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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 23.03.2005
Aktenzeichen: 3 UE 3457/04.A
Rechtsgebiete: AufenthG, Richtlinie 2004/83/EG


Vorschriften:

AufenthG § 60 Abs. 1
Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen
1. Die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikationsrichtlinie - legt Mindeststandards des Flüchtlingsschutzes fest, die auf Grund des eindeutigen Wortlauts des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nicht zu dessen restriktiven Auslegung herangezogen werden können. Der Bundesgesetzgeber hat den Begriff der sozialen Gruppe insoweit weiter gefasst als der EU-Richtliniengeber, da eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft.

2. Drohende Genitalverstümmelung wird von § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG erfasst, wenn sie zwar von nicht staatlichen Akteuren durchgeführt wird, der Staat jedoch erwiesenermaßen nicht willens ist, Schutz vor Verfolgung zu bieten, was in Sierra Leone der Fall ist.

3. Wird Genitalverstümmelung bei 80 - 90 % der Mädchen und Frauen angewandt, droht diesen Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wenn nicht gewährleistet ist, dass sie sich ausnahmsweise diesen Maßnahmen entziehen können und sie auch nicht wegen ihres "Nichtbeschnittenseins" sonstigen relevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein werden.


Hessischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes Urteil

3 UE 3457/04.A

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Asylrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 3. Senat - durch Richterin am Hess. VGH Lehmann als Berichterstatterin ohne mündliche Verhandlung am 23. März 2005 für Recht erkannt:

Tenor:

Das Verfahren der Berufungsklägerinnen wird hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf Anerkennung als Asylberechtigte eingestellt.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 10. Juli 2003 - 3 E 31074/98.A (1) - ist, soweit es nicht rechtskräftig geworden ist, bezogen auf den zurückgenommenen Teil der Klage wirkungslos.

Auf die Berufung der Berufungsklägerinnen wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 10. Juli 2003 - 3 E 31074/98.A (1) - abgeändert und die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 2 und 3 ihres Bescheides vom 1. September 1998 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Ziffer 4 des Bescheides vom 1. September 1998 wird aufgehoben, soweit dort Sierra Leone als Abschiebezielstaat nicht von der Abschiebungsandrohung ausgenommen wird. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Berufungsklägerinnen haben hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage die gesamten Kosten des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens zu tragen.

Im Übrigen hat die beklagte Bundesrepublik Deutschland die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Entscheidung über die Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die am xxxxxxx 1987 und xxxxxxxxx 1996 in Freetown, Sierra Leone geborenen Berufungsklägerinnen reisten gemeinsam mit ihren Eltern sowie ihrer im Jahre 1985 geborenen älteren Schwester- den Klägern zu 1. bis 3. des Ausgangsverfahren - am 4. Januar 1998 aus Accra kommend in das Bundesgebiet ein und beantragten ihre Anerkennung als Asylberechtigte.

Mit Bescheid vom 1. September 1998 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Asylanträge der Berufungsklägerinnen sowie der weiteren Familienmitglieder ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG nicht vorliegen. Ziffer 4 des Bescheides enthält die Abschiebungsandrohung. Gegen den am 7. September 1998 zugestellten Bescheid haben die Berufungsklägerinnen gemeinsam mit den weiteren Familienmitgliedern Klage erhoben. Zur Begründung ihrer Klage trugen die Kläger unter anderem vor, den Berufungsklägerinnen drohe bei Rückkehr in ihr Heimatland zwangsweise Genitalverstümmelung, gegen die sie auch nicht wirksam von ihren Eltern geschützt werden könnten. Diese werde von Verwandten, wenn die Zeit gekommen sei, durchgeführt, ohne dass dies von den Eltern verhindert werden könne auch wenn sie, wie die Eltern der Berufungsklägerinnen, selbst gegen Genitalverstümmelung eingestellt seien. So sei die ältere Schwester der Berufungsklägerinnen gegen den Willen der Eltern von Verwandten beschnitten worden.

Die Kläger haben beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 1. September 1998 zu verpflichten,

a) die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen und

b) festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 AuslG vorliegen,

c) festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 53 AuslG vorliegen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Verwaltungsgericht hat zur Frage der drohenden Genitalverstümmelung in Sierra Leone Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Instituts für Afrikakunde, Hamburg.

Mit Urteil vom 10. Juli 2003 - 3 E 31074/98.A(1) -hat das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main die Klage abgewiesen.

