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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 06.06.2001
Aktenzeichen: 5 UE 245/01
Rechtsgebiete: BaföG


Vorschriften:

BaföG § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4
BaföG § 10 Abs. 3 Satz 3
Steht nach Überschreiten der Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG fest, dass aufgrund einer einschneidenden Veränderung der persönlichen Verhältnisse des Auszubildenden die Einkommensgrenze des § 79 BSHG in absehbarer Zeit unterschritten wird, ist Ausbildungsförderung aufgrund Bedürftigkeit bereits vor dem Unterschreiten dieser Grenze zu leisten (§ 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 BAföG).
Hessischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes Urteil

5 UE 245/01

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Ausbildungsförderung

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 5. Senat - durch Richter am Hess. VGH Dr. Apell als Berichterstatter auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 6. Juni 2001 für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 4. Oktober 2000 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen, wobei Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist hinsichtlich der festgesetzten außergerichtlichen Kosten der Klägerin vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Das beklagte Studentenwerk wendet sich mit der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil, mit dem der Klägerin Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz dem Grunde nach bewilligt worden ist.

Die am 20. Mai 1960 geborene Klägerin schloss im Januar 1982 erfolgreich eine Lehre zur Buchhändlerin ab. In der Folgezeit war sie mit einer Unterbrechung bis zum Zeitpunkt ihrer Kündigung bis zum 31. März 1995 in diesem Beruf tätig. Anschließend war sie bis einschließlich September 1996 bei verschiedenen Arbeitsämtern arbeitslos gemeldet. Laut Bescheinigung des Arbeitsamtes Celle vom 27. November 1996 war sie dort vom 1. April 1995 bis zum 30. Juni 1996 (richtig: 1995) arbeitslos gemeldet. Eine Vermittlung war in dieser Zeit nach der Bescheinigung aufgrund ihrer gesundheitlich bedingten Einschränkungen nicht möglich. Laut Bescheinigung des Arbeitsamtes Tauberbischofsheim vom 24./28. November 1996 war sie dort vom 10. Juli 1995 bis zum 20. Mai 1996 arbeitslos gemeldet und ist wegen ihrer gesundheitlich bedingten Einschränkungen den körperlichen Anforderungen ihres erlernten Berufes nicht mehr gewachsen. Eine Vermittlung sei infolge ihrer Erkrankung nicht möglich gewesen. Vom 22. Mai bis zum 12. Oktober 1996 war die Klägerin laut dessen Bescheinigung vom 26. November 1996 beim Arbeitsamt Lüneburg arbeitslos gemeldet, da ein Antrag auf berufliche Rehabilitation lief.

Die Klägerin leidet an Beschwerden der Wirbelsäule. Dazu legte sie mit ihrem Antrag auf Bewilligung von Ausbildungsförderung ärztliche Atteste eines Orthopäden und eines Facharztes für Allgemeinmedizin - Chirotherapie - vor (Beiakte Bl. 20, 21). Außerdem liegt ein arbeitsamtsärztliches Gutachten des Arbeitsamtes Tauberbischofsheim vom 22. August 1995 vor (Beiakte Bl. 19, 22), nach dem die Klägerin vollschichtig leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne häufiges Bücken und ohne Arbeiten in gebeugter Zwangshaltung ausführen kann.

Bereits mit Antrag vom 26. Oktober 1995 hatte die Klägerin beim Arbeitsamt Tauberbischofsheim Leistungen für ihre berufliche Rehabilitation beantragt. Mit Schreiben vom 22. März 1996 erhielt sie darauf die Mitteilung der Bundesanstalt für Arbeit, dass die Voraussetzungen für berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation nicht vorlägen und der Antrag zur weiteren Bearbeitung an das zuständige Arbeitsamt weitergeleitet sei. Beim Arbeitsamt erfolgte Anfang Mai die abschließende Besprechung der Möglichkeiten einer beruflichen Rehabilitation.

