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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 30.03.2006
Aktenzeichen: 3 TG 556/06
Rechtsgebiete: AufenthG, VwGO


Vorschriften:

AufenthG § 15 a
AufenthG § 60 a
VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 123
1. Der Anspruch auf Aushändigung der gemäß § 60 Abs. 4 AufenthG vorgeschriebenen Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung kann - soweit von der Ausländerbehörde tatsächlich keine Abschiebung beabsichtigt ist - auch im Wege der einstweiligen Anordnung durchgesetzt werden, da es sich nicht um eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache handelt.

Es ist für den betroffenen Ausländer nicht zumutbar, auf das Hauptsacheverfahren verwiesen zu werden, wenn er trotz Bestehens eines Anspruchs auf Erteilung einer Bescheinigung gemäß § 60 a Abs. 4 AufenthG diese nicht erhält und in der Zwischenzeit damit rechnen muss, anlässlich polizeilicher Kontrollen - wenn auch kurzfristig - inhaftiert zu werden und im Falle eines Ermittlungsverfahrens gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG keinen Nachweis darüber führen zu können, dass die Abschiebung tatsächlich ausgesetzt ist.

2. Die Entscheidung über die Weiterleitung eines unerlaubt eingereisten Ausländers steht gemäß § 15 a Abs. 2 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde, bei der sich der Ausländer erstmals meldet oder in deren Zuständigkeitsbereich er aufgegriffen wird. Im Rahmen der anzustellenden Ermessenserwägungen sind die Interessen des betroffenen Ausländers, aber auch die eines effektiven Verwaltungsablaufs abzuwägen. In den Fällen des § 15 a Abs. 1 Satz 6 AufenthG ist ein Ermessen der Behörde nicht eröffnet, in diesem Fall ist die Weiterleitung ausgeschlossen.


HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

3 TG 556/06

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Ausländerrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 3. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Blume, Richter am Hess. VGH Dr. Michel, Richterin am Hess. VGH Lehmann

am 30. März 2006 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 21. Februar 2006 - 4 G 240/06 - abgeändert und die Antragsgegnerin verpflichtet, der Antragstellerin eine Bescheinigung über die bereits erfolgte Duldung zu erteilen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben die Kosten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin gegen den im Tenor näher bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts ist mit den dargelegten Gründen (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), jedoch nur aus den in dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Die Beschwerde hat Erfolg, soweit das Verwaltungsgericht den Antrag der Antragstellerin, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, ihr eine Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60 a Abs. 4 AufenthG zu erteilen, abgelehnt hat. Der Antragstellerin geht es vorliegend, worauf die Beschwerdebegründung zutreffend hinweist, nicht um die vorläufige Aussetzung einer Abschiebung, bei der im Regelfall das auf Erteilung einer Duldung gerichtete einstweilige Rechtsschutzbegehren als unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache angesehen wird, sondern um die Aushändigung der schriftlichen Bescheinigung des Absehens von Vollstreckungsmaßnahmen (§§ 60 a Abs. 4, 77 Abs. 1 AufenthG).

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin mehrfach sowohl schriftlich als auch mündlich bestätigt, dass von ihr aufgrund der fortgeschrittenen Schwangerschaft der Antragstellerin gegenwärtig keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen beabsichtigt sind (Schreiben vom 6. Februar 2006 sowie Antragserwiderung vom 17.02.2006, Telefonvermerk vom 16.02.2006). Hierdurch hat die Antragsgegnerin zum Ausdruck gebracht, dass sie die Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses gem. § 60 a Abs. 2 AufenthG als erfüllt ansieht, ohne der Antragstellerin jedoch eine Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung ausgehändigt zu haben. Weder die Systematik des Ausländergesetzes noch die Systematik des Aufenthaltsgesetzes lassen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt eines im Bundesgebiet sich aufhaltenden Ausländers. Das Gesetz geht davon aus, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb einer förmlicher Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben wird, sieht das Gesetz nicht vor (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.03.2000 - 1 C 23/99 - in EZAR 2000, 225).

Dies gilt unabhängig davon, ob der Gesetzgeber in § 15 a Abs. 1 AufenthG grundsätzlich davon ausgegangen ist, dass die Verteilung unerlaubt eingereister Ausländer vor einer Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung zu erfolgen hat oder nicht. Zum einen hat die Antragsgegnerin vorliegend tatsächlich über die Aussetzung der Abschiebung entschieden, wie sich aus dem Schreiben vom 6. Februar 2006 ergibt, zum anderen ist § 15 a Abs. 2 AufenthG zu entnehmen, dass die erstmals mit dem illegal eingereisten Ausländer befasste Ausländerbehörde im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens die Besonderheiten des Einzelfalles zu würdigen hat, wobei in den Fällen des § 15 a Abs. 1 Satz 6 AufenthG eine Weiterleitung an die zuständige Erstaufnahmeeinrichtung tatbestandsmäßig ausgeschlossen ist und in den übrigen Fällen eine Ermessensentscheidung zu treffen ist. In diesem Zusammenhang weist der Senat, ohne dass es hierauf entscheidungserheblich ankommt, darauf hin, dass der von der Antragsgegnerin verwandte Vordruck (Bescheinigung über die Weiterleitung einer Person nach § 15 a Abs. 2 AufenthG, Bl. 40 der GA) diesen Anforderungen des § 15 a Abs. 2 AufenthG insbesondere hinsichtlich der anzustellenden Ermessenserwägungen, aber auch hinsichtlich der im Übrigen zu prüfenden Tatbestandsvoraussetzungen kaum gerecht werden dürfte. Die Verwendung eines amtlich eingeführten Vordrucks ohne Anfügung einer eigenständigen Begründung steht im Widerspruch zu der vom Gesetzgeber in § 15 a Abs. 2 AufenthG geforderten Ermessensentscheidung, die der Behörde aufgibt, die für und gegen eine Weiterleitung sprechenden Gesichtspunkte unter Berücksichtigung auch der Interessen des betroffenen Ausländers, aber auch eines effektiven Verwaltungsablaufs unter- und gegeneinander abzuwägen. Hierbei ist in die Ermessenserwägung auch mit einzustellen, ob der betroffene Ausländer ohnehin wieder dem Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörde, die die Weiterleitung betreiben möchte, zugewiesen werden müsste. Im Übrigen bestehen auch Bedenken an der Rechtmäßigkeit der verfügten Androhung des Zwangsmittels hinsichtlich der allein auf der Grundverfügung fußenden Fristsetzung "unverzüglich" (vgl. Engelhardt/App, VwVG, VwZG, Kommentar, 5. Aufl., § 13 Rdn 3 mit weiteren Nachweisen).

