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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 12.09.2002
Aktenzeichen: 12 UZ 1944/02.A
Rechtsgebiete: AsylVfG


Vorschriften:

AsylVfG § 78 Abs. 4 Satz 4
In der Begründung eines auf Divergenz gestützten Zulassungsantrags muss sowohl die gerügte Abweichung durch Gegenüberstellung der einander widersprechenden Grundsätze in der angefochtenen und in der in Bezug genommenen Entscheidung genau bezeichnet als auch dargelegt werden, dass das angegriffene Urteil auf der behaupteten Abweichung beruht.
Hessischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss

12. Senat

12 UZ 1944/02.A

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Asylrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 12. Senat - durch Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Renner, Richterin am Hess. VGH Thürmer, Richter am VG Walther (abgeordneter Richter)

am 12. September 2002 beschlossen:

Tenor:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 28. Mai 2002 wird verworfen.

Die Beklagte hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

Der bei sachgemäßer Auslegung allein gegen die Klagestattgabe gerichtete und allein auf § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG gestützte Zulassungsantrag ist als unzulässig zu verwerfen; denn mit ihm ist ein Grund, der gemäß § 78 Abs. 3 AsylVfG die Zulassung der Berufung rechtfertigen kann, nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG entsprechend dargetan.

In Asylrechtsstreitigkeiten ist die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG zuzulassen, wenn das verwaltungsgerichtliche Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Die Divergenzrüge kann im Hinblick auf die Funktion des Rechtsmittels der Berufung und die Aufgaben der Berufungsinstanz gerade in Asylstreitigkeiten - ähnlich wie die grundsätzliche Bedeutung bei der Grundsatzberufung im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG (vgl. dazu: BVerwG, 31.07.1984 - 9 C 46.84 -, BVerwGE 70, 24 = EZAR 633 Nr. 9; Hess. VGH, 27.12.1982 - X TE 29/82 -, EZAR 633 Nr. 4 = NVwZ 1983, 237) - sowohl rechtliche als auch tatsächliche Fragenbereiche betreffen (BVerwG, a.a.O.; Hess. VGH, 18.02.1985 - 10 TE 263/83 -). Dabei setzt eine die Berufungszulassung rechtfertigende Divergenz im rechtlichen Bereich voraus, dass das verwaltungsgerichtliche Urteil bei objektiver Betrachtung von einem Rechtssatz abweicht, den z. B. das Bundesverwaltungsgericht aufgestellt hat. Erforderlich ist hierfür nicht, dass die Abweichung bewusst oder gar vorsätzlich erfolgt; es genügt vielmehr ein Abgehen von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in der Weise, dass das Verwaltungsgericht dem Urteil erkennbar eine Rechtsauffassung zugrunde legt, die einem vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Rechtssatz widerspricht (Hess. VGH, 10.07.1986 - 10 TE 641/86 -; Hess. VGH, 14.10.1987 - 12 TE 1770/84 -, EZAR 633 Nr. 13). Andererseits kann eine zur Berufungszulassung führende Abweichung dann nicht festgestellt werden, wenn das Verwaltungsgericht gegen vom Bundesverwaltungsgericht vertretene Grundsätze verstößt, indem es diese stillschweigend übergeht oder sie übersieht (vgl. dazu BVerwG, 23.08.1976 - III B 2.76 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 147), den Sachverhalt nicht in dem erforderlichen Umfang aufklärt, eine rechtlich gebotene Prüfung tatsächlicher Art unterlässt (Hess. VGH, 15.02.1995 - 12 UZ 191/95 -, EZAR 633 Nr. 25 = AuAS 1995, 127) oder den festgestellten Sachverhalt fehlerhaft würdigt (vgl. dazu BVerwG, 17.01.1975 - VI CB 133.74 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 128) und damit Rechtsgrundsätze des Bundesverwaltungsgerichts unzutreffend auslegt oder anwendet; denn nicht jeder Rechtsverstoß in der Form einer unzutreffenden Auslegung oder Anwendung von Rechtsgrundsätzen gefährdet die Einheit der Rechtsprechung, die durch die Vorschrift des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG (ähnlich wie durch die Vorschrift des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO über die Divergenzrevision) gesichert werden soll (vgl. Hess. VGH, 14.10.1987 - 12 TE 1770/84 -, EZAR 633 Nr. 13 m.w.N.). Die Divergenzzulassung setzt voraus, dass das erstinstanzliche Urteil auf der festgestellten Abweichung beruht. Sie kann aber nicht mit der Begründung versagt werden, das Urteil erweise sich aus anderen Gründen als richtig (a. A. OVG Nordrhein-Westfalen, 05.11.1991 - 22 A 3120/91 A -, EZAR 633 Nr. 18); für die Berufungszulassung fehlt nämlich eine dem § 144 Abs. 4 VwGO vergleichbare Vorschrift (Hess. VGH, 12.06.1995 - 12 UZ 1178/95 -; Hess. VGH, 20.12.1993 - 12 UZ 1635/93 -; vgl. dazu Kopp, VwGO, 9. Aufl., 1992, Rdnr. 19 zu § 132).