Bereits zum Sommersemester 1996 hatte die Klägerin auf ihre Bewerbung hin einen Studienplatz im Studienfach Psychologie (Diplom) zugewiesen erhalten, diesen jedoch nicht angetreten. Nachdem ihre Bewerbung zum Wintersemester 1996/97 erneut erfolgreich war, nahm sie nunmehr das Studium an der Justus-Liebig-Universität Gießen auf. Zum Zeitpunkt der Aufnahme ihres Studiums bezog die Klägerin aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit Leistungen des Arbeitsamtes in Höhe von 1.215,36 DM monatlich. Außerdem besaß sie auf einem Sparkonto einen Betrag von 8.819,95 DM. Ihre Unterkunftskosten betrugen ohne Heizkosten zum 1. Oktober 1996 331,10 DM.

Mit Antrag vom 23. Oktober 1996 beantragte die Klägerin beim damals zuständigen Studentenwerk Gießen die Bewilligung von Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz trotz Überschreitens der Altersgrenze und bezog sich auf ihre Wirbelsäulenerkrankung, die eine Weiterbeschäftigung in ihrem Beruf als Buchhändlerin und eine erneute Vermittlung unmöglich mache.

Mit Bescheid vom 3. Februar 1997 lehnte das Studentenwerk Gießen die Förderung nach Überschreitung der Altersgrenze ab. Es handele sich um eine Entscheidung gemäß § 50 Abs. 1 Satz 4 Nr. 3 BAföG für den gesamten Ausbildungsabschnitt. Eine Bedürftigkeit infolge einschneidender Veränderung der persönlichen Verhältnisse, insbesondere eine Behinderung, unfallbedingte Berufsunfähigkeit oder schwere Erkrankung liege nicht vor. Die schwere Vermittelbarkeit sei auf die Arbeitsmarktsituation zurückzuführen.

Mit Schreiben vom 26. Februar 1997 legte die Klägerin Widerspruch ein. Die Tätigkeit einer Buchhändlerin zwinge sie, zwischen acht und neun Stunden am Tag zu stehen. Außerdem seien im Packraum Kartons mit bis zu 40 kg Gewicht zu bewegen. Sie legte hierzu ein Schreiben ihrer ehemaligen Arbeitgeberin vom 25. Februar 1997 vor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juli 1997 wies der Beklagte - das inzwischen zuständige Studentenwerk Heidelberg - den Widerspruch zurück.

Am 27. August 1997 hat die Klägerin zur Niederschrift des Urkundsbeamten beim Verwaltungsgericht Gießen Klage erhoben.

Zum Sommersemester 1999 - ihrem 6. Fachsemester - wechselte die Klägerin an die Universität Heidelberg. Mit Schreiben vom 6. April 1999 bestätigte das Akademische Prüfungsamt für Geisteswissenschaften der Universität Gießen, dass die Klägerin an der Universität Gießen ihre Vordiplomprüfung in allen Fächern bis auf Physiologie bestanden habe und dort zum Ende des Sommersemesters 1998 eine Wiederholungsprüfung vorgesehen sei. Am 12. Mai 1999 hat die Klägerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Am 14. Juni 1999 erhielt sie - nach Ablegen der Wiederholungsprüfung im Fach Physiologie - das Zeugnis über die bestandene Vordiplomprüfung der Universität Gießen. Den Anordnungsantrag lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 7. September 1999 ab, da die Voraussetzungen der Förderung ab dem 1. April 1999, dem 5. Fachsemester, nicht dargelegt worden seien.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide des Studentenwerks Gießen vom 3. Februar 1997 und 24. Juli 1997 zu verpflichten, festzustellen, dass die Förderungsvoraussetzungen für ihr Studium in der Fachrichtung Psychologie (Abschlussdiplom) an den Universitäten Gießen und Heidelberg nach Überschreitung der Altersgrenze nach § 10 Abs. 3 BAföG vorliegen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Dabei hat das Studentenwerk Heidelberg sich auf die Ausführungen des vorher zuständigen Studentenwerks Gießen bezogen.

Mit Urteil vom 4. Oktober 2000 hat das Verwaltungsgericht dem Klageantrag stattgegeben und die Voraussetzungen des Vorliegens für die Bewilligung von Ausbildungsförderung nach Überschreitung der Altersgrenze nach § 10 Abs. 3 BAföG bejaht.

Auf Antrag des Beklagten hat der Senat mit Beschluss vom 25. Januar 2001 die Berufung zugelassen (5 UZ 3623/00).

