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Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 09.01.2006
Aktenzeichen: 5 TG 1493/05
Rechtsgebiete: VwGO
Vorschriften:
VwGO § 146 Abs. 4 Satz 6 |
2.) Von offensichtlicher Unrichtigkeit in diesem Sinne kann insbesondere auch dann ausgegangen werden, wenn das Verwaltungsgericht einen offensichtlichen Satzungsmangel, der zur Ungültigkeit der Satzungsgrundlage für die angefochtene Heranziehung zu einem Abwasserbeitrag führt, unberücksichtigt gelassen und so den Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt hat.
HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS
In dem Verwaltungsstreitverfahren
wegen Heranziehung zu einem Abwasserbeitrag;
hier: Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung
hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 5. Senat - durch
Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Lohmann, Richter am Hess. VGH Dr. Apell, Richter am Hess. VGH Schneider
am 9. Januar 2006 beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 22. April 2005 - 2 G 5940/04 - geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen den Beitragsbescheid der Antragsgegnerin vom 11. Oktober 2004 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des gesamten Verfahrens zu tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 235,26 € festgesetzt.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss, mit dem das Verwaltungsgericht ihren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Heranziehung zu einem Beitrag für die Erneuerung des Abwassernetzes im Stadtteil Münzenberg der Antragsgegnerin abgelehnt hat, ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
Was die Zulässigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO im Hinblick auf das Erfordernis eines zuvor an die Behörde gerichteten Aussetzungsantrags gemäß § 80 Abs. 6 VwGO angeht, ergeben sich nach Auffassung des Senats keine durchgreifenden Bedenken. Die Antragsgegnerin hat die beantragte Aussetzung der sofortigen Vollziehung in einem Parallelverfahren abgelehnt und dem in dem Schreiben der Bevollmächtigten der Antragsteller vom 1. Dezember 2004 zum Ausdruck gebrachten Verständnis, dass diese Ablehnung auch auf das vorliegende Verfahren bezogen werde, nicht widersprochen. Bei dieser Ausgangslage erübrigte es sich, den Aussetzungsantrag nochmals - für gerade dieses Verfahren - zu stellen.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist darüber hinaus auch begründet, denn die angefochtene Heranziehung erweist sich mangels gültiger Satzungsgrundlage für die Erhebung von Abwasserbeiträgen für das hier streitige Leitungsbauvorhaben als offensichtlich rechtswidrig.
Die Antragsgegnerin stützt die Heranziehung der Antragsteller auf ihre Entwässerungssatzung vom 6. Februar 2003 in der geänderten Fassung, die durch die Erste Änderungssatzung vom 23. April 2003 hergestellt worden ist. Bezogen auf das Sammelleitungsnetz beschränkte sich die Satzung in ihrer ursprünglichen Fassung darauf, in § 10 Abs. 2 einen "Beitrag für das Verschaffen einer erstmaligen Anschlussmöglichkeit an eine Sammelleitung" zu regeln. Dieser Beitrag beträgt nach § 10 Abs. 2 Satz 2 "je qm Grundstücksfläche 6,22 € und je qm Geschossfläche 7,78 €". Nach § 10 Abs. 2 Satz 3 reduziert sich der daraus folgende "Gesamtbeitrag" ... "um zwei Drittel, wenn an eine bestehende Sammelleitung angeschlossen wird". Eine auf das Leitungsnetz bezogene Bemessungsregelung auch für den Beitragstatbestand der Erneuerung erhielt die Satzung erst mit dem durch die Erste Änderungssatzung neu gefassten § 10 Abs. 6. Als "Beitrag für die generelle Erneuerung des Kanalleitungsnetzes im Stadtteil Münzenberg" ist in dieser Bestimmung ein "Beitrag je qm Grundstücksfläche" von einheitlich 1,02 € sowie ein "Beitrag je qm Geschossfläche" von (a) 0,28 € für den "Bereich GF 0,3", (b) 0,47 € für den "Bereich GF 0,5", (c) 0,67 € für den "Bereich GF 0,7" und schließlich (d) 0,75 € für den "Bereich GF 0,8" vorgesehen.
