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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 06.08.2007
Aktenzeichen: 4 TG 1133/07
Rechtsgebiete: HBO


Vorschriften:

HBO § 6 Abs. 5
HBO § 53 Abs. 3
HBO § 63 Abs. 1
1. Wird durch eine nachträgliche Anforderung nach § 53 Abs. 3 HBO die Errichtung einer baulichen Anlage angeordnet, die einer Baugenehmigung bedarf, ist diese grundsätzlich in der behördlichen Anordnung mitenthalten.

2. Einzelfall, in dem die unter Zulassung einer Abweichung gemäß § 63 Abs. 1 HBO erteilte Baugenehmigung zur Errichtung einer Lärmschutzwand keine subjektiven nachbarlichen Rechte verletzt.

3. Die Vermeidung möglicher Gesundheitsgefahren durch erhöhte Lärmpegel kann einen derart wichtigen öffentlichen Belang darstellen, dass die Interessen des Nachbarn an der Einhaltung der Abstandsvorschriften ausnahmsweise zurücktreten müssen.


HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

4 TG 1133/07

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Baurechts

hier: Nachbareilantrag

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 4. Senat - durch

Vorsitzende Richterin am Hess. VGH Dr. Rudolph, Richter am Hess. VGH Dr. Michel, Richter am Hess. VGH Dr. Dittmann

am 6. August 2007 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Kassel vom 23. Mai 2007 - 2 G 664/07 - wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,-- € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt (§ 147 Abs. 1 VwGO) und auch fristgerecht begründet worden (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO).

Die Beschwerde erweist sich jedoch als unbegründet. Denn bei summarischer Prüfung der von dem Antragsteller dargelegten Gründe ist davon auszugehen, dass das Verwaltungsgericht den Eilantrag des Antragstellers im Ergebnis zu Recht abgelehnt hat.

Die angefochtene Verfügung des Antragsgegners vom 17. April 2007 findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 3 HBO. Hiernach können die Bauaufsichtsbehörden an rechtmäßig bestehende oder im Bau befindliche bauliche oder andere Anlagen und Einrichtungen nach § 1 Abs. 1 Satz 2 HBO nachträglich Anforderungen stellen, soweit dies zur Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit oder von schweren Nachteilen für die Allgemeinheit notwendig ist. Entgegen der Auffassung des Antragstellers setzt die Anwendbarkeit des § 53 Abs. 3 HBO nicht voraus, dass die Gefahr erst nach der Legalisierung der baulichen Anlage entstanden ist. Vielmehr können nachträgliche Anforderungen auch darin begründet sein, dass eine Gefahr erst nachträglich erkannt wird (Franz in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Band I, Stand: Februar 2007, Art. 60 Rdnr. 317). So verhält es sich hier, da erst eine Schallmessung des Regierungspräsidiums Kassel im Jahre 2006 ergab, dass der zulässige Immissionsrichtwert überschritten wurde. Die nachträgliche Anforderung der Errichtung einer Lärmschutzwand war zur Abwehr einer Gefahr für die Gesundheit des Antragstellers sowie zur Abwehr von schweren Nachteilen für die Allgemeinheit im Sinne des § 53 Abs. 3 HBO i. V. m. § 3 BImSchG notwendig, weil aufgrund der nicht unerheblichen Überschreitung des zulässigen Immissionsrichtwertes eine nicht nur entfernte Möglichkeit des Eintritts von Gesundheitsschäden bestand. Der Antragsgegner hat die Anordnung nach § 53 Abs. 3 HBO auch ermessensfehlerfrei getroffen. Soweit die Anordnung - wie im vorliegenden Fall - zur Abwehr von Gefahren für Leben oder Gesundheit notwendig ist, muss die Behörde tätig werden (Franz, a. a. O., Art. 60 Rdnr. 346).

Die Verfügung vom 17. April 2007 enthält inzident auch die erforderliche Baugenehmigung für die Errichtung der Lärmschutzwand. Wird durch eine Anforderung nach § 53 Abs. 3 HBO die Beseitigung, Änderung oder - wie hier - die Errichtung einer baulichen Anlage angeordnet, die einer Baugenehmigung bedarf, ist diese grundsätzlich in der behördlichen Anordnung mit enthalten (vgl. Franz, a. a. O., Art. 60 Rdnr. 324 f., zur gleichlautenden bayerischen Regelung). Der Errichtung der Lärmschutzwand steht indes die nachbarschützende Bestimmung des § 6 Abs. 5 HBO entgegen, da die erforderliche Tiefe der Abstandsfläche von mindestens 3 m (§ 6 Abs. 5 Satz 4 HBO) nicht eingehalten wird. Da von der Lärmschutzwand gebäudeähnliche Wirkung ausgeht (vgl. § 6 Abs. 8 HBO), ist die Regelung des § 6 Abs. 5 HBO hier im vorliegenden Fall auch anwendbar. Der Abstandsflächenverstoß ist jedoch vorliegend durch die (ebenfalls in der Verfügung vom 17. April 2007 enthaltene) Zulassung einer Abweichung nach § 63 Abs. 1 HBO legalisiert worden.

