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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 28.05.2003
Aktenzeichen: 12 UZ 2805/02.A
Rechtsgebiete: AsylVfG, AuslG


Vorschriften:

AsylVfG § 73 Abs. 1
AuslG § 43 Abs. 1
1. Die Unzumutbarkeit der Rückkehr in den Heimatstaat ist beim Widerruf der Asylanerkennung wegen Wegfalls der Verfolgungsgefahr gesondert zu prüfen.

2. Diese Prüfung erübrigt sich auch nicht nach der Ablehnung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG.

3. Hohes Lebensalter, Krankheit und Erwerbsunfähigkeit sowie darauf beruhende Reintegrationsschwierigkeiten eines Asylberechtigten sind nach dem Widerruf der Anerkennung zumindest im Rahmen des Widerrufs der Aufenthaltsgenehmigung zu berücksichtigen.


Hessischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss

12. Senat 12 UZ 2805/02.A

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Asylrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 12. Senat - durch Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Prof. Dr. Renner, Richterin am Hess. VGH Thürmer, Richter am Hess. VGH Dr. Dieterich

am 28. Mai 2003 beschlossen:

Tenor:

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 11. September 2002 wird abgelehnt.

Die Kläger haben die Kosten des Antragsverfahrens je zur Hälfte zu tragen; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

Der Antrag ist zulässig (§ 78 Abs. 4 Sätze 1 bis 4 AsylVfG), aber nicht begründet; denn mit ihm ist ein Grund, der gemäß § 78 Abs. 3 AsylVfG die Zulassung der Berufung rechtfertigen kann, nicht dargetan.

Der Rechtssache kommt die ihr mit dem Zulassungsantrag beigelegte grundsätzliche Bedeutung nicht zu. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG hat eine Rechtsstreitigkeit nur dann, wenn sie eine rechtliche oder eine tatsächliche Frage aufwirft, die für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich ist und über den Einzelfall hinaus im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung einer Klärung bedarf (BVerwG, 31.07.1984 - 9 C 46.84 -, BVerwGE 70, 24 = EZAR 633 Nr. 9; Hess. VGH, 27.12.1982 - X TE 29/82 -, EZAR 633 Nr. 4 = NVwZ 1983, 237; Hess. VGH, 14.10.1987 - 12 TE 1770/84 -, EZAR 633 Nr. 13). Die Rechts- oder Tatsachenfrage muss allgemein klärungsbedürftig sein und nach Zulassung der Berufung anhand des zugrundeliegenden Falls mittels verallgemeinerungsfähiger Aussagen geklärt werden können (Hess. VGH 30.05.1997 - 12 UZ 4900/96.A -, EZAR 633 Nr. 30 = FamRZ 1999, 1267).

Entgegen der Auffassung der Kläger bedarf es keiner grundsätzlichen Klärung, unter welchen Voraussetzungen wegen zwingender Gründe im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG von einem Widerruf der Asylanerkennung abzusehen ist.

Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen, und nach § 73 Abs. 1 Satz 3 ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in einen Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Nach diesem Gesetzeswortlaut ist einerseits der Widerruf bei Fortfall der Voraussetzungen für die Asyl- und die Flüchtlingsanerkennung zwingend vorgeschrieben, andererseits aber unzulässig und damit ausgeschlossen bei Vorliegen zwingender verfolgungsbedingter Gründe für die Ablehnung der Rückkehr in den Herkunftsstaat. Hinsichtlich des Asylgrundrechts konkretisiert die Widerrufsverpflichtung auf der Ebene des einfachen Rechts lediglich den Inhalt des Asylgrundrechts, dass politisch Verfolgte Asyl nur so lange genießen, als sie politisch verfolgt sind (BVerwG, 24.11.1992 - 9 C 3.92 -, EZAR 214 Nr. 3 = Buchholz 402. 25 § 73 AsylVfG 1992 Nr. 1). Unter diesen Umständen enthält die Vorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG eine über den Kernbereich des Asylgrundrechts hinausgehende humanitär orientierte Zumutbarkeitsklausel für diejenigen Fälle, in denen die Schwere der Vorverfolgung und die dabei verursachten Beeinträchtigungen trotz Änderung der Verhältnisse und des Zeitablaufs eine Rückkehr unzumutbar erscheinen lassen (vgl. dazu Hailbronner, Ausländerrecht, § 73 AsylVfG Rdnr. 9; Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., 1999, § 73 AsylVfG Rdnr. 11 bis 13). Hinsichtlich der Flüchtlingsanerkennung ist zu berücksichtigen, dass ein ausländischer Flüchtling nicht mehr unter die Bestimmungen des Abschnitts A der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) fällt, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, dass diese Bestimmung aber auf keinen Flüchtling im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Nr. 1 GK Anwendung findet, der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (Art. 1 Abschnitt C Nr. 5 GK). Danach können sich auf die Unzumutbarkeit einer Rückkehr nach Fortfall der Verfolgungsgefahr also lediglich so genannte statutäre Flüchtlinge berufen, nicht jedoch Flüchtlinge im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Nr. 2 GK wie die Kläger (ebenso UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung zur Flüchtlingseigenschaft, 1993, S. 37 Nr. 136; ebenso UNHCR, Nr. 20 der Richtlinien zum Internationalen Schutz: "Wegfall der Umständeklauseln" vom 10.02.2003, auszugsweise in ZAR 2003, 205). Nach Meinung von UNHCR ist diese Ausnahmeregelung jedoch Ausdruck eines weiterreichenden humanitären Grundsatzes, der auch auf andere als statutäre Flüchtlinge angewendet werden könnte (a.a.O. S. 37 Nr. 136 und Nr. 20 der genannten Richtlinien). Nach alledem unterliegt es aufgrund des Wortlauts von § 73 Abs. 1 Sätze 1 und 3 AsylVfG und der Auslegung in Rechtsprechung und Schrifttum keinen ernsthaften Zweifeln, dass der Widerruf der Asyl- und der Flüchtlingsanerkennung bei festgestellter Unzumutbarkeit der Rückkehr ausgeschlossen ist und diese neben der Frage des Wegfalls der Anerkennungsvoraussetzung eine gesonderte Überprüfung erfordert, obwohl weder das Asylgrundrecht noch die Genfer Flüchtlingskonvention eine derartige Zumutbarkeitsprüfung zwingend vorschreiben.