Hat die Antragstellerin einen Anspruch auf Aushändigung der gemäß § 60 a Abs. 4 AufenthG vorgeschriebenen Bescheinigung, kann sie dies auch im Wege der einstweiligen Anordnung durchsetzen, da es sich insoweit nicht um eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache handelt.

Zwar gehen Rechtsprechung und Schrifttum grundsätzlich von dem Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache in all ihren Formen einschließlich faktischer Zustandsregelungen aus. Ausnahmsweise darf allerdings das Vorwegnahmeverbot durchbrochen werden, wenn der Hauptsacherechtsschutz zu spät käme und dies für den Antragsteller zu schlechthin unzumutbaren Nachteilen führen würde, die sich auch bei einem späteren Erfolg im Hauptsacheverfahren nicht mehr abwenden oder ausgleichen ließen. In derartigen Fällen ist eine Vorwegnahme der Hauptsache geboten, weil anderenfalls die durch Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes nicht gewährleistet wäre (vgl. Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Auflage, § 16 Rdnr. 211 ff. mit Rechtsprechungsnachweisen).

In Anbetracht der Tatsache, dass die hochschwangere Antragstellerin im Falle einer polizeilichen Überprüfung damit rechnen müsste, wenn auch kurzfristig, inhaftiert zu werden und sie im Falle eines Ermittlungsverfahrens wegen illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG keinen Nachweis darüber führen könnte, dass die Abschiebung tatsächlich ausgesetzt ist, ist es für sie unzumutbar, das Hauptsacheverfahren auf Aushändigung einer Duldungsbescheinigung gemäß § 60 a Abs. 4 AufenthG abzuwarten.

Die Beschwerde ist jedoch zurückzuweisen, soweit die Antragstellerin ihren Antrag, die Antragsgegnerin zu verpflichten, vorläufig von der Anwendung unmittelbaren Zwangs betreffs die Weiterleitungsverfügung vom 17. Februar 2006 Abstand zu nehmen, weiterverfolgt.

Der als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung formulierte Beschwerdeantrag, der demjenigen in der ersten Instanz gestellten Antrag entspricht, ist gemäß § 123 Abs. 5 VwGO unzulässig, da die Vorschriften des § 123 Abs. 1 bis 3 VwGO nicht für die Fälle der §§ 80 und 80 a VwGO gelten.

Die Bescheinigung über die Weiterleitung einer Person nach § 15 a Abs. 2 AufenthG vom 17. Februar 2006 enthält mehrere Verwaltungsakte, die im Zusammenhang mit der Weiterleitung stehen. Der Ausspruch der Verpflichtung, sich zu der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen zu begeben, ist ein auf § 15 a Abs. 2 AufenthG gestützter Verwaltungsakt, gegen den ein Widerspruch nicht stattfindet und die Klage keine aufschiebende Wirkung entfaltet ( § 15 a Abs. 2 Sätze 3 und 4 AufenthG ). Der in der Bescheinigung enthaltenen Zwangsmittelandrohung kommt ebenfalls Verwaltungsaktscharakter zu, deren Rechtmäßigkeit sich nach den Vorschriften der §§ 47 ff. HSOG richtet.

Soweit ein Betroffener sich gegen die Weiterleitung oder das angedrohte Zwangsmittel zur Wehr setzen will, muss er daher den Weg der Anfechtungsklage und im Fall vorläufigen Rechtsschutz den Weg über § 80 Abs. 5 VwGO gehen. Raum für eine Regelungs- oder Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO besteht dabei nicht ( § 123 Abs. 5 VwGO).

Der Antrag der Bevollmächtigten konnte auch nicht gemäß § 88 VwGO in einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ausgelegt werden, da nach einer telefonischen Auskunft des Verwaltungsgerichts Wiesbaden dort noch keine Klage gegen die Weiterleistungsverfügung erhoben worden ist und für den Senat nicht ersichtlich ist, ob dies überhaupt beabsichtigt ist. Auf die Frage, ob ausnahmsweise auch vor Rechtsbehelfseinlegung in der Hauptsache ein Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO angestrengt werden kann ( vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 14. Aufl., § 80 Rdn 139 ff. ), kam es aufgrund der Unklarheiten hinsichtlich des weiteren Vorgehens der Antragstellerin nicht an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO.

Bei der Streitwertfestsetzung folgt der Senat der Vorinstanz (§§ 52, 47, 53 GKG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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