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Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 21.03.2001
Aktenzeichen: 12 UZ 602/01.A
Rechtsgebiete: VwGO, AsylVfG


Vorschriften:

VwGO § 117
VwGO § 138 Nr. 6
AsylVfG § 77 Abs. 2
AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3
In einem Asylurteil darf jedenfalls dann ergänzend auf die Entscheidungsgründe eines Familienangehörige des Asylbewerbers betreffenden Urteils Bezug genommen werden, wenn die beiden Verfahren zur gemeinsamen mündlichen Verhandlung verbunden und die Familienangehörigen durch denselben Bevollmächtigten vertreten waren und diesem beide Urteile gleichzeitig zugestellt wurden.
Gründe:

Der Antrag ist zulässig (§ 78 Abs. 4 Sätze 1 bis 4 AsylVfG), aber nicht begründet; denn mit ihm ist ein Grund, der gemäß § 78 Abs. 3 AsylVfG die Zulassung der Berufung rechtfertigen kann, nicht dargetan.

Der Rechtssache kommt die ihr mit dem Zulassungsantrag beigelegte grundsätzliche Bedeutung nicht zu. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG hat eine Rechtsstreitigkeit nur dann, wenn sie eine rechtliche oder eine tatsächliche Frage aufwirft, die für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich ist und über den Einzelfall hinaus im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung einer Klärung bedarf (BVerwG, 31.07.1984 - 9 C 46.84 -, BVerwGE 70, 24 = EZAR 633 Nr. 9; Hess. VGH, 27.12.1982 - X TE 29/82 -, EZAR 633 Nr. 4 = NVwZ 1983, 237; Hess. VGH, 14.10.1987 - 12 TE 1770/84 -, EZAR 633 Nr. 13). Die Rechts- oder Tatsachenfrage muss allgemein klärungsbedürftig sein und nach Zulassung der Berufung anhand des zugrundeliegenden Falls mittels verallgemeinerungsfähiger Aussagen geklärt werden können (Hess. VGH 30.05.1997 - 12 UZ 4900/96.A -, EZAR 633 Nr. 30 = FamRZ 1999, 1267).

Entgegen der Auffassung der Kläger bedarf es keiner grundsätzlichen Klärung, ob Personen aus Ostanatolien, die insbesondere wegen Verweigerung des Dorfschützeramts bei den Sicherheitskräften am Heimatort unter dem Verdacht stehen, mit der militanten kurdischen Bewegung zu sympathisieren, in keinem Landesteil der Türkei vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher sind. Diese Auffassung vertritt zwar das OVG Nordrhein-Westfalen in ständiger Rechtsprechung (außer dem in der Zulassungsschrift genannten Urteil v. 28.10.1998 - 25 A 1284/96.A -, vgl. z.B. auch Urteil v. 25.01.2000 - 8 A 1292/96.A -). Der beschließende Senat hat jedoch in Kenntnis dieser Rechtsprechung und in Auseinandersetzung mit den vom OVG Nordrhein-Westfalen angestellten Überlegungen und Bewertungen ebenso beständig die Auffassung vertreten, dass türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit im Allgemeinen wegen der Weigerung, das Dorfschützeramt anzunehmen oder fortzusetzen, nicht asylrelevant verfolgt werden und sie asylerheblichen Übergriffen zumindest durch einen Wegzug aus ihrer Heimatregion ausweichen können (seit Urteil v. 05.05.1997 - 12 UE 500/96 -). Im Hinblick auf eine unterschiedliche Rechtsprechung innerhalb zweier Bundesländer kann zwar die umstrittene Rechts- oder Tatsachenfrage grundsätzliche Bedeutung erlangen; dies gilt jedoch nicht, wenn - wie im vorliegenden Fall - das Verwaltungsgericht die Rechtsprechung des übergeordneten Verwaltungsgerichtshofs billigt und dieser sich mit der abweichenden Rechtsprechung eines anderen Oberverwaltungsgerichts im Einzelnen auseinandergesetzt hat.

Schließlich bedarf es entgegen der Auffassung der Kläger auch keiner grundsätzlichen Klärung, ob, wenn die deutschen Sicherheitskräfte ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen einen kurdischen Volksangehörigen türkischer Staatsangehörigkeit in Deutschland eingeleitet haben, auch die Annahme gerechtfertigt ist, dass die türkischen Sicherheitsbehörden über entsprechende Informationen verfügen.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der beschließende Senat zu den Fragen der Gefährdung bei der Rückkehr in die Türkei ausführlich Stellung bezogen und diese Feststellungen mit zahlreichen Urteilen anhand der jeweils neuesten zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen auf ihre weitere Gültigkeit überprüft und bestätigt hat (zuletzt Urteil vom 04.12.2000 - 12 UE 968/99.A -). Dieser ständigen Rechtsprechung liegt die Auffassung zu Grunde, dass es bei in die Türkei zurückkehrenden Asylbewerbern nur vereinzelt zu asylrelevanten Übergriffen kommt und jedenfalls nicht festgestellt werden kann, dass kurdische Volkszugehörige allein wegen ihres Volkstums und der bei ihnen vermuteten pro-kurdischen politischen Gesinnung anlässlich der Grenzkontrolle bei ihrer Rückkehr in asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen verwickelt werden. Dabei ist ausdrücklich berücksichtigt, dass es im Einzelfall auf Grund bestimmter persönlicher Kriterien zu Verfolgungsmaßnahmen kommen kann und dass es sich gerade aus den Umständen des einzelnen Falles ergibt, ob dem Betroffenen insbesondere auf Grund seiner exilpolitischen Aktivitäten die Gefahr politischer Verfolgung droht (vgl. Hess. VGH, 17.07.1995 - 12 UE 2621/94 -). Unter diesen Umständen sind anhand des vorliegenden Falles in einem Berufungsverfahren weitere verallgemeinerungsfähige Aussagen über die Sicherheit vor Verfolgung von in die Türkei zurückkehrenden kurdischen Volkszugehörigen nicht zu erwarten.