Auf Antrag der Kläger hat der 3. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs mit Beschluss vom 18. November 2004, dem Bevollmächtigten der Kläger zugestellt am 25. November 2004, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 10. Juli 2003 - 3 E 31074/98.A (1) - hinsichtlich der Berufungsklägerinnen zugelassen und im Übrigen den Antrag abgelehnt. Die Asylverfahren der übrigen Familienmitglieder sind seitdem rechtskräftig - negativ - abgeschlossen. Nachdem das Gericht die Beteiligten davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass es beabsichtigt, über die Berufung gemäß § 130 a VwGO durch Beschluss zu entscheiden, da es diese einstimmig für unzulässig und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, da die Berufung entgegen § 124 a Abs. 6 VwGO nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Zulassungsbeschlusses begründet worden sei, meldete sich der Bevollmächtigte der Berufungsklägerinnen mit Schriftsatz vom 10. Januar 2004, eingegangen am selben Tag und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Hierzu trug er vor, er habe den Berufungsbegründungsschriftsatz gemeinsam mit einem Kostenvorschussantrag vom 14. Dezember 2004 persönlich etwas vor 17.30 Uhr in den Briefkasten an der Ecke Breitenbach - Brücke/Maybachstraße in B-Stadt eingeworfen. Dies ergebe sich zum einen aus einem Vermerk auf der in der Handakte befindlichen Abschrift, zum anderen könne er sich an den Vorgang noch erinnern, da er nicht alle Tage Berufungsbegründungsschriftsätze verfasse. Der Berufungsbegründungsschrift vom 14. Dezember 2004 war dem Wiedereinsetzungsgesuch beigeheftet. Auf entsprechende Nachfrage der Berichterstatterin versicherte der Bevollmächtigte der Berufungsklägerinnen mit Schriftsatz vom 15. Januar 2005 anwaltlich, dass er den Berufungsbegründungsschriftsatz vom 14. Dezember 2004 selbst gefertigt und dann gezeichnet habe. Eine Kopie des Postausgangsbuches könne er nicht vorlegen, da er ein solches in Anbetracht der Tatsache, dass er die Kanzlei allein betreibe, nicht führe. Bei Schriftsätzen, bei denen die Einhaltung einer Frist von Bedeutung sei, werde die Postaufgabe auf der in der Handakte eingehefteten Kopie vermerkt. Die vorstehenden Aussagen wurden zudem von dem Bevollmächtigten eidesstattlich versichert. Ein von dem Gericht angestrengter Nachforschungsantrag bei der Deutschen Post AG verlief ergebnislos.

Zur Begründung der Berufung tragen die Berufungsklägerinnen im Wesentlichen vor, im Falle der Rückkehr nach Sierra Leone drohe ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine zwangsweise Beschneidung, die eine politische Verfolgung im Sinne des Asylrechts darstelle und zum Vorliegen von Abschiebungsverboten führe.

Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 25. Februar 2005 haben die Berufungsklägerinnen ihre Klage hinsichtlich des Antrags auf Anerkennung als Asylberechtigung gemäß Art. 16 a GG zurückgenommen.

Die Berufungsklägerinnen beantragen sinngemäß,

die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Urteils sowie unter entsprechender Aufhebung des angefochtenen Ablehnungsbescheids vom 1. September 1998 zu verpflichten festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen und dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich Sierra Leone vorliegen.

Weder die Beklagte noch der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten haben im Berufungsverfahren Anträge gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die in der Gerichtsakte befindlichen Schriftstücke, den Verwaltungsvorgang der Beklagten (1 Aktenheft) sowie auf die den Beteiligten mitgeteilten Auskünfte Bezug genommen. Die Unterlagen sind insgesamt zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden.

Entscheidungsgründe:

Die Berichterstatterin konnte über die Berufung im schriftlichen Verfahren entscheiden, da sich die Verfahrensbeteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben.

Die Berufung ist aufgrund der Zulassung durch den Senat mit Beschluss vom 18. November 2004 - 3 UZ 2461/03.A - sowie aufgrund der Tatsache, dass den Berufungsklägerinnen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, zulässig. Gemäß § 60 Abs. 1 VwGO ist, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das Verschulden eines Bevollmächtigten wird von der Rechtsprechung gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO immer dem durch diesen vertretenen Beteiligten wie eigenes Verschulden zugerechnet (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 13. Auflage, Stand München 2003, § Rdnr. 20), wobei Verschulden des Bevollmächtigten dann gegeben ist, wenn dieser die übliche Sorgfalt eines ordentlichen Anwalts nicht angewandt hat, wobei jedoch die Anforderungen nicht überspannt werden dürfen. So wird als nicht erforderlich angesehen, dass der Anwalt bei einem ordnungsgemäß abgesandten Schriftsatz auch kontrolliert, ob er bei Gericht eingegangen ist (vgl. Kopp/Schenke a.a.O. § 60 Rdnr. 20).