Daher bedarf die von den Klägern aufgeworfene Rechtsfrage keiner grundsätzlichen Klärung in einem Berufungsverfahren, obwohl weder der Widerrufsbescheid des Bundesamts vom 13. Januar 1998 noch das verwaltungsgerichtliche Urteil vom 11. September 2002 erkennen lassen, dass die Ausschlussvorschrift des § 73 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG geprüft worden ist. Eine derartige Überprüfung war nicht etwa wegen der Besonderheiten des vorliegenden Falles überflüssig. Mit dem angefochtenen Bescheid war die Asylanerkennung vom 14. Mai 1987 widerrufen und festgestellt worden, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen. Die Kläger hatten sich im Anhörungsverfahren unter dem 30. September 1997 und darauf Bezug nehmend im Klageverfahren mit Schriftsatz vom 20. Januar 2000 unter anderem darauf berufen, sie seien beide über 60 Jahre alt, arbeitsunfähig und erkrankt, bei einer Rückkehr nach Ungarn seien sie einer Existenzvernichtung ausgesetzt und die Erkrankung und die Arbeitsunfähigkeit seien im Wesentlichen auch verfolgungsbedingt, da das Verfolgungsschicksal zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands geführt habe. Auch wenn sich danach die angegriffenen Entscheidungen als möglicherweise fehlerhaft darstellen, begründet dies keinen allgemeinen Klärungsbedarf.

Grundsätzlich klärungsbedürftig ist entgegen der Auffassung der Kläger auch nicht, ob allein mit der Feststellung, dass im Falle der Rückkehr keine extreme Gefährdungslage im Sinne des § 53 AuslG gegeben ist, gleichzeitig auch die Tatbestandsvoraussetzungen für einen Widerruf feststehen, also eine Prüfung nach § 53 AuslG kongruent eine Prüfung nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ersetzt. Nach den obigen Ausführungen liegt es auf der Hand und bedarf keiner über den Einzelfall hinausgehender Klärung in einem Berufungsverfahren, dass die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG einerseits und des § 53 Abs. 6 AuslG andererseits voneinander zu trennen sind, die insoweit zu berücksichtigenden Umstände sich aber teilweise überschneiden können (dazu Hailbronner, a.a.O., Rdnrn. 28 ff.; Renner, a.a.O., Rdnr. 10; Marx, AsylVfG, 4. Aufl., § 73 Rdnr. 47 ff.). Die Voraussetzungen für einen Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG unterscheiden sich jedoch so wesentlich von den Voraussetzungen für das Widerrufsverbot nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG, dass sich deren gesonderte Überprüfung auch dann nicht erübrigt, wenn ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG nicht vorliegt.

