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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 12.07.2007
Aktenzeichen: 5 TG 771/07
Rechtsgebiete: BauGB


Vorschriften:

BauGB § 123
BauGB § 124
Aufgrund eines Erschließungsvertrages mit einem Erschließungsunternehmer können einzelne Straßenteile nur insoweit dem Abrechnungsregime der Gemeinde entzogen werden, als ihnen nach ihrer räumlichen Ausdehnung und Bedeutung die Fähigkeit zukommt, wie ein Abschnitt gleichsam "stellvertretend Straße" zu sein.
HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

5 TG 771/07

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Erschließungsbeitrags

hier: Antrag auf Aussetzung der Vollziehung

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 5. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Lohmann, Richter am Hess. VGH Dr. Apell, Richter am Hess. VGH Schneider

am 12. Juli 2007 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Kassel vom 21. März 2007 - 6 G 225/07 - abgeändert.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 13. November 2006 gegen den Erschließungsbeitragsbescheid der Antragsgegnerin vom 18. Oktober 2006 wird in Höhe von 1.245,44 € angeordnet.

Die Antragsgegnerin hat die Kosten des gesamten Verfahrens tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf einen Betrag von 415, -- € festgesetzt.

Gründe:

Die Antragsgegnerin hat mit Bescheid vom 18. Oktober 2006 den Antragsteller für sein Grundstück Flur 2, Flurstück 18/4, "Zum D. ...", für die Erstherstellung der Erschließungsanlage "Zum D." zu einem Erschließungsbeitrag in Höhe von 7.116,80 € herangezogen. In die der Berechnung zu Grunde gelegten durch die Erschließungsanlage erschlossenen Flächen hat die Antragsgegnerin nicht die durch kurze Stichwege erschlossenen Hinterliegergrundstücke 7/1, 7/2, 40/15 und 40/16 einbezogen. Zudem hat sie die sowohl an einen der beiden Stichwege als auch an die Straße "Zum D." angrenzenden Grundstücke 7/3, 40/12 und 40/17 als Eckgrundstücke angesehen und nur mit 2/3 der jeweiligen Grundstücksfläche berücksichtigt. Dies hat die Antragsgegnerin damit begründet, dass sie die Herstellung der beiden Stichwege durch Erschließungsverträge bei einem Weg den Anliegern und bei dem anderen einer Wohnbau-Gesellschaft bereits vor endgültiger Herstellung der Straße "Zum D." übertragen habe. Dadurch seien diese Wege, die jeweils nur zwei Hinterliegergrundstücke erschließen, eigene Erschließungsanlagen. Den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des dagegen gerichteten Widerspruchs des Antragstellers hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21. März 2007 im Wesentlichen mit der gleichen Begründung abgelehnt.

Die dagegen gerichtete Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig und begründet. Anders als das Verwaltungsgericht hat der Senat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitigen Erschließungsbeitragsbescheids der Antragsgegnerin vom 18. Oktober 2006, die es nach der im gerichtlichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - entsprechend anzuwendenden Vorschrift des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO rechtfertigen, den Vollzug in der aus dem Tenor ersichtlichen Höhe vorläufig auszusetzen.

Die Frage, ob ein Straßenzug eine einzelne Erschließungsanlage ist oder aus mehreren Anlagen besteht, ist - ausgehend von einer natürlichen Betrachtungsweise - grundsätzlich nach der durch die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Entstehens sachlicher Erschließungsbeitragspflichten geprägte Erscheinungsbild zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 1996 - 8 C 17.94 -, BVerwGE 101, 12). Allerdings kann ausnahmsweise von dieser grundsätzlich gebotenen natürlichen Betrachtungsweise abzuweichen sein, etwa wenn rechtliche Gründe dafür sprechen, dass eine einheitliche Verkehrsanlage in mehrere selbstständig beitragsfähige Erschließungsanlagen zerfällt. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine bereits endgültig hergestellte Erschließungsanlage erst nach dem Entstehen der sachlichen Beitragspflicht um eine - ebenfalls zum Anbau bestimmte - weitere Teilstrecke verlängert wird. Auch wenn der gesamte Straßenzug nach natürlicher Betrachtungsweise nunmehr als eine Anlage erscheint, ist der Verlängerungsteil aus Rechtsgründen für die Abrechnung als eigene Erschließungsanlage einzuordnen (vgl. BVerwG, Urteile vom 5. Oktober 1984 - 8 C 41.83 -, DVBl 1985, 294; und vom 18. Mai 1990 - 8 C 80.88 -, NVwZ 1991, 77).