Darüber hinaus vertritt der beschließende Senat in ständiger Rechtsprechung in grundsätzlicher Übereinstimmung mit anderen Berufungsgerichten die Auffassung, dass untergeordnete politische Betätigungen in Deutschland türkischen Sicherheitskräften in der Regel nicht bekannt werden und deshalb nicht zu Ermittlungs- und Verfolgungsmaßnahmen in der Türkei führen, eine politische Verfolgung aufgrund exilpolitischer Aktivitäten in Deutschland folglich erst dann mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit droht, wenn diese Betätigung für die kurdische Sache in hervorgehobener Weise erfolgte und den türkischen Sicherheitskräften bekannt geworden ist und dies regelmäßig erst dann in Betracht kommt, wenn der Aktivist als exponiertes Mitglied einer staatsfeindlichen Gruppe innerhalb oder außerhalb dieser Gruppe einen Bekanntheitsgrad erlangt, der die Aufmerksamkeit eines möglichen Spitzels innerhalb der Gruppe oder von Mitarbeitern des türkischen Geheimdienstes außerhalb der Gruppe erregt; mit anderen Worten: Es muss sich bei ihm um einen exponierten Regimegegner handeln (vgl. dazu Hess. VGH, 13.12.1999 - 12 UE 2984/97.A -, m.w.N.). Schließlich hat der beschließende Senat in seiner ständigen Rechtsprechung auch dahin erkannt, dass der regelmäßige Strafnachrichtenaustausch zwischen Deutschland und der Türkei für türkische Asylbewerber zu keiner zusätzlichen Gefährdung führt. Unter diesen Umständen ist nicht zu erwarten, dass in einem künftigen Berufungsverfahren anhand des vorliegenden Falles darüber hinausgehende grundsätzliche Aussagen zur Gefährdung in die Türkei zurückkehrender kurdischer Asylbewerber getroffen werden können. Insbesondere ist nicht damit zu rechnen, dass grundsätzlich neue Erkenntnisse darüber gewonnen werden können, ob bereits ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren in Deutschland türkischen Sicherheitskräften bekannt wird. Die Beantwortung dieser und anderer Einzelfragen hängt so sehr von den persönlichen Umständen im Einzelfall ab, dass hierzu allgemein gültige Feststellungen aller Voraussicht nach nicht getroffen werden können. Zumindest haben die Kläger hierfür keine brauchbaren Anhaltspunkte genannt.

Schließlich kann die Berufung hinsichtlich der Kläger zu 1) und 2) auch nicht deswegen zugelassen werden, weil das Verwaltungsgericht in dem die Kläger zu 1) und 2) betreffenden Urteil "zur Vermeidung von Wiederholungen in entsprechender Anwendung des § 77 Abs. 2 AsylVfG" auf die Entscheidungsgründe in dem den Kläger zu 3) betreffenden Urteil verwiesen und insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen hat.

Zu Unrecht meinen die Kläger zu 1) und 2), dass das sie betreffende Urteil nicht mit Gründen versehen ist (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 6 VwGO). Die Vorschrift des § 138 Nr. 6 VwGO betrifft ebenso wie die des § 133 Nr. 5 VwGO nur die Urteile, die entweder überhaupt keine oder nur gänzlich ungenügende Entscheidungsgründe im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 5 VwGO enthalten. Eine unzutreffende Begründung ist dabei ebenso unschädlich wie eine knappe; die Gründe dürfen nur nicht so unverständlich oder lückenhaft oder verworren sein, dass ihnen nicht entnommen werden kann, worauf die Entscheidung beruht (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., 2000, Rdnr. 26 f. zu § 138; Hess. VGH, 10.01.1994 - 12 UZ 2635/93 -; Hess. VGH, 27.03.1984 - 10 TE 38/83 -; jew. m.w.N.). Außerdem kann zur Begründung auf eine andere Entscheidung Bezug genommen werden, wenn diese dem Beteiligten bekannt ist oder zumindest gleichzeitig bekannt gegeben wird (OVG Berlin, 15.10.1999 - 4 SN 32.99 -; OVG Nordrhein-Westfalen, 12.05.1997 - 7 B 830/97 -, BRS 59 Nr. 210 <1997>; OVG Nordrhein-Westfalen, 30.08.1999 - 3 B 1415/99 -).