Den Berufungsklägerinnen ist hinsichtlich der versäumten Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung zu gewähren, da sie ohne Verschulden gehindert waren, die gesetzliche Frist einzuhalten. Der Beschluss, mit dem die Berufung der Berufungsklägerinnen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 10. Juli 2003 zugelassen wurde (3 UZ 2461/03.A) wurde dem Bevollmächtigten der Berufungsklägerinnen am 25. November 2004 zugestellt. Erstmals durch Mitteilung des Gerichts vom 3. Januar 2005, dass über die Berufung gemäß § 130 a VwGO durch Beschluss entschieden werden solle, erfuhr der Bevollmächtigte der Berufungsklägerinnen, dass der Berufungsbegründungsschriftsatz nicht bei Gericht eingegangen ist. Mit Schriftsatz vom 10. Januar 2004, eingegangen am selben Tag und daher innerhalb der Frist des § 60 Abs. 2 VwGO, beantragte der Bevollmächtigte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, da er den Berufungsbegründungsschriftsatz am 14. Dezember 2004 persönlich in B-Stadt zur Post gegeben habe, was er in der Folge sowohl anwaltlich als auch eidesstattlich versichert hat. Zweifel am Wahrheitsgehalt der eidesstattlich versicherten anwaltlichen Angaben sind weder ersichtlich, noch von den übrigen Verfahrensbeteiligten vorgetragen. Zwar ist die Nachforschung bei der Deutschen Post AG ergebnislos verlaufen, dies besagt jedoch nichts darüber, ob der Brief tatsächlich am 14. Dezember 2004 aufgegeben worden ist oder nicht. Vielmehr ließ die Art und Weise der Abwicklung des Nachforschungsauftrages bei der Deutschen Post AG eher Zweifel an der ordnungsgemäßen Geschäftsführung dort aufkommen. Nachdem der an die Deutsche Post AG in B-Stadt gerichtete Briefermittlungsauftrag zunächst fehlerhaft an die Philatelie weitergeleitet worden war und von dort an eine ebenfalls nicht zuständige Stelle in Norddeutschland übermittelt wurde, die jedoch keine weitere Sachbearbeitung durchführte, wurden die Nachforschungen erst auf telefonische Nachfrage der Berichterstatterin und Weiterleitung der Anfrage an die Briefermittlungsstelle in Marburg wieder aufgenommen, die jedoch mit Schreiben vom 10. März 2005 mitgeteilt hat, dass die Nachforschungen ergebnislos abgeschlossen worden seien und deshalb von einem Verlust auszugehen sei.

Dem Wiedereinsetzungsgesuch war daher gemäß § 60 Abs. 1 VwGO stattzugeben, da sich auch aus den Ermittlungen der Deutschen Post AG nichts dafür hat herleiten lassen, dass die Angaben des Bevollmächtigten der Berufungsklägerinnen nicht den Tatsachen entsprechen und ein Verlust auf dem Postweg ausgeschlossen sein könnte.

Nachdem die Berufungsklägerinnen mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 25. Februar 2005 die Klage hinsichtlich ihrer Anerkennung als Asylberechtigte zurückgenommen haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung der §§ 125 Abs. 1, 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main ist gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO insoweit für wirkungslos zu erklären.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 10. Juli 2003 ist im Übrigen abzuändern, da die Berufungsklägerinnen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG haben (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Maßgeblicher Zeitpunkt der Entscheidung hinsichtlich der Sach- und Rechtslage ist hierbei gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG derjenige im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. soweit, wie vorliegend, die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht, der Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird. Maßgeblich ist daher für die Frage des Vorliegens eines Abschiebeverbots § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz vom 30. Juli 2004 - AufenthG - , der gemäß Art. 15 Abs. 3 des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist.

Die Berufungsklägerinnen machen geltend, dass sie Verfolgung allein wegen ihres Geschlechts aufgrund drohender Genitalverstümmelung in ihrem Heimatland zu befürchten haben.

Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Ausländer, die im Bundesgebiet die Rechtstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebietes als ausländische Flüchtlinge im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 kann ausgehen von

a) dem Staat,

b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder

c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern sie unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Durch die Anknüpfung der Verfolgung allein an das Geschlecht geht § 60 Abs. 1 AufenthG über den Wortlaut von § 51 Abs. 1 AuslG hinaus und legt den bis dato herrschenden Streit bei, ob die Anknüpfung von Verfolgungshandlungen allein an das Geschlecht das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllt und damit abschiebungsverbotsrelevant sein kann. Eines Rückgriffs auf die Gesetzesmotive zu § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG insbesondere zu der hier relevanten Anknüpfung der Verfolgung allein an das Geschlecht bedurfte es auf Grund des eindeutigen Wortlauts der Norm dabei nicht, wobei diese zu § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG darüberhinaus auch keine Aussagen enthalten, da Satz 3 erst zu einem späteren Zeitpunkt in das Gesetz aufgenommen worden ist. Auch die Entstehungsgeschichte des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG belegt jedoch, dass durch Satz 3 gerade auch Sachverhaltskonstellationen wie drohende Genitalverstümmelung erfasst werden sollten. Ausweislich einer Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes zum Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthaltes und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen (Bundestagsdrucksache 14/7387 vom 8. November 2001) begrüßt dieser, dass die Bundesregierung in dem Gesetzentwurf - im Gegensatz zum früher vorgelegten Referentenentwurf - eine gesetzliche Klarstellung in § 60 Abs. 1 und in § 25 Abs. 2 AufenthG-E aufgenommen hat, mit der geschlechtsspezifische Verfolgung angemessen berücksichtigt wird. Nach der Stellungnahme bedurfte es hinsichtlich der Situation von Frauen der Klarstellung, dass geschlechtsspezifische Verfolgung eine Form von politischer Verfolgung in Anknüpfung an das unverfügbare Merkmal "Geschlecht" darstellt. Von geschlechtsspezifischer Verfolgung sind danach insbesondere betroffen:

- Frauen, die geschlechtsbezogener Diskriminierung entweder von Seiten staatlicher Stellen oder von Seiten Privater ausgesetzt sind, wenn der Staat sie nicht ausreichend schützen kann oder will. Die Formen geschlechtsbezogener Diskriminierung reichen von Entrechtung von Frauen über sexuelle Gewalt bis hin zur ritueller Tötung;

- Frauen, die Verfolgung befürchten, weil sie kulturelle oder religiöse Normen übertreten haben oder sich diesen nicht beugen wollen. Dazu gehören Vorschriften über Kleidung oder Auftreten in der Öffentlichkeit und auch die Genitalverstümmelung;

- Frauen, die Verfolgung aufgrund der Aktivitäten oder der Ansichten von Familienangehörigen befürchten;

- Frauen, die aus denselben Gründen Verfolgung fürchten wie Männer, wobei die Art der Verfolgung geschlechtsbezogen sein kann (vgl. Deutscher Juristinnenbund, www.djb.de, dort unter Stellungnahmen).

Aufgrund des Wortlauts von § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG kann die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 304 vom 30/09/2004 S. 12 bis 23) - Qualifikationsrichtlinie - nicht zu einer restriktiven Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG herangezogen werden, was jedoch teilweise vertreten wird. Art. 10 Abs. 1 d) der Qualifikationsrichtlinie bestimmt unter welchen Voraussetzungen eine Gruppe als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen ist, wobei geschlechtsbezogene Aspekte berücksichtigt werden können, für sich allein genommen jedoch noch nicht Annahme rechtfertigen, dass dieser Artikel anwendbar ist. Die Qualifikationsrichtlinie legt jedoch lediglich Mindeststandards fest wobei der Wortlaut der Richtlinie nichts darüber besagen kann, ob der nationale Gesetzgeber den Mindeststandard erweitern wollte. Dass dies vom Bundesgesetzgeber durch die Regelung des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gewollt war wird bestätigt durch die Aussage des Mitglieds des Vermittlungsausschusses Volker Beck, MDB vom 25. Oktober 2004, wonach der Wortlaut von § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG über den Wortlaut der "EU-Qualifikationsrichtlinie" hinausgeht, was im Vermittlungsausschuss beabsichtigt gewesen sei, denn die "EU-Qualifikationsrichtlinie" schreibe lediglich Mindeststandards vor. Entgegenstehende Äußerungen seien falsch (vgl. ANA-ZAR, Anwaltsnachrichten Ausländer- und Asylrecht, Beilage zur ZAR Heft 1, 2005, dort S. 2).

Es kann zunächst dahinstehen, ob zumindest die im Zeitpunkt der Ausreise 10 Jahre alte Berufungsklägerin zu 1. als vorverfolgt ausgereist anzusehen ist, da ihr n diesem Alter, zumal im Jahr 1998 unmittelbar Genitalverstümmelung drohte, wie weiter unter ausgeführt werden wird, da beiden Berufungsklägerinnen bei Rückkehr nach Sierra Leone mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Genitalverstümmelung und damit Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG droht.