Die unter Zulassung einer Abweichung erteilte Baugenehmigung zur Errichtung einer Lärmschutzwand in der Verfügung des Antragsgegners vom 17. April 2007 verletzt keine subjektiven nachbarlichen Rechte des Antragstellers. Es spricht Überwiegendes dafür, dass die von dem Antragsgegner zugelassene Abweichung rechtmäßig ist.

Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 HBO kann eine Abweichung nur zugelassen werden, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen hat der Gesetzgeber die Abweichung unter das Gebot der Rücksichtnahme gestellt, auf dessen Grundsätze bei der Anwendung des § 63 HBO zurückgegriffen werden kann. Soll von der nachbarschützenden Vorschrift des § 6 Abs. 5 Satz 4 HBO abgewichen werden, bedarf es des Vorliegens von privaten oder öffentlichen Belangen von herausgehobener Bedeutung, um sich gegen die Nachbarinteressen durchzusetzen (Hessischer VGH, Beschluss vom 24.02.2003 - 4 UZ 195/03 - BRS Nr. 132). Bei der Gewichtung der nachbarlichen Interessen ist zu bedenken, dass diesen Interessen schon deshalb ein gewisser Vorrang zukommt, weil sie auf einem Interessenausgleich beruhen, den der Gesetzgeber im Regelfall für sachgerecht angesehen hat. Soll von einer Norm abgewichen werden, die konkurrierende private Interessen im Rahmen eines gegenseitigen Austauschverhältnisses ausgleicht und damit Drittschutz vermittelt, genießen die nachbarlichen Interessen einen hohen Stellenwert, weil sie in das normative Konfliktschlichtungsprogramm Eingang gefunden haben, und damit als besonders schutzwürdig anerkannt worden sind. Eine Zurückstellung derart geschützter Interessen verlangt daher private und/oder öffentliche Belange von herausgehobener Bedeutung, um sich gegen die Nachbarinteressen durchzusetzen (Dhom in: Simon/Busse, a. a. O., Art. 70 Rdnr. 33 f.). Wenn sich in der Abwägung besonders schutzwürdige öffentliche Belange gegenüber den mit der Norm verfolgten Belangen durchsetzen, liegt ein die Abweichung rechtfertigender Sonderfall vor. Auch diese Fallgruppe verlangt eine Atypik, wobei sich die besondere Situation nicht aus der spezifischen Lage des Baugrundstücks ergibt, sondern aus den anders nicht durchsetzbaren sonstigen öffentlichen Belangen (Dhom, a. a. O., Art. 70 Rdnr. 30; BVerwG, Urteil vom 09.06.1978 - BVerwG IV C 54.75 - BVerwGE 56, 71; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.08.1995 - 7 B 2117/95 - BRS 57 Nr. 141; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 03.11.1999 - 8 A 10951/99 - BRS 62 Nr. 143).

Eine derartige atypische Situation ist hier gegeben, da öffentliche Belange vorliegen, die trotz der Verletzung der Abstandsregelungen im Rahmen einer Gesamtbewertung einen Verzicht des erforderlichen Abstands rechtfertigen. Die Vermeidung möglicher Gesundheitsgefahren durch erhöhte Lärmpegel stellt im vorliegenden Fall einen derart wichtigen öffentlichen Belang dar, dass die Interessen des Antragstellers an der Einhaltung der Abstandsvorschriften ausnahmsweise zurücktreten müssen. Gemäß § 22 Abs. 1 BImSchG haben auch die Betreiber von Anlagen, die keiner immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bedürfen, die Pflicht, schädliche Umwelteinwirkungen - dazu gehören auch Lärmimmissionen - soweit wie möglich zu vermeiden. Nach den durchgeführten Geräuschimmissionsmessungen wurde der hier nach der TA-Lärm geltende Immissionsrichtwert für Gewerbegebiete um 14,7 dB(A) (nach der Messung des Regierungspräsidiums Kassel aus dem Jahre 2006) bzw. 13 dB(A) (vgl. Gutachten der T. S. I. S. GmbH vom 2. Januar 2007) überschritten. Diese Überschreitung des zulässigen Immissionsrichtwertes ist so erheblich, dass von einer Gesundheitsgefahr bzw. von erheblichen Nachteilen für die Allgemeinheit im Sinne von § 3 Abs. 1 BImSchG auszugehen ist.