Zur Begründung der Berufung führt der Beklagte aus, die Kündigungen und die anschließende Arbeitslosigkeit seien keine Umstände, die die Klägerin unversehens getroffen habe. Sie selbst habe angegeben, die Kündigung sei wegen verschiedener krankheitsbedingter Fehlzeiten ausgesprochen worden. Aus den ärztlichen Bescheinigungen ergebe sich, dass die Klägerin ein langjähriges Wirbelsäulenleiden habe, so dass sie sich bereits vor der Kündigung habe darauf einstellen können, dass sie auf Dauer aus gesundheitlichen Gründen ihren Beruf in dem Einsatzgebiet einer Buchhandlung nicht würde ausüben können. Auch sei eine solche Tätigkeit nicht unmöglich, da es für eine Buchhändlerin im Bereich Sachbearbeitung, Bearbeitung von Meldungen im Hörfunk- und Fernsehbereich auch andere Arbeitsplätze geben könne. Darüber hinaus sei sie nicht durch die krankheitsbedingte Kündigung bedürftig geworden, da sie Arbeitslosenhilfe erhalten habe, die nur geringfügig unter der Grenze nach § 79 Bundessozialhilfegesetz - BSHG - gelegen habe. Zusätzlich habe sie bei Studienaufnahme eigenes Vermögen in Höhe von 8.816,-- DM gehabt, das nach dem Bundessozialhilfegesetz vorrangig einzusetzen gewesen sei und mit dem sie über ein paar Jahre hätte die Arbeitslosenhilfe aufstocken können. Des Weiteren habe sie ihre Ausbildung nicht unverzüglich begonnen, da sie den ihr zugewiesenen Studienplatz für das Sommersemester 1996 nicht angetreten habe.

Der Beklagte beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Gießen die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Entgegen den im Zulassungsbeschluss geäußerten Zweifeln des Senats, habe sie die Ausbildung, für die Ausbildungsförderung begehrt werde, ohne schuldhaftes Zögern nach Eintritt der Bedürftigkeit und damit unverzüglich aufgenommen. Zwar habe sie bereits zum Sommersemester 1996 eine Zulassung für das Studium der Psychologie erhalten. Sie habe diesen Platz jedoch nicht annehmen können, weil das Verfahren zur beruflichen Rehabilitation, das sie vorrangig betrieben habe, im März 1996 beim Arbeitsamt noch nicht abgeschlossen gewesen sei. Die abschließende Besprechung der Möglichkeiten einer beruflichen Rehabilitation habe erst im Mai 1996 beim Arbeitsamt Buchen stattgefunden. Während des Antragsverfahrens sei es ihr nicht gestattet und nicht zumutbar gewesen, parallel weitere Maßnahmen einzuleiten, insbesondere den ihr angebotenen Studienplatz anzunehmen. Die Bewerbung für den Studienplatz zum Sommersemester 1996 habe sie - dies hat sie in der mündlichen Verhandlung ausgeführt - vorsorglich bereits innerhalb der Antragsfrist bei der ZVS eingereicht, da sie davon ausgegangen sei, dass bis zum Beginn des Sommersemesters auch Klarheit über die Möglichkeiten ihrer beruflichen Rehabilitation beständen. So habe sie verhindern wollen, Zeit zu verlieren. Nachdem sich die Möglichkeit einer beruflichen Rehabilitation endgültig zerschlagen habe, habe sie umgehend alles Erforderliche in die Wege geleitet und zum Wintersemester 1996 das Studium aufgenommen. Entgegen der Ansicht des Beklagten sei sie durch die Kündigung ihrer Arbeitsstelle und die anschließende Arbeitslosigkeit auch unversehens getroffen worden. Sie habe mit einer Kündigung trotz verschiedener krankheitsbedingter Fehlzeiten nicht gerechnet, auch nicht mit einer Unmöglichkeit, ihren erlernten Beruf aufgrund des Wirbelsäulenleidens weiterhin auszuüben. Dies sei erst nach der Kündigung aufgrund der ärztlichen Atteste und der fehlenden Vermittelbarkeit klar geworden. Die vom Beklagten angeführten übrigen Tätigkeiten etwa im Bereich Hörfunk oder Fernsehen könnten schon deshalb nicht überzeugen, da es sich dabei offensichtlich nicht um typische Tätigkeiten aus dem Berufsbild einer Buchhändlerin handele. Zutreffend habe das Verwaltungsgericht auch die Bedürftigkeit bejaht. Die von ihr seinerzeit bezogene Arbeitslosenhilfe in Höhe von 1.215,36 DM habe unter der Einkommensgrenze nach dem Bundessozialhilfegesetz von 1.395,10 DM gelegen. Auch das unstreitig zu diesem Zeitpunkt vorhandene Vermögen in Höhe von 8.816,-- DM führe zu keiner anderen Entscheidung. Zunächst sei die Berechnung des Beklagten zurückzuweisen, nach dem sie daraus habe jährliche Kapitalerträge von 440,-- DM ziehen können. Dies setze eine unrealistische hohe Verzinsung von 5 % voraus. Zum anderen sei das bei Studienbeginn vorhandene Vermögen in den folgenden Monaten aufgebraucht worden, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Angesichts der durch das Zulassungsverfahren bedingten Unsicherheit, überhaupt einen Studienplatz zu erhalten, konnte von ihr nicht verlangt werden, zunächst den Teil ihres Vermögens der über der Grenze des Sozialhilferechts gelegen habe, restlos zu verbrauchen.