Grundsätzlich klärungsbedürftig ist auch nicht, unter welchen Voraussetzungen eine Rückkehr in den Verfolgerstaat im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG unzumutbar ist. Wie die Kläger selbst erwähnen, ist anerkannt, dass zwar nicht jede auftretende Beeinträchtigung zum Absehen von einem Widerruf führt, sondern dass es sich dabei um Gründe von einer gewissen Schwere und Tragweite handeln muss, ein Widerruf also immer dann zu unterbleiben hat, wenn schwere physische oder psychische Schäden vorliegen, die infolge der bereits erlittenen politischen Verfolgung entstanden sind und die sich bei einer Rückkehr in das Heimatland wesentlich verschlechtern. Über diese grundsätzlichen Aussagen hinausgehende verallgemeinerungsfähige Feststellungen sind anhand des Falles der Kläger in einem Berufungsverfahren nicht zu erwarten. Entsprechend dem Begehren der Kläger sind bei Prüfung der Zumutbarkeit der Rückkehr unter Umständen sowohl die Gesichtspunkte der Erwerbstätigkeit, einer wirtschaftlichen und sozialen Ausgrenzung, das Lebensalter und der Zeitraum zwischen Verfolgung und Flucht einerseits und der Rückkehr andererseits zu berücksichtigen (zum Ausschluss von Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes vgl. VGH Baden-Württemberg, 12.02.1986 - A 13 S 77/85 -, EZAR 214 Nr. 1). Darüber hinaus wird bei der Berechtigung, die Rückkehr in den Herkunftsstaat abzulehnen, auch zu berücksichtigen sein, in welchem Maße sich die dortigen Verhältnisse geändert haben und ob im Hinblick auf Art und Schwere der früher erlittenen Verfolgung Nachwirkungen noch zu erwarten sind. Im Falle der Kläger müsste also in Rechnung gestellt werden, dass ihr Heimatstaat Ungarn seit 10 Jahren zu den sicheren, also verfolgungsfreien Herkunftsstaaten im Sinne von § 29a AsylVfG i.V.m. der Anlage II gehört, seit langem die politischen Bedingungen für den Beitritt zur Europäischen Union erfüllt und vom 1. April 2004 an Mitglied der Europäischen Union sein wird (vgl. dazu Renner, ZAR 2002, 380). Unter diesen Umständen wären in einem Berufungsverfahren die persönlichen Umstände der Kläger in einem derart großen Ausmaß für die Anwendung von § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG maßgeblich, dass mit über den Einzelfall hinausgehenden Aussagen zur Auslegung dieser Bestimmung nicht gerechnet werden kann.

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die von den Klägern allein geltend gemachten alters- und krankheitsbedingten Schwierigkeiten bei einer Rückkehr nach Ungarn nicht nur im Rahmen des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG hätten geprüft werden müssen und hinsichtlich möglicher Reisehindernisse von der Ausländerbehörde im Rahmen einer eventuellen Abschiebung zu berücksichtigen sein werden, sondern vor allem - was das Verwaltungsgericht ebenfalls nicht beachtet hat und was auch von den Klägern nicht erwähnt wird - in dem notwendigerweise sich anschließenden Widerrufsverfahren hinsichtlich der Aufenthaltsgenehmigung der Kläger nach § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG eine zentrale Bedeutung haben werden (vgl. Renner, a.a.O., § 43 AuslG Rdnr. 9).

Schließlich bedarf es auch keiner grundsätzlichen Klärung, ob bei einem nicht unverzüglichen Widerruf der Asylanerkennung nach Änderung der politischen Verhältnisse Alter und Krankheit des Asylberechtigten bei der Frage der Unzumutbarkeit der Rückkehr zu berücksichtigen sind. Das Bundesverwaltungsgericht vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass ein als asylberechtigt anerkannter Ausländer nicht dadurch in seinen Rechten verletzt wird, dass das Bundesamt einen Widerruf der Asylanerkennung nicht unverzüglich ausspricht, da die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf dem Bundesamt nicht im Interesse des einzelnen Ausländers, sondern ausschließlich im öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Beseitigung der ihm nicht mehr zustehenden Rechtsposition des anerkannten Asylberechtigten auferlegt sei (BVerwG, 12.02.1998 - 9 B 654.97 -; 27.06.1997 - 9 B 280.97 -, EZAR 214 Nr. 7 = NVwZ-RR 1997, 741 = BayVBl. 1998, 28; 25.05.1999 - 9 B 288.99 -). Es kann hier offen bleiben, ob dieser Rechtsauffassung oder der davon abweichenden Rechtsprechung des VG Stuttgarts zu folgen ist, dass ein nicht unverzüglich erfolgter Widerruf den Ausländer in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt, neben § 73 AsylVfG aber § 48 VwVfG anwendbar ist (VG Stuttgart, 07.01.2003 - A 5 K 11226/01 -, EZAR 214 Nr. 14). Denn der Fall der Kläger eignet sich jedenfalls nicht für eine grundsätzliche Klärung dieser Streitfrage. Den vorliegenden Akten zufolge wurden die Kläger mit Bescheid des Bundesamts vom 14. Mai 1987 als Asylberechtigte anerkannt, und das Widerrufsverfahren wurde eingeleitet, nachdem der Landrat des Wetteraukreises im Juli 1997 dem Bundesamt mitgeteilt hatte, dass der Internationale Reiseausweis der Kläger Sichtvermerke der österreichischen Botschaft in Budapest vom 25. Mai 1992 trage. Daraufhin wurde umgehend am 1. September 1997 ein Bediensteter des Bundesamts mit der Führung eines Widerrufsverfahrens beauftragt, der dann am 10. September 1997 die Kläger zu dem beabsichtigten Widerruf angehört hat. Jedenfalls nach diesen individuellen Umständen kann nicht ohne Weiteres zu Grunde gelegt werden, dass das Bundesamt im Falle der Kläger nicht unverzüglich gehandelt hat.

Die Entscheidungen über die Kosten des Antragsverfahrens beruhen auf §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO i.V.m. § 100 ZPO und auf § 83b Abs. 1 AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).

Ende der Entscheidung

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