Ein rechtlicher Grund, bei einer nach natürlicher Betrachtungsweise einheitlichen Straße von verschiedenen Erschließungsanlagen auszugehen, kann auch das sogenannte unterschiedliche "Abrechnungsregime" sein, das aufgrund eines Erschließungsvertrages für einen bestimmten Abschnitt der Straße gilt (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24. November 1998 - 3 A 706/91 -, NWVBl 1999, 262; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 27. April 2000 - 9 M 4297/99 -, Juris; a.A. OVG Schleswig Holstein, Urteil vom 18. Dezember 2002 - 2 L 246/01 -, NordÖR 2003, 206). Dies kann jedoch nur gelten, wenn die erschließungspflichtige Gemeinde in dem konkreten Erschließungsvertrag die Erschließungskosten auf den die Erschließung übernehmenden Dritten gemäß § 124 Abs. 2 Satz 2 Baugesetzbuch übertragen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 1996, a.a.O.).

Der Möglichkeit einer Gemeinde, durch Abschluss eines Erschließungsvertrages abweichend von der natürlichen Betrachtungsweise einzelne abrechenbare Anlagen zu bilden, sind jedoch ähnlich wie bei der Abschnittsbildung Grenzen gesetzt. So ist etwa eine Abschnittsbildung nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts am verfassungsrechtlichen Willkürverbot zu messen und darf nicht vorgenommen werden, wenn die Ausbaukosten je Quadratmeter Straßenfläche in dem einen Abschnitt über 1/3 höher liegen als in dem anderen, da die Abschnittsbildung sonst zu einer nicht zu rechtfertigende Benachteiligung der Anlieger des einen Abschnitts führt (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Juni 1996 - 8 C 30.94 -, BVerwGE 101, 225). Auch das OVG Nordrhein-Westfalen hat in seinem oben genannten Urteil vom 24. November 1998 eine dementsprechende Grenze für die Berücksichtigung der sogenannten "Regimeentscheidung" erwogen, musste diese Frage in dem damaligen Fall jedoch nicht entscheiden.

Grundvoraussetzung für die Berücksichtigung als eigenständige Erschließungsanlage abweichend von der natürlichen Betrachtungsweise - auch wenn ihr Ausbau aufgrund eines Erschließungsvertrages geregelt ist - ist es nach Ansicht des Senats allerdings, dass der betreffende Abschnitt zumindest die Grundvoraussetzungen erfüllt, um nach natürlicher Betrachtungsweise - unter Außerachtlassung der Gesamtanlage - überhaupt eine Erschließungsanlage darstellen zu können. Er muss seiner räumlichen Ausdehnung und seiner Bedeutung nach gleichsam stellvertretend "Straße" sein können (so Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 7. Aufl., § 14 Rdn 23, zum Vorliegen eines abrechnungsmäßig verselbständigungsfähigen Abschnitts). Dafür sind Länge, Funktion und Ausstattung wichtige Indizien. Legt man dies im vorliegenden Fall zugrunde, ist eine Einordnung der beiden streitigen Stichwege als eigenständig vor der endgültigen Herstellung der Gesamtanlage errichtete Erschließungsanlagen schlechterdings nicht begründbar. Beide Stichwege erschließen im Stil einer schmalen Zufahrt jeweils nur zwei zusätzliche Hinterliegergrundstücke. In Länge - höchstens 40 m -, Ausbaubreite und Ausstattung - unter anderen fehlt eine Straßenbeleuchtung - bleiben sie deutlich hinter der Straße "Zum D." zurück. Im Zeitpunkt ihrer Herstellung lag deshalb eine Einordnung als eigenständige Erschließungsanlagen fern. Würden derart kleine Straßenstücke als eigenständige Erschließungsanlagen angesehen, käme es zu einer "Atomisierung" des Erschließungsbeitragsrechts, was im Ergebnis zu einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung der jeweiligen Anlieger führen würde.

Der Antragsteller begehrt deshalb zu Recht, bei der Berechnung seines Erschließungsbeitrags auch die durch die beiden Stichwege als Teil der Erschließungsanlage "Zum D." zusätzlich erschlossenen Grundstücke einzubeziehen. Auch eine Eckgrundstücksvergünstigung für die Parzellen 7/3, 40/12 und 40/17 ist demnach nicht berechtigt.

Da aus diesen Gründen bereits dem Aussetzungsantrag des Antragstellers stattzugeben war, brauchte nicht weiter geklärt zu werden, ob im Übrigen alle Voraussetzungen für die Entstehung der Erschließungsbeitragspflicht bereits vorliegen. Die in den Akten enthaltenen Fotografien zeigen, dass der Ausbau der Straße "Zum D." nicht alle Voraussetzungen der Erschließungsbeitragssatzung der Antragsgegnerin erfüllt. Ob insoweit eine Abweichungssatzung vorliegt - in den Akten ist sie nicht enthalten - konnte offen bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über den Streitwert auf den §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1, 47 Gerichtskostengesetz - GKG -.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO und § 68 Abs. 1 Satz 4 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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