Die Gefahr einer abschiebungsverbotsrelevanten Verfolgung ist gegeben, wenn dem betreffenden Ausländer bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wobei die insoweit erforderliche Zukunftsprognose auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abgestellt und auf einen absehbaren Zeitraum ausgerichtet sein muss (BVerwG, 03.12.1985 - 9 C 22.85 - EZAR 202 Nr. 6 = NVwZ 1986, 760 m.w.N.). Eine Verfolgung droht bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wenn bei qualifizierender Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (BVerwG, U. v. 14.12.1993 - 9 C 45.92 - DVBl. 1994, 524, 525). Einem Asylbewerber und entsprechend einem Ausländer, der sich auf ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG beruft, der bereits einmal politisch verfolgt war, kann eine Rückkehr in sein Heimatland nur zugemutet werden, wenn die Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (BVerfG, 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u. a. - BVerfGE 54, 341; BVerwG, 25.09.1984 - 9 C 17.84 - BVerwGE 70, 169 = EZAR 200 Nr. 12 m. w. N.). Nach diesem Maßstab wird nicht verlangt, dass die Gefahr erneuter Übergriffe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Vielmehr ist - über die theoretische Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, hinaus - erforderlich, dass objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen (BVerwG, U. v. 08.09.1992 - 9 C 62.91 - NVwZ 1993, 191). Hat der Asylsuchende sein Heimatland unverfolgt verlassen, hat er nur dann einen Asylanspruch bzw. einen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten, wenn ihm aufgrund eines asylrechtlich erheblichen Nachfluchttatbestandes politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (BVerfG, 26.11.1986 - 2 BvR 1058/85 - BVerfGE 74, 51, 64 = EZAR 200 Nr. 18 = NVwZ 1987, 311; BVerwG, 20.11.1990 - 9 C 74.90 - BVerwGE 87, 152).

Der Ausländer ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflicht gehalten, von sich aus umfassend die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse substantiiert und in sich schlüssig zu schildern sowie eventuelle Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren Verfahrensstadien nachvollziehbar aufzulösen, so dass sein Vortrag insgesamt geeignet ist, seinen Klageanspruch lückenlos zu tragen, wobei es bei der Darstellung der allgemeinen Umstände im Herkunftsland genügt, dass die vorgetragenen Tatsachen die nicht entfernt liegende Möglichkeit einer Verfolgung ergeben (vgl. BVerwG, 08.05.1984 - 9 C 141.83 - EZAR 630 Nr. 13, 23.11.1982 - 9 C 74.81 - BVerwGE 66, 237).

In Anwendung dieser Maßstäbe steht es aufgrund des Vortrags der Berufungsklägerinnen bzw. ihrer Eltern sowie nach Würdigung der von dem Verwaltungsgericht eingeholten Auskünfte sowie der weiteren eingeführten Erkenntnisse sachverständiger Organisationen und Stellen zur Überzeugung des Gerichts fest, dass den Berufungsklägerinnen bei einer Rückkehr nach Sierra Leone Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.