Ob und in welchen Fällen und in welcher Weise zur Begründung einer Entscheidung auf die Gründe einer anderen Gerichtsentscheidung Bezug genommen werden darf, ist im Gesetz nicht abschließend geregelt. In einem Urteil darf hinsichtlich der Einzelheiten des Tatbestands auf andere Unterlagen verwiesen werden (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO; vgl. auch § 130b Satz 1 VwGO), und von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe kann das Gericht absehen, soweit es der Begründung des Verwaltungsakts oder des Widerspruchsbescheids folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt (§ 117 Abs. 5 VwGO; vgl. auch § 130b Satz 2 VwGO). Für das Asylgerichtsverfahren ist darüber hinaus sowohl für den Tatbestand als auch für die Entscheidungsgründe vorgesehen, dass das Gericht von einer weiteren Darstellung absieht, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsakts folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt (§ 77 Abs. 2 AsylVfG). Unter diesen Umständen hat sich das Verwaltungsgericht zu Unrecht für seine Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe in dem den Kläger zu 3) betreffenden Urteil auf eine analoge Anwendung der Vorschrift des § 77 Abs. 2 AsylVfG berufen, da diese erkennbar gegenständlich strikt beschränkt und deshalb einer entsprechenden Anwendung für eine Bezugnahme auf andere Gerichtsentscheidungen nicht zugänglich ist. Ungeachtet dessen ist darauf hinzuweisen, dass die genannten ausdrücklichen Regelungen über die Zulässigkeit einer Bezugnahme nicht abschließend zu verstehen sind und es deshalb auch in anderen als den gesetzlich ausdrücklich geregelten Fällen zulässig ist, zur Begründung einer Entscheidung zumindest ergänzend auf andere Entscheidungen Bezug zu nehmen (vgl. dazu Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, 1999, § 117 Rdnr. 22; Kopp/Schenke, a.a.O., § 117 Rdnr. 23 bis 27; Redeker/von Oertzen, VwGO, 13. Aufl., 2000, § 138 Rdnr. 9). Danach ist es zwar unzulässig, lediglich auf eine gerichtliche Entscheidung zu verweisen, ohne diese zuvor in das Verfahren eingeführt zu haben (Hess. VGH, 15.07.1999 - 12 UZ 3113/97.A -), oder auf eine andere Entscheidung zu verweisen, obwohl die Sachverhalte nicht gleichgelagert sind (OVG Saarland, 14.07.1999 - 9 Q 72/98 -). Es ist aber beispielsweise zulässig, in einem Beschluss auf die Gründe eines am selben Tag zugestellten Urteils in derselben Sache Bezug zu nehmen (OVG Berlin, a.a.O.) oder auch auf ein Urteil in einem anderen Verfahren Bezug zu nehmen, wenn dieses den Verfahrensbeteiligten bekannt ist (BVerwG, 30.11.1995 - 4 B 248.95 -, Buchholz 310 § 138 Ziff. 6 VwGO Nr. 30). Maßgeblich ist allein, ob dem Beteiligten die Entscheidungsgründe durch eine Bezugnahme in derselben Weise zugänglich sind und bekannt werden können, als wenn sie in der Entscheidung selbst enthalten wären. So liegt es im vorliegenden Fall.

Das Verwaltungsgericht hat die Verfahren der Kläger zu 1) und 2) und des Klägers zu 3) in der mündlichen Verhandlung am 1. Februar 2001 zur Verhandlung verbunden und in Gegenwart aller Beteiligten verhandelt und entschieden, wobei die Kläger durch denselben Prozessbevollmächtigten vertreten waren und die Verfahrensakten des jeweils anderen Verfahrens in das Verfahren eingeführt worden sind. Beide Urteile sind am 9. Februar 2001 dem früheren Bevollmächtigten der Kläger zugestellt worden, und auch die Zulassungsanträge sind von ein und demselben Bevollmächtigten am 23. Februar 2001 gefertigt und per Fax an das Verwaltungsgericht gesandt worden. Aus alledem ergibt sich eindeutig und ist von den Klägern zu 1) und 2) auch nicht in Abrede gestellt, dass sie, vertreten durch ihren früheren wie durch die jetzigen Prozessbevollmächtigten in vollem Umfang und im selben Zeitpunkt auch über die Gründe des den Kläger zu 3) betreffenden Urteils unterrichtet und durch die Bezugnahme auch nicht in anderer Weise an der Wahrnehmung von Rechtsmittelmöglichkeiten gehindert waren. Daher können sie sich nicht mit Erfolg darauf berufen, das sie betreffende Urteil enthalte keine Gründe.

Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, verleiht die Frage der Bezugnahme auf eine andere Entscheidung dem vorliegenden Verfahren auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG.

Die Entscheidungen über die Kosten des Antragsverfahrens beruhen auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b Abs. 1 AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).

Ende der Entscheidung

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