Die getroffene Abweichungsentscheidung ist auch nicht ermessensfehlerhaft. Voraussetzung für eine rechtmäßige Ermessensentscheidung ist eine vollständige Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts und dessen Einstellung in die Ermessenserwägungen (Allgeier/von Lutzau, Die Bauordnung für Hessen, 7. Aufl., Erl. § 63 Rz 63.1, S. 482; Bayerischer VGH, Beschluss vom 01.07.1993 - 2 CS 93.1437 - BRS 55 Nr. 188). Eine Abweichung ist nur nach sorgfältiger Ermittlung und Abwägung der normativ geschützten Belange und der im Einzelfall unabweisbar Beachtung verlangenden öffentlichen Interessen möglich (Dhom, a. a. O., Art. 70 Rdnr. 30). Diesen Anforderungen wird die angefochtene Verfügung des Antragsgegners vom 17. April 2007 gerecht. Der Antragsgegner hat nicht verkannt, dass die unmittelbar an der Grenze errichtete sechs Meter hohe Lärmschutzwand zu Beeinträchtigungen des Antragstellers (hinsichtlich Belichtung, Belüftung und Nachbarfrieden) führt. Er hat jedoch den öffentlichen Belang der Vermeidung von Gesundheitsgefahren durch zu hohe Lärmpegel zu Recht als höherrangiges Rechtsgut angesehen, der sich in der Gewichtung der entgegenstehenden Belange durchsetzt. Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist auch nicht davon auszugehen, dass der Lärmschutz durch andere, den Antragsteller weniger (bzw. nicht) beeinträchtigende Maßnahmen gewährleistet werden kann. Auch die Beigeladene hat bereits eine Anzahl von Maßnahmen zur Lärmreduzierung (z. B. Einhausung der Säge, Umrüstung der Säge auf ein "Flüstersägeblatt", Umprogrammierung der Ablaufsteuerung, vgl. Schriftsatz der Beigeladenen vom 30. April 2007 [Bl. 215 ff. Gerichtsakte]) durchgeführt, ohne dass diese zur Einhaltung der zulässigen Immissionsrichtwerte geführt hätten. Andere betriebstechnische Maßnahmen (z. B. eine Verlagerung des Rundholzplatzes oder eine Kapselung der Quer- und Seitenförderer) sind nach Einschätzung der gemäß § 24 BImSchG zuständigen Aufsichtsbehörde unverhältnismäßig (vgl. Anordnung des Regierungspräsidiums Kassel vom 29. August 2006, Bl. 41 ff. Gerichtsakte). Auch eine Einhausung des Rundholzplatzes scheint nach summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren (in Anbetracht der Größe des Platzes von ca. 15.000 qm) unverhältnismäßig (vgl. hierzu den insoweit unwidersprochenen Vortrag der Beigeladenen in ihrem Schriftsatz vom 22. Juni 2007, Bl. 214 Gerichtsakte). Im Rahmen der Gewichtung der betroffenen Belange war schließlich zu Lasten des Antragstellers zu berücksichtigen, dass ihm im Zeitpunkt der Errichtung seines Gebäudes bekannt war, dass auf dem angrenzenden Grundstück der Beigeladenen, das bereits mit einem Sägewerk bebaut war, im Grenzbereich noch eine Rundholzanlage errichtet werden sollte. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus den von der Beigeladenen mit Schriftsatz vom 2. Juli 2007 vorgelegten Unterlagen (vgl. B. 226 ff. Gerichtsakte). Dem Antragsteller wäre es bei der Errichtung seines Vorhabens daher möglich und zumutbar gewesen, durch bauliche Vorkehrungen (Stellung des Gebäudes auf dem Grundstück, Anordnung der Wohnräume) auf die Lärmimmission des benachbarten Sägewerks einschließlich des Rundholzplatzes Rücksicht zu nehmen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, da diese keinen Antrag gestellt und sie sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 162 Abs. 3 VwGO).

Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach der Bedeutung der Sache für den Antragsteller (§ 53 Abs. 3 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG) und folgt der Wertfestsetzung durch die erste Instanz.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG.

Ende der Entscheidung

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