung nur durch Erteilung einer Duldung oder bei Vorliegen einer richterlichen Anordnung aussetzen darf (Nr. 49.1.1.2 AuslG VwVO) und im Falle von Passlosigkeit und Staatenlosigkeit entweder über allgemeine Erfahrungen mit der Abschiebung in vergleichbaren Fällen verfügen oder einen Abschiebungsversuch unternehmen muss. Eine dritte Möglichkeit lassen das Gesetz und die Verwaltungsvorschrift nicht zu. Insbesondere ist nicht vorgesehen, dass einerseits infolge personeller Mängel oder aus anderen Gründen die Verpflichtung zur unverzüglichen Abschiebung vernachlässigt und andererseits dem abzuschiebenden Ausländer die ihm gesetzlich zustehende Duldung vorenthalten wird.

Das Verfahren wird gemäß § 124 Abs. 2 Satz 4 VwGO als Beschwerdeverfahren fortgesetzt, ohne dass es der Einlegung einer Beschwerde bedarf.

Die Entscheidung über die Kosten des Antragsverfahrens folgt der künftigen Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren.

Die Entscheidung über den Streitwert des Antragsverfahrens beruht auf §§ 13 Abs. 1, 20 Abs. 3 GKG analog.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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