Mit der vorgenannten Regelung enthält das Satzungsrecht der Antragsgegnerin keine gültige Bemessungsregelung, die es erlaubt, einen Erneuerungsbeitrag für die hier streitige Erneuerung des Sammelleitungsnetzes im Stadtteil Münzenberg zu erheben. Die Regelung geht in Bezug auf die in der Geschossfläche sich ausdrückenden Nutzungskomponente des verwendeten Summenmaßstabs aus Grundstücksfläche und Geschossfläche von einer unterschiedlichen Vorteilsgewichtung im Verhältnis Schaffensbeitrag/Erneuerungsbeitrag aus, die nicht nachzuvollziehen ist. Während nämlich der Bemessung des Schaffungsbeitrags ein der Quadratmeteranzahl Geschossfläche folgender l i n e a r e r Anstieg der Belastung zugrunde gelegt wird, was dem gleichfalls linearen Anstieg bei der Grundstücksfläche entspricht, findet beim Erneuerungsbetrag nach § 10 Abs. 6 der Satzung mit den hier für einzelne Geschossflächenbereiche vorgesehenen gestaffelten Beitragssätzen ein p r o g r e s s i v e r Anstieg der Belastung für die Geschossfläche statt. Das führt zu einem Widerspruch innerhalb dieser Beiträge, der sich in einer belastungsmäßigen Ungleichbehandlung der Anliegergruppen niederschlägt. Mit dem in § 10 Abs. 6 geregelten Erneuerungsbeitrag werden Altanlieger in Ergänzung ihres ursprünglichen Schaffungsbeitrags belastet. Der in § 10 Abs. 2 geregelte Schaffungsbeitrag belastet demgegenüber Neuanlieger; er dient ihrer Beteiligung an sämtlichem Einrichtungsaufwand einschließlich zwischenzeitlich angefallenen beitragsfähigen Aufwands für durchgeführte Erneuerungen und Erweiterungen. Durch die Erhebung einerseits eines Erneuerungs- oder Erweiterungsbeitrags, der die ursprüngliche Belastung der Altanlieger ergänzt, andererseits eines von vornherein erhöhten Schaffungsbeitrags bei den Neuanliegern wird im Verhältnis dieser beiden Anliegergruppen die Belastungsgleichheit erreicht, die Ziel der Globalberechnung ist. Das bedeutet, dass das Gewicht der Bemessungskomponente der Geschossfläche beim ergänzenden Erneuerungsbeitrag nicht anders ausgestaltet werden darf als beim Schaffungsbeitrag der Neuanlieger. Wird bei dem letztgenannten Beitrag ein linearer Anstieg der Belastungshöhe mit zunehmender Geschossfläche praktiziert, so muss Gleiches auch für den Erneuerungsbeitrag der Altanlieger gelten. Ein einseitig nur bei der Beitragsbelastung der Altanlieger vorgesehener progressiver Anstieg ist mit dem Grundsatz der gleichmäßig vorteilsgerechten Belastung nicht zu vereinbaren und hat die Ungültigkeit der Bemessungsregelung zur Folge.
Unabhängig von der Ungleichbehandlung der betroffenen Anliegergruppen löst ein progressiver Anstieg der Belastung mit zunehmender Geschossfläche auch deswegen Bedenken aus, weil erfahrungsgemäß die Zunahme der Nutzungsintensität mit steigender Geschossfläche eher schwächer wird als stärker. Wollte man von einem linearen Anstieg überhaupt abweichen, so entspräche der Lebenswirklichkeit eher ein degressiver Verlauf. Da schon der beschriebene Gleichheitsverstoß zur Ungültigkeit der Bemessungsregelung führt, braucht auf diesen Punkt aber nicht weiter eingegangen zu werden.
Ein offensichtlicher Mangel haftet im Übrigen der Bemessungsregelung in der Entwässerungssatzung der Antragsgegnerin auch insoweit an, als die Satzung in § 10 Abs. 2 Satz 3 beim Schaffungsbeitrag vorsieht, dass sich der aus Grundstücksflächenanteil und Geschossflächenanteil zusammengesetzte Gesamtbeitrag "um zwei Drittel" reduziert, "wenn an eine bestehende Sammelleitung angeschlossen wird". Mit dieser Regelung dürfte die Situation eines Grundstücks gemeint sein, welches bei Verlegung der Leitung mangels Erfüllung vorteilsbegründender Eigenschaften - etwa der Bebaubarkeit - noch nicht der Beitragspflicht unterlag, dann jedoch später tatsächlich angeschlossen worden ist. Für die Ermäßigung des Schaffungsbeitrags um zwei Drittel für ein solches Grundstück gibt es keine Rechtfertigung. Das Prinzip der Globalberechnung verlangt eine gleichmäßige vorteilsangemessene Belastung des Grundstücks zum jeweiligen Zeitpunkt des Vorteilseintritts. Hierbei muss grundsätzlich der Beitragssatz angewendet werden, der dem aktuellen Stand der Globalberechnung entspricht und als solcher in der Beitragssatzung ausgewiesen ist (in diesem Sinne Senatsbeschluss vom 10.11.2005 - 5 UZ 46/05 -).