Die Beteiligten haben sich schriftsätzlich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle des Senats einverstanden erklärt.

Im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Akte des Verwaltungsgerichts Gießen 3 G 786/99 und der Verwaltungsvorgänge des Beklagten (2 Hefter) verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die durch Beschluss vom 25. Januar 2001 - 5 UZ 3623/00 - zugelassene Berufung des Beklagten, über die mit Einverständnis der Beteiligten der Berichterstatter anstelle des Senats entscheidet (§ 87a Abs. 2 und 3 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -), ist auch im Übrigen zulässig, aber nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der Klägerin dem Grunde nach (§ 50 Abs. 1 Satz 4 Nr. 3 Bundesausbildungsförderungsgesetz - BAföG - in der Fassung der Bekanntmachung vom 06.06.1983, BGBl. I S. 645, ber. S. 1680, hier anzuwenden in der zuletzt durch Gesetz vom 17.07.1996 geänderten Fassung, BGBl. I S. 1006) ein Anspruch auf Gewährung von Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz für ihr Studium der Psychologie trotz Überschreitens der Altersgrenze von 30 Jahren (§ 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG) zusteht, da bei ihr die Voraussetzungen der Ausnahme des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4, Satz 3 BAföG gegeben sind. Die Zweifel hinsichtlich der Unverzüglichkeit der Aufnahme der Ausbildung (§ 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG), die zur Zulassung der Berufung des Beklagten geführt haben, hat die Klägerin im Berufungsverfahren ausräumen können.

Nach § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 BAföG wird Ausbildungsförderung trotz der Vollendung des 30. Lebensjahres geleistet, wenn der Auszubildende infolge einer einschneidenden Veränderung seiner persönlichen Verhältnisse bedürftig geworden ist und noch keine Ausbildung, die nach diesem Gesetz gefördert werden kann, berufsqualifizierend abgeschlossen hat. Zusätzlich muss nach Satz 3 der Bestimmung der Auszubildende die Ausbildung unverzüglich nach dem Eintritt einer Bedürftigkeit infolge einschneidender Veränderungen seiner persönlichen Verhältnisse aufnehmen. Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin gegeben.

Sie war in diesem Sinne einer einschneidenden Veränderung ihrer persönlichen Verhältnisse ausgesetzt. Zu den persönlichen Verhältnissen im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 BAföG gehören alle subjektiven und objektiven Umstände, die die Lebensführung in wirtschaftlicher, beruflicher oder sonstiger persönlichen Weise prägen. Einschneidend ist eine Veränderung, wenn sie den Auszubildenden zu einer völligen Neuorientierung zwingt. Auch ein Arbeitsplatzverlust wegen krankheits- oder unfallbedingter Behinderung kann eine derartige einschneidende Veränderung der persönlichen Verhältnisse darstellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.1985 - 5 C 55.89 -, Buchholz 436.36 § 10 BAföG Nr. 9 = FamRZ 1986, 108; OVG NW, Urteil vom 25.06.1987 - 16 A 446/87 -, FamRZ 1988, 216; Rothe/Blanke, BAföG, Stand: April 2000, § 10 Rdnr. 20).

Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse geht der erkennende Berichterstatter wie schon das Verwaltungsgericht davon aus, dass die Klägerin durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes, der letztlich auf ihr Wirbelsäulenleiden zurückzuführen war, zu einer völligen Neuorientierung in Bezug auf ihre berufliche Lebensführung gezwungen war. Aus den vorgelegten ärztlichen Attesten sowie dem Bericht über die arbeitsamtsärztliche Untersuchung vom 22. August 1995 ergibt sich deutlich, dass dieses Leiden vorliegt, sowie dass die Klägerin deshalb nur leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten ohne häufiges Bücken und Beugen ausüben kann. Die Bescheinigungen der Arbeitsämter Celle, Tauberbischofsheim und Lüneburg belegen außerdem, dass die Klägerin in der Zeit vom 1. April 1995 bis zum 12. Oktober 1996 dort jeweils arbeitslos gemeldet war und aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen nicht in ihrem Beruf vermittelt werden konnte. Insofern greifen auch die vom Beklagten geäußerten Hinweise auf seiner Ansicht nach bestehende Arbeitsmöglichkeiten als Buchhändlerin außerhalb des üblichen Buchhandels für die Klägerin aufgrund mangelnder Konkretisierungen nicht durch. Es ist nicht erkennbar, dass für sie eine derartige Möglichkeit eines Arbeitsplatzes bestand.

Die Klägerin ist infolge dieser einschneidenden Veränderung ihrer persönlichen Verhältnisse auch bedürftig geworden. Der Begriff der Bedürftigkeit ist im Bundesausbildungsförderungsgesetz nicht näher bestimmt. Sie ist nicht etwa gleichzusetzen mit den Voraussetzungen, unter denen dieses Gesetz nach Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Auszubildenden und seines - eventuellen - Ehegatten Ausbildungsförderung gewährt. Da die Entscheidung, ob überhaupt Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz nach Überschreiten der Altersgrenze gewährt werden kann, vorgelagert ist, ist bedürftig in diesem Sinne nur derjenige, dem ausreichende Mittel zur Lebensführung fehlen und der außer Stande ist, sich diese Mittel selbst zu beschaffen. Dies ist grundsätzlich gegeben, wenn der Auszubildende über einzusetzendes Vermögen im Sinne von § 88 Bundessozialhilfegesetz - BSHG - nicht verfügt und sein monatliches Einkommen die nach § 79 BSHG maßgeblichen Einkommensgrenzen nicht übersteigt (BAföGVwV 10.3.6 zu § 10 Abs. 3; BVerwG, a. a. O.). Diese Bedürftigkeit muss kausal auf die einschneidende Veränderung der persönlichen Verhältnisse zurückzuführen sein.

Die Klägerin bezog zum Zeitpunkt der Aufnahme des Studiums Leistungen des Arbeitsamtes infolge ihrer Arbeitslosigkeit in Höhe von 1.215,36 DM. Wie bereits das Verwaltungsgericht dargelegt hat, betrug die Einkommensgrenze nach § 79 BSHG ab dem 1. Juli 1995 1.004,-- DM, ab dem 1. Juli 1996 1.014,-- DM als Grundbetrag, wozu die Aufwendungen für die Kosten einer angemessenen Unterkunft hinzuzurechnen waren. Die nachgewiesenen Unterkunftskosten der Klägerin (ohne Heizkosten) betrugen zum 1. Oktober 1996 331,10 DM. Insgesamt betrug demnach die Einkommensgrenze bei Studienbeginn für die Klägerin am 1. Oktober 1996 mindestens 1.345,10 DM und wurde durch die Leistungen der Arbeitslosenverwaltung nicht erreicht. Auch der Senat geht wie das Verwaltungsgericht davon aus, dass der Annahme der Bedürftigkeit der Klägerin im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 BAföG nicht entgegensteht, dass sie bei Aufnahme des Studiums über ein Sparguthaben von 8.819,-- DM verfügte. Zwar handelt es sich dabei um Vermögen, das gemäß § 88 BSHG grundsätzlich zur Lebensführung einzusetzen ist. Mit Einsatz dieses Vermögens zu den Leistungen der Arbeitsverwaltung hätte die Klägerin für eine gewisse Zeit - im äußersten Fall einige Jahre - jeweils knapp über die Einkommensgrenze des § 79 BSHG kommen können, wobei sie zu einer derartigen "Streckung" des Vermögensverbrauches allerdings rechtlich nicht verpflichtet gewesen wäre. Es stand zum Zeitpunkt der Aufnahme des Studiums aber bereits fest, dass auch bei Einsatz des Vermögens nach dessen Verbrauch die von Jahr zu Jahr steigende Grenze des § 79 BSHG unterschritten würde.