Die Beklagte hat diese Voraussetzungen der Divergenzzulassung nicht ordnungsgemäß dargelegt. Es fehlt in der Zulassungsschrift sowohl an einer ausreichenden Darstellung der Abweichung als auch an Ausführungen darüber, dass das angegriffene Urteil auf der behaupteten Divergenz beruht. Die Anforderungen an die Darlegung von Zulassungsgründen aufgrund von § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dürfen zwar nicht in der Weise überspannt werden, dass die Beschreitung des Rechtswegs in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (BVerfG-Kammer, 07.11.1994 - 2 BvR 1375/94 -, NVwZ-Beil. 1995, 9 = DVBl. 1995, 36 = InfAuslR 1995, 126 m.w.N.); auf die ordnungsgemäße Darlegung der Divergenz kann aber auch dann nicht verzichtet werden, wenn sie einem Kundigen ohne Weiteres deutlich ist (OVG Hamburg, 02.12.1997 - Bs VI 158/96 -; vgl. dazu auch Hess. VGH, 12.06.1995 - 12 UZ 1178/95 -, EZAR 631 Nr. 39). Das Darlegungsgebot des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG verlangt auch einen deutlichen Hinweis darauf, ob eine Divergenz in tatsächlicher oder in rechtlicher Hinsicht geltend gemacht wird (Hess. VGH, 18.02.1999 - 9 UZ 968/98.A -). In dem Zulassungsantrag müssen die einander widersprechenden Grundsätze in der angefochtenen Entscheidung einerseits und in der Entscheidung eines divergenzfähigen Gerichts andererseits eindeutig bezeichnet und wiedergegeben werden (Thüringer OVG, 08.03.2000 - 3 ZKO 78/98 -, ThürVGRspr. 2000, 159; ähnlich OVG Hamburg, 01.07.1998 - 4 Bf 337/98.A -; Sächsisches OVG, 29.03.1999 - A 4 S 202/98 -, SächsVBl. 2000, 39). Schließlich gehört zur ordnungsgemäßen Rüge einer Divergenz jedenfalls grundsätzlich die substantiierte Darlegung, dass die angegriffene Entscheidung auf der gerügten Abweichung von einem abstrakten Grundsatz in der in Bezug genommenen Entscheidung eines divergenzfähigen Gerichts beruht (Hess. VGH, 21.03.2000 - 12 UZ 4014/99.A -, EZAR 633 Nr. 39 = NVwZ 2000, 1433).

Zutreffend legt die Beklagte ihrer Rüge die Feststellung des Verwaltungsgerichts zugrunde, dass die "Quasi-Sippenhaft" in der Türkei ein weit verbreitetes Mittel der Einschüchterung und Bestrafung von Angehörigen Gesuchter oder Verurteilter sei. Dabei kann im Zulassungsverfahren vernachlässigt werden, dass das Verwaltungsgericht vorangehend festgestellt hat, dass die Kläger zu 1. und 2. wegen der Verwandtschaft mit zwei Brüdern des Klägers zu 2. "bzw. wegen eigener politischer Betätigung (der Kläger zu 2.) in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind", und damit unklar bleibt, ob der Kläger zu 2. nach Auffassung des Verwaltungsgerichts zumindestens auch wegen eigener politischer Betätigung Verfolgungsmaßnahmen zu erwarten hat. Es kommt für die Abweichungsrüge der Beklagten auch nicht darauf an, dass das Verwaltungsgericht seine Aussage über die Quasi-Sippenhaft in der Türkei nicht weiter begründet und vor allem auch nicht durch einen Hinweis auf Erkenntnisquellen oder Gerichtsurteile belegt hat. Ein darin unter Umständen zu erblickender Begründungsmangel ist von der Beklagten nicht gerügt worden.

