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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 06.11.2007
Aktenzeichen: 6 TJ 1913/07
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 162 Abs. 2 S. 2
VwGO § 75
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren kann auch dann nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO für notwendig erklärt werden, wenn das Vorverfahren erst nach Erhebung einer Untätigkeitsklage durch Erhebung des Widerspruchs durch den Bevollmächtigten gegen einen nach Klageerhebung ergangenen Verwaltungsakt eröffnet wurde.
HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

6 TJ 1913/07

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Immissionsschutzrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 6. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Igstadt, Richterin am Hess. VGH Fischer, Richter am Hess. VGH Bodenbender

am 6. November 2007 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 24. August 2007 aufgehoben. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren durch die Klägerin war notwendig.

Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; Auslagen Dritter werden nicht erstattet.

Gründe:

Die gemäß § 146 Abs. 1 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere innerhalb der Frist gemäß § 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO eingelegte Beschwerde hat Erfolg und führt unter Aufhebung der entgegenstehenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts zur Feststellung, dass die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren durch die Klägerin notwendig war. Die für diese Feststellung erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO sind entgegen der Auffassung der Vorinstanz in ihrem Beschluss sämtlich erfüllt.

Nach der vorgenannten Bestimmung sind, soweit ein Vorverfahren geschwebt hat, Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines Rechtsbeistands, die in diesem Vorverfahren entstanden sind, erstattungsfähig, wenn das Gericht die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig erklärt.

Wie von § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO vorausgesetzt, hat ein Vorverfahren, in dem Gebühren und Auslagen des von der Klägerin bevollmächtigten Rechtsanwaltes angefallen sind, "geschwebt". Das Vorverfahren war dadurch in Gang gesetzt worden, dass die Klägerin gegen den im Verlaufe des erstinstanzlichen Klageverfahrens nachträglich erlassenen Ablehnungsbescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 4. Oktober 2005 durch den hiermit beauftragten Prozessbevollmächtigten Widerspruch eingelegt hatte. Die damit begründete Anhängigkeit des Vorverfahrens reicht zur Begründung des gesetzlichen Tatbestandes in § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO aus. Dass das Vorverfahren im späteren Verlauf nicht durch den Erlass eines Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Darmstadt abgeschlossen wurde, ist ohne Belang; für den gerichtlichen Ausspruch zu Gunsten des Prozessbeteiligten, dass die Gebühren und Auslagen seines Prozessbevollmächtigten erstattungsfähig sind, ist nicht erforderlich, dass das Vorverfahren seinen Abschluss gefunden hat (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. August 1991 - 11 S 177/91 -, NVwZ-RR 1992, 388; Friese, DÖV 1974, 264 [267], Fußnote 43).

Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts steht der Feststellung nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO auch nicht entgegen, dass das Vorverfahren erst nach Erhebung der Untätigkeitsklage am 19. August 2005 durch Erhebung des Widerspruchs vom 25. Oktober 2005 gegen den Ablehnungsbescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt eingeleitet worden ist. Allerdings entspricht es allgemeiner Auffassung, dass eine Entscheidung nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO nur dann getroffen werden kann, wenn sich an das Vorverfahren ein Hauptsacheverfahren angeschlossen hat (Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., Rdnr. 16 zu § 162, m.w.N.). Aus diesem Rechtsgrundsatz kann indessen entgegen der von der Beklagten und der Beigeladenen geteilten Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts (im gleichen Sinne der von der Beklagten in Bezug genommene Beschluss des Niedersächsischen OVG vom 8. Januar 2007 - 1 OB 81/07 -, NVwZ-RR 2007, 430), nicht entnommen werden, dass der Beginn des Vorverfahrens der Einleitung des Hauptsacheverfahrens zeitlich vorangegangen sein müsste.

Die Forderung, dass sich an das Vorverfahren ein Hauptsacheverfahren angeschlossen haben muss, dient ausschließlich dazu, den Anwendungsbereich des § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO von dem des gleichlautenden, aber nur für das Verwaltungsverfahren geltenden § 80 Abs. 2 HessVwVfG abzugrenzen. Ein Ausspruch über die Erstattungsfähigkeit der im Vorverfahren angefallenen Gebühren und Auslagen eines beauftragten Rechtsanwalts soll im gerichtlichen Verfahren nur im Rahmen einer die Hauptsache abschließenden Sachentscheidung ergehen. Eine Entscheidung nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO scheidet folglich in Fällen des sog. isolierten Vorverfahrens aus, dem kein gerichtliches Verfahren in der Hauptsache nachfolgt. Wegen der Vorläufigkeit des Eilverfahrens nach § 80 bzw. § 123 VwGO ist für eine Kostenentscheidung nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO auch nach Abschluss des Verfahrens um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes kein Raum (vgl. zum Vorstehenden: Hess. VGH, Beschluss vom 22. Juni 1998 - 4 TJ 315/98 -, ESVGH 49, 78). Auf Grund dieses dem Erfordernis eines sich "anschließenden" Hauptsacheverfahrens allein zu Grunde liegenden Rechtsgedankens ist es letztlich unerheblich, ob von den Betroffenen vor oder nach Klageerhebung Widerspruch eingelegt wurde. Der Grundsatz, wonach sich an das Vorverfahren ein