Der Senat geht davon aus, dass es nicht dem Sinn und Zweck des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 BAföG entsprechen würde, in einem derartigen Fall "Bedürftigkeit" erst anzunehmen, wenn das einzusetzende Vermögen tatsächlich verbraucht ist, aber bereits vorher feststeht, dass in absehbarer Zeit auch die Grenze des § 79 BSHG unterschritten wird. Das Zurückgreifen auf die Voraussetzungen des Bundessozialhilfegesetzes ist insofern nur ein Hilfsmittel für den Regelfall, das nicht als zwingend im Sinne einer starren gesetzlichen Verweisung anzusehen ist. Wollte man dies nämlich annehmen, würde dies bedeuten, dass in einem Fall wie dem vorliegenden der Auszubildende erst den Zeitpunkt abwarten müsste, in dem er seine begrenzten Vermögensmittel verbraucht hätte, um dann als "Bedürftiger" die förderungsfähige Ausbildung aufzunehmen. Das Bundesausbildungsförderungsgesetz zeigt jedoch in § 10 Abs. 3 Satz 3 durch das zusätzliche Erfordernis der "Unverzüglichkeit" der Aufnahme der Ausbildung nach Eintritt der Bedürftigkeit, dass es als Ziel hat, die Überschreitung der Altersbeschränkung in möglichst geringen zeitlichen Grenzen zu halten. Dies verpflichtet den Auszubildenden, seine Ausbildung auch im Hinblick auf Beginn und Ablauf des Ausbildungsabschnitts, für den er Förderung beantragt, umsichtig zu planen und zielstrebig durchzuführen. Dieses Ziel würde in sein Gegenteil verkehrt, wollte man in einem Fall wie dem vorliegenden verlangen, den feststehenden Zeitraum abzuwarten, bis das Vermögen soweit verbraucht ist, dass die Grenze des § 79 BSHG unterschritten wird. Es entspricht deshalb Sinn und Zweck des Gesetzes, die Verwirklichung des Merkmals der "Bedürftigkeit" bereits anzunehmen, wenn ihr Eintritt feststeht, wie hier, die vorhandenen Vermögenswerte aber im Rahmen der Anrechnungsvorschriften des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zu berücksichtigen. Keinen Ausweg dürfte auch die Möglichkeit bieten, dass der Auszubildende zwar die Ausbildung früher beginnen darf, Ausbildungsförderung aber erst ab dem Zeitpunkt erhält, zu dem Bedürftigkeit nach Verbrauch des Sparguthabens eingetreten wäre (so wohl im Ergebnis: OVG NW, Urteil vom 25.07.1987, a. a. O.). Zum einen besteht bei Besitz eines Vermögensguthabens nicht die Pflicht, dessen Verbrauch zeitlich entsprechend aufzuteilen, zum anderen könnte damit der Auszubildende im Regelfall gerade nicht die vom Gesetz gewollte Ausbildung früher aufnehmen, da es ihm an der Förderung fehlte.

Im Berufungsverfahren hat die Klägerin auch die Zweifel des Senats daran ausräumen können, dass sie ihre zu fördernde Ausbildung "unverzüglich" nach Eintritt der Bedürftigkeit aufgenommen hat (§ 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG).