Der Vater der Berufungsklägerinnen hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main am 21. Januar 2002 vorgetragen, sowohl seine ältere Tochter xxxxxxxxx als auch seine Frau seien beschnitten. Seine älteste Tochter sei beschnitten worden, als sie auf Urlaub nach Kono gegangen sei. Seine Tochter sei damals zu einer Cousine gegangen, wo sie festgehalten und beschnitten worden sei. Er selbst sei zwar Christ und gegen eine Beschneidung, Eltern könnten sich jedoch in Sierra Leone nicht wirksam gegen Beschneidungen ihrer Kinder zur Wehr setzen, da diese mit Gewalt beschnitten würden, wenn die Zeit für die Initiation erreicht sei. In Sierra Leone begegne man kaum einer Frau, die nicht diesem Ritual unterzogen worden sei. Eine Ausnahme stelle lediglich der Stamm der Krio dar. Auch die Mutter der Berufungsklägerinnen trug im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 21. Januar 2002 vor, gegen die Beschneidung zu sein. Sie selbst sei beschnitten und habe deshalb viele Probleme gehabt. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 10. Juli 2003 vertiefte der Vater der Berufungsklägerinnen seinen Vortrag und trug vor, man könne keine Vorkehrungen gegen eine Beschneidung der Kinder treffen, hierbei handele es sich auch nicht um die Frage, ob man Christ sei oder nicht. Es seien zwar seine leiblichen Kindern, sie gehörten jedoch nach dem dortigen Verständnis der ganzen Familie. Wenn sich die Gelegenheit zur Beschneidung ergebe, werde das Mädchen beschnitten, ob die Eltern dies wollten oder nicht. Sie hätten ihr Bestes getan, die Kinder zu beschützen, aber wenn da Cousins oder Cousinen kämen, könne man nicht viel machen. Ausweislich der von dem Verwaltungsgericht eingeholten Stellungnahme des Instituts für Afrikakunde vom 10. April 2002, die im Grundsatz von den weiter eingeführten Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes vom 5. Oktober 2004 sowie dem Einzelentscheiderbrief des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom Oktober 2004 bestätigt werden, liegt Sierra Leone in einem Gürtel mit hoher Female Genital Mutilation (FGM) Verbreitung, der sich von Senegal im Westen bis zum Horn von Afrika im Osten sowie von Ägypten im Norden bis zur Zentralafrikanischen Republik im Süden erstreckt, wobei der Prozentsatz der Verbreitung von FGM unter der weiblichen Bevölkerung in Sierra Leone bei mindestens 80 %, teilweise auch bei 90 % liegt. Nach unwidersprochenen Darstellungen wird FGM in Sierra Leone in allen Regionen und in allen ethnischen Gruppen praktiziert, wobei lediglich die Krio, eine Bevölkerungsgruppe von etwa 2 % der Gesamtbevölkerung, FGM nicht anzuwenden scheinen. FGM wird sowohl von Menschenrechtlern als auch von Medizinern heftig kritisiert, da diese Praktik einen tiefen Eingriff in die physische und psychische Integrität von Mädchen und Frauen bedeutet, dessen Auswirkungen die Betroffenen meist ein Leben lang verfolgt. In Sierra Leone verbietet kein Gesetz FGM. Obwohl internationale Organisationen Aufklärungsarbeit über unmittelbare Risiken und weitere Folgen leisten und die Bevölkerung zur Ablehnung der FGM zu bewegen versuchen, gibt es kaum Fortschritte bei der Beseitigung dieser Praktik. Denn FGM ist tief in der afrikanischen Tradition verwurzelt und wird von vielen Menschen in den betreffenden Ländern als integraler, lebenswichtiger Bestandteil der Kultur angesehen, der nicht so ohne weiteres aufgegeben werden darf. Unter dem Militärregime Koroma (1997/1998) gab es in Sierra Leone sogar Rückenwind für FGM; Koroma selbst erklärte seine Unterstützung und sicherte die ungehinderte Ausübung dieser Praktik zu. In der traditionellen Gesellschaft wird FGM vor allem von sog. Geheimgesellschaften bzw. Geheimbünden propagiert, die nach außen stark abgeschottet sind und deren Innenleben für Außenstehende kaum erforschbar ist. Dass "geheime" an diesen Bünden ist weniger die Mitgliedschaft bestimmter Personen, sondern in erster Linie spezifisches traditionelles Wissen und das Praktizieren bestimmter Kulte und Rituale. In dem Sierra Leone-Menschenrechtsbericht der US-Regierung für das Jahr 2001 wird davon gesprochen, dass Mädchen bereits im Alter von fünf Jahren zu rituellen FGM geführt werden können. Anscheinend wird FGM spätestens kurz vor Eintritt der Geschlechtsreife vorgenommen (vgl. insgesamt Institut für Afrikakunde an VG Frankfurt am Main vom 10.04.2002, Bl. 128 ff. GA). Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass ältere Mädchen oder Frauen diesem Brauch ausgesetzt werden, wobei dem Auswärtigen Amt keine Fälle bekannt geworden sind, bei denen eine Frau über 20 Jahren nach ihrer Rückkehr nach Sierra Leone noch der unmittelbaren Gefahr einer Zwangsbeschneidung ausgesetzt worden ist, ohne dies völlig ausschließen zu können. Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist es jedoch fraglich, ob eine junge Frau ohne weiteres in den Familienverband zurückkehren kann, da mit einer "unbeschnittenen Frau" häufig die Verletzung der Familienehre verbunden ist. Für eine junge Frau ohne berufliche Absicherung bleiben bei Verstoß aus dem eigenen Familienverband kaum Möglichkeiten, sich eine eigene Existenz in Sierra Leone aufzubauen. Es trifft zu, dass diese Frauen - gerade in der Hauptstadt - häufig sexueller Gewalt ausgeliefert oder zur Prostitution gezwungen sind, um ihr Leben zu sichern (vgl. AA an OVG Bremen vom 05.10.2004). Das Institut für Afrikakunde führt in der bereits zitierten Auskunft weiter aus, dass hinsichtlich der Anwendung von FGM in Sierra Leone anscheinend regionale und ethnische Unterschiede bestehen. Indizien weisen darauf hin, dass Unterschiede einerseits zwischen der Gruppe der Krio und den übrigen ethnischen Gruppen, andererseits zwischen Stadt und Land bzw. Freetown und dem Rest des Landes liegen. Als Faustregel dürfte danach gelten, dass FGM bzw. die Akzeptanz von FGM umso wahrscheinlicher ist, je ländlicher, je geringer gebildet und je stärker verwurzelt in der afrikanischen Tradition die betreffende Personen und Personenkreise sind. Bildung, höherer sozialer Status und/oder städtische Lebensweise dürften die Inzidenz und Akzeptanz von FGM deutlich verringern. Die Frage der Religionszugehörigkeit kann im Einzelfall Bedeutung haben, sie ist aber anscheinend nicht grundsätzlich ausschlaggebend für die Frage, ob FGM praktiziert oder akzeptiert wird oder nicht. Die einfache Gleichsetzung wie Islam gleich FGM oder traditionell afrikanische Religion (vor allem Ahnenkult) gleich FGM oder Christentum gleich Immunität gegen FGM scheinen nicht berechtigt zu sein. Da die FGM-Inzidenz in Sierra Leone bei 80 bis 90 % liegt, also FGM nur in der Größenordnung von 10 bis 20 % nicht angewendet wird, der Großraum Freetown aber nahezu ein Drittel der gesamten Bevölkerung beherbergt, ergibt sich rein rechnerisch, dass auch die Hauptstadt von FGM nicht frei sein kann. Bildung/Ausbildung und FGM-Abneigung der Eltern dürften einen Einfluss auf die Abwendungswahrscheinlichkeit von FGM haben. Diese Aussage relativiere sich jedoch, wenn die Familie gezwungen sei, unter den Bedingungen der Tradition und der traditionellen Kultur zu leben. Dann sei es sehr wahrscheinlich, dass die Durchsetzung der Werte und Normen der traditionellen Kultur von der traditionellen Gesellschaft erzwungen würden. FGM sei in Sierra Leone extrem stark verbreitet und sei für die betroffenen Frauen und Mädchen mit großen Qualen und schwerwiegenden Folgen für das weitere Leben verbunden (vgl. insgesamt Institut für Afrikakunde, 10.04.2004 an VG Frankfurt, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der Einzelentscheiderbrief 10/04; AA an OVG Bremen, 05.10.2004).