Aufgrund der Ungültigkeit des der Heranziehung der Antragsteller zugrunde gelegten Satzungsrechts hätte das Verwaltungsgericht dem Aussetzungsantrag der Antragsteller nach § 80 Abs. 5 VwGO stattgeben müssen. Obwohl die Antragsteller im Beschwerdeverfahren die eigentlich maßgeblichen Mängel des Satzungsrechts nicht bezeichnet und dargelegt haben, sieht sich der Senat nicht daran gehindert, auf ihre Beschwerde die erstinstanzliche Entscheidung abzuändern und antragsgemäß die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs anzuordnen. Nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO prüft zwar das Oberverwaltungsgericht "nur die dargelegten Gründe". Das bedeutet, dass das Beschwerdegericht tatsächlich nicht dargelegte Gründe grundsätzlich unberücksichtigt zu lassen und die Beschwerde ohne Rücksicht auf die aus solchen Gründen sich ergebende Fehlerhaftigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung als unbegründet zurückzuweisen hat (Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 14. Aufl. 2005, § 146 Rn. 43). Etwas anderes muss jedoch dann gelten, wenn die angegriffene Entscheidung aus anderen als den dargelegten Gründen o f f e n s i c h t l i c h u n r i c h t i g ist. Es wäre untragbar, wenn das Gericht trotz offensichtlicher Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung die Beschwerde zurückzuweisen hätte. Der Senat folgt insoweit der überzeugenden Kommentierung von Kopp/Schenke (a. a. O.). Der Sinn des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO liegt darin, dass das Gericht nicht von sich aus in eine zu einer Verzögerung des Beschwerdeverfahrens führende umfassende Überprüfung der angefochtenen verwaltungsgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzentscheidung eintreten soll, wenn die Beschwerdebegründung hierfür keinen Anlass bietet. Diese ratio greift aber nicht in den Fällen ein, in denen die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung ohne weiteres erkennbar ("evident") ist und es damit keiner weiteren gerichtlichen Nachprüfung bedarf, um deren Unrichtigkeit festzustellen. Um eine Konstellation dieser Art handelt es sich im vorliegenden Fall. Mit der unterschiedlichen Gewichtung der Geschossflächenkomponente bei der Belastung einerseits der Neuanlieger im Rahmen ihres Schaffungsbeitrags, andererseits der Altanlieger im Rahmen ihres ergänzenden Erneuerungsbeitrags enthält die Beitragsbemessungsregelung der Entwässerungssatzung der Antragsgegnerin einen Gültigkeitsmangel, der sich ohne weiteres durch die Lektüre des Satzungstextes auf Grund eines Vergleichs der in § 10 Abs. 2 und § 10 Abs. 6 der Satzung getroffenen Regelungen ergibt. Dass insoweit ein inhaltlicher und nicht schon ein formeller Mangel des Satzungsrechts vorliegt, ändert nichts an der Evidenz dieses Satzungsmangels und an der daraus folgenden Befugnis des Beschwerdegerichts, hierauf gestützt die erstinstanzliche Entscheidung auch ohne entsprechende Darlegung des Beschwerdeführers abzuändern. Den Gemeinden selbst wäre nicht damit gedient, wenn gleichsam sehenden Auges offensichtlich ungültiges Satzungsrecht im Beschwerdeverfahren unbeanstandet bliebe; denn sie müssen an einer frühzeitigen Aufdeckung solcher Mängel interessiert sein, um sie mit Blick auf die streitige Heranziehung gegebenenfalls rechtzeitig heilen zu können.
Gemäß § 154 Abs. 1 VwGO hat die Antragsgegnerin die Kosten des gesamten Verfahrens zu tragen.
Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf den §§ 52 Abs. 3, 47, 53 Abs. 3 Nr. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO und § 68 Abs. 1 Satz 4 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Ende der Entscheidung
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