Während danach ein Verfolgungstatsachen betreffender Grundsatz des verwaltungsgerichtlichen Urteils ordnungsgemäß benannt ist, fehlt es an einer ausreichenden Darlegung entsprechender Grundsätze in den von der Beklagten benannten Urteilen des beschließenden Senats vom 28. Mai 2001 (12 UE 2104/99.A) und vom 13. Dezember 1999 (12 UE 3035/97.A und 12 UE 2984/97.A). In diesen Entscheidungen ist entgegen der Darstellung der Beklagten kein Grundsatz des Inhalts aufgestellt, dass Asylantragstellung, -anerkennung und -verfahren von nahen Verwandten für ein Verfolgungsrisiko unter Sippenhaftsgesichtspunkten ohne Bedeutung seien; dort ist vielmehr unter Auswertung zahlreicher Erkenntnisquellen mit keineswegs vollständig übereinstimmendem Inhalt im Einzelnen näher begründet, dass es ein Institut der Sippenhaft in der Türkei nicht gibt, dass es aber tatsächlich vereinzelt unter den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu Übergriffen auf engere Familienangehörige von Personen kommt, die wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK in der Türkei gesucht werden. Ausgangspunkt dieser grundsätzlichen, aber keineswegs eindeutig im Sinne der Beklagten ablehnenden Aussage über sippenhaftsähnliche Verhältnisse in der Türkei ist die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellte Vermutung für Repressalien gegenüber Ehefrauen oder nahen Angehörigen politisch Verfolgter (BVerwG, 02.07.1985 - 9 C 35.84 -, EZAR 204 Nr. 2 = InfAuslR 1985, 274; kritische Anmerkung Bell, ZAR 1986, 188), deren Eingreifen das OVG Nordrhein-Westfalen auch für den Fall der Türkei bejaht hat (OVG Nordrhein-Westfalen, 29.09.1992 - 18 A 10239/90 -, InfAuslR 1993, 113). Nach alledem ist von der Beklagten eine grundsätzliche Aussage tatsächlicher Art über sippenhaftähnliche Verfolgung in der Türkei in den erwähnten Senatsurteilen nicht ordnungsgemäß dargestellt. Hierzu hätte es einer näheren Begründung bedurft, insbesondere auch Ausführungen dazu, dass die von dem beschließenden Senat in Einzelfällen für möglich gehaltenen und in der Vergangenheit auch schon festgestellten sippenhaftähnlichen Übergriffe ihre Grundlage nicht in den asylverfahrensrechtlichen Verhältnissen von nahen Verwandten politisch Verfolgter hatten, sondern in deren politischer Betätigung in der Türkei oder in Deutschland. So hat im Übrigen auch das Verwaltungsgericht darauf abgestellt, dass engste Verwandte der Kläger zu 1. und 2. in der Türkei wegen ihrer politischen Betätigung zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden seien.

Schließlich muss der Zulassungsantrag auch deswegen scheitern, weil in keiner Weise dargelegt ist, dass das angegriffene Urteil auf der behaupteten Abweichung von Entscheidungen des Senats beruht. Angaben hierzu sind unerlässlich, weil die Divergenzzulassung die Einheitlichkeit der Rechtsprechung sichern soll und Gefahren für die Rechtseinheit dann nicht bestehen, wenn eine Entscheidung nicht auf einer festgestellten Divergenz beruht.

Die Entscheidungen über die Kosten des Antragsverfahrens beruhen auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b Abs. 1 AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).

Ende der Entscheidung

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