Ob der Auszubildende den Ausbildungsabschnitt, für den er Ausbildungsförderung beantragt, "unverzüglich" begonnen hat, beurteilt sich nicht allein nach objektiven Umständen. Es ist vielmehr auch in subjektiver Hinsicht zu prüfen, ob ein etwaiges Unterlassen notwendiger Maßnahmen dem Auszubildenden vorwerfbar ist und ihn damit ein Verschulden trifft. Auf schuldhaftem Zögern beruht das Verhalten eines Auszubildenden dann, wenn es eine rechtliche Obliegenheit verletzt und dem Auszubildenden vorwerfbar ist. Dabei ist davon auszugehen, dass der die Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG überschreitende Auszubildende verpflichtet ist, seine Ausbildung im Hinblick auf den Beginn und den Ablauf des Ausbildungsabschnitts, für den er Förderung beantragt, umsichtig zu planen und zielstrebig durchzuführen (vgl. BVerwG, Urteile vom 21.11.1991 - 5 C 40.88 -, Buchholz 436.36 § 10 BAföG Nr. 19 = FamRZ 1992, 1011, und vom 16.12.1992 - 11 C 24.92 -, Buchholz 436.36 § 10 Nr. 21 = NVwZ-RR 1993, 415 = FamRZ 1993, 1004).

Hier hatte die Klägerin auf ihre Bewerbung hin bereits für das Sommersemester 1996 über die zentrale Vergabestelle einen Studienplatz im Fach Psychologie zugewiesen erhalten, ihn aber nicht angetreten. Vielmehr hat sie das Studium erst - nach erneuter Zuweisung eines Studienplatzes - im Wintersemester 1996/97 aufgenommen. Dies hat sie nunmehr im Berufungsverfahren derart erläutern können, dass diese Verzögerung ihr nicht vorwerfbar ist. Sie hat nachgewiesen, dass sie bereits im Oktober 1995 Leistungen für ihre berufliche Rehabilitation beantragt hatte, daraufhin aber erst mit Schreiben der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 22. März 1996 die Mitteilung erhalten hatte, dass die Voraussetzungen für berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation nicht vorlägen und dass der Antrag an das zuständige Arbeitsamt weitergeleitet sei. Dort fand dann erst im Mai 1996 die abschließende Besprechung der Möglichkeiten einer beruflichen Rehabilitation der Klägerin statt, d. h. deutlich nach Beginn des Sommersemesters 1996. Die Klägerin hat dazu in der mündlichen Verhandlung auch glaubhaft dargelegt, dass sie bei Einleitung des Antragsverfahrens auf die berufliche Rehabilitation nicht von einer derartig langen Dauer des Verfahrens ausgegangen war und sich vorsorglich Anfang des Jahres 1996 bereits für einen Studienplatz beworben hatte, da sie das Gefühl, "nichts zu tun", nicht habe ertragen können. Sie habe aber die Möglichkeiten einer beruflichen Rehabilitation vor Antritt einer vollständig neuen Ausbildung abwarten wollen und während des laufenden Verfahrens sei ihr die Aufnahme des Studiums verwehrt gewesen.

Unter Berücksichtigung dieses Sachverhalts ist die Verzögerung des Studienantritts der Klägerin weder objektiv noch subjektiv vorwerfbar. Vielmehr ist es nachzuvollziehen, dass eine vollständige berufliche Neuorientierung durch Beginn eines Studiums erst nach Abklärung aller übrigen beruflichen Möglichkeiten durch die Arbeitsverwaltung erfolgt. Dies ist auch nicht als Verstoß gegen die rechtliche Obliegenheit, das Studium baldmöglichst zu beginnen, anzusehen. Vielmehr ist es sinnvoll, erst die Chancen für weniger einschneidende berufliche Neuorientierungen abzuklären.

Weil die Klägerin auch noch keine Ausbildung, die nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz gefördert werden kann, berufsqualifizierend abgeschlossen hatte, steht ihr Ausbildungsförderung nach diesem Gesetz für ihr Studium der Psychologie dem Grunde nach zu.

Da somit die Berufung des Beklagten ohne Erfolg bleibt, hat er die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO), wobei gemäß § 188 Satz 2 VwGO Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der festzusetzenden Kosten beruht auf den §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung in Verbindung mit § 167 VwGO.

Die Zulassung der Revision beruht auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die Frage des Zeitpunkts des Eintritts der Bedürftigkeit in einem Fall, in dem der Einsatz eines begrenzten Sparvermögens das Unterschreiten der Einkommensgrenze des § 79 BSHG nur für eine bereits absehbare Zeit hinausschieben kann, ist bisher höchstrichterlich nicht geklärt.

Ende der Entscheidung

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