Nach Auswertung der Auskünfte sowie des Vortrags der Eltern der Berufungsklägerinnen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass diesen entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts bei einer Rückkehr in ihr Heimatland Sierra Leone mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Genitalverstümmelung und damit Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG droht.

Allein die Genitalverstümmelungsrate von 80 bis 90 % rechtfertigt nach Auffassung der Richterin die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit, da bei qualifizierender Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen ( vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.1993, a.a.O.). Hinzu kommt im vorliegenden konkreten Einzelfall zwar auf der einen Seite, dass die Familie der Berufungsklägerinnen der gebildeten Schicht angehören, sich zum Christentum bekennen und selbst gegen Genitalverstümmelung eingestellt sind. Auf der anderen Seite konnte die Familie jedoch bereits einmal im Fall der älteren Tochter die Beschneidung durch Dritte nicht verhindern, vielmehr wurde diese durch Verwandte gegen den Willen der Eltern durchgeführt. Den eingeholten Auskünften ist auch durchaus nicht zu entnehmen, dass allein der Bildungsstand oder die Rückkehr nach Freetown ausreichenden Schutz vor entsprechenden Verfolgungsmaßnahmen bieten. Insoweit weist das Institut für Afrikakunde zutreffend darauf hin, dass in dem Großraum Freetown nahezu ein Drittel der Gesamtbevölkerung Sierra Leones lebt, so dass sich hieraus bereits rein rechnerisch ergibt, dass auch die Hauptstadt von FGM nicht frei sein könne. Weiter führt das Institut aus, dass Bildung/Ausbildung und FGM Abneigung der Eltern einen Einfluss auf die Anwendungswahrscheinlichkeit von FGM haben dürfte, wobei sich diese Aussage allerdings relativiere, wenn die Familie gezwungen sei, unter den Bedingungen der Tradition und der traditionellen Kultur zu leben ( Institut für Afrikakunde an VG Frankfurt am Main, a.a.O). In diesem Zusammenhang ist die besondere familiäre Situation der Berufungsklägerinnen mit entscheidend, da davon ausgegangen werden muss, dass zumindest die Mutter der Berufungsklägerinnen auf Grund ihres angeschlagenen Gesundheitszustandes - sie leidet nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts an einer paranoiden Psychose und ist behandlungsbedürftig - sowie auf Grund der Tatsache, dass diese zumindest noch für zwei minderjährige Kinder sorgen muss, nicht in der Lage sein wird, den Berufungsklägerinnen Schutz vor Übergriffen Dritter zu gewähren. Vielmehr wird die Mutter darauf angewiesen sein, dass sich auch Verwandte um die Kinder kümmern, was die Wahrscheinlichkeit entsprechender Übergriffe entscheidend erhöht. Auch der Vater der Berufungsklägerinnen wird, da er für den Unterhalt einer immerhin sechsköpfigen Familie aufkommen müsste, nicht verhindern können, dass diese bei "Betreuung" durch Verwandte oder andere Personen zwangsweise einer Beschneidung zugeführt werden. Insoweit werden die Ausführungen des Vaters der Berufungsklägerinnen durch die Auskünfte gestützt, dass der Familienverband und die Entscheidungshoheit der Eltern über ihre Kinder in Sierra Leone nicht mit westlichen Standards verglichen werden kann, vielmehr die traditionelle Kultur, zu der auch FGM gehört, durch die Gesellschaft insgesamt erzwungen wird. Gerade unter Berücksichtigung der individuellen Familienverhältnisse ist daher davon auszugehen, dass den Berufungsklägerinnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Genitalverstümmelung droht. Hierbei ist die Berufungsklägerin zu 2. als achtjähriges Mädchen aufgrund ihres Alters am stärksten bedroht, weil sie in die Altersgruppe fällt, in der üblicherweise Genitalverstümmelung durchgeführt wird. Jedoch auch für die mittlerweile 17-jährige Berufungsklägerin zu 1. droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Genitalverstümmelung, da zum einen nach der Auskunftslage nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch bei älteren Mädchen Genitalverstümmelung angewandt wird und zum anderen aufgrund der labilen Verhältnisse des Familienverbandes, insbesondere des Gesundheitszustands der Mutter davon auszugehen ist, dass diese ihre Kinder nicht ausreichend vor entsprechenden Übergriffen werden schützen können. Bei der Berufungsklägerin zu 1. kommt hinzu, worauf es jedoch entscheidungserheblich nicht ankommt, dass überwiegend viel dafür spricht, dass sie als "unbeschnittene Frau" ebenfalls Verfolgungsmaßnahmen gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt seien würde, da sie insoweit mit entsprechender Ausgrenzung aufgrund ihres "Unbeschnittenseins" wird rechnen müssen (vgl. AA an OVG Bremen, a.a.O.).

Soweit man der Auffassung nicht folgen sollte, dass der Berufungsklägerin zu 1. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Genitalverstümmelung bei Rückkehr nach Sierra Leone droht und insoweit auf das Alter der Berufungsklägerin zu 1. abstellt, kommt es entscheidend darauf an, ob diese vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die im Zeitpunkt der Ausreise 10 Jahre alte Berufungsklägerin zu 1. ist jedoch vorverfolgt ausgereist, wobei es hierbei nicht darauf ankommen kann, ob die Beschneidung an ihr bereits vollzogen wurde oder nicht. Im Jahr 1998 wurde die Beschneidung staatlicherseits sogar propagiert und gefördert, wie sich aus der Auskunft des Instituts für Afrikakunde an das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main ergibt. Die Berufungsklägerin zu 1. war daher unmittelbar gefährdet, zumal ihre ältere Schwester bereits gegen den Willen der Eltern beschnitten worden war. Die danach vorverfolgte Berufungsklägerin zu 1. ist jedoch bei Rückkehr in ihr Heimatland nicht hinreichend sicher vor entsprechenden Übergriffen, was sich aus der Auskunftslage sowie der besonders labilen Familiensituation ergibt. Insoweit kann auf die oben gemachten Ausführungen verwiesen werden.

Bei der Genitalverstümmelung handelt es sich zwar nicht um staatliche Verfolgung, gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG sind Verfolgungsmaßnahmen jedoch auch von nicht staatlichen Akteuren relevant, soweit der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Diese Voraussetzungen sind nach der Auskunftslage für Sierra Leone ohne weiteres zu bejahen, da in Sierra Leone keinerlei Gesetze Genitalverstümmelung verbieten und Genitalverstümmelung weiter von der Regierung geduldet wird (vgl. AA an OVG Bremen vom 05.10.2004) und in den Jahren 1997/98 sogar staatlicherseits unterstützt wurde ( vgl. Institut für Afrikakunde an VG Frankfurt am Main, a.a.O.).

Die Verfolgung knüpft allein an das Geschlecht im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG an, da von der Genitalverstümmelung ausschließlich Frauen und Mädchen betroffen sind. Sie führt auch zu einer Bedrohung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit sowie der Freiheit der betroffenen Personen, da Genitalverstümmelungen immer mit schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigungen verbunden sind und in einem gewissen Umfang sogar tödlich enden.

Da den Berufungsklägerinnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Genitalverstümmelung bei einer Rückkehr nach Sierra Leone droht, haben sie einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Mit dem Erfolg des hauptsächlich zur Entscheidung des Gerichts gestellten Verpflichtungsbegehrens braucht über das hilfsweise gestellte Verpflichtungsbegehren nicht mehr entschieden zu werden. Die negative Feststellung des Bundesamtes zu § 53 AuslG - nunmehr § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG - wird damit gegenstandslos, worauf zur Klarstellung hingewiesen wird (vgl. BVerwG, U. v. 26.06.2002 - 1 C 17.01 - NVwZ 2003, 356).

Da den Berufungsklägerinnen ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zur Seite steht, war gemäß § 59 Abs. 3 AufenthG (§ 50 Abs. 3 Satz 2 AuslG) die Abschiebungsandrohung insoweit aufzuheben, soweit darin den Berufungsklägerinnen die Abschiebung nach Sierra Leone angedroht worden ist.

Die Kostenentscheidung hinsichtlich des zurückgenommenen Teils folgt aus § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, da die Beklagte nur zu einem geringen Teil obsiegt. Gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG werden Gerichtskosten nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO, § 167 VwGO.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).

Ende der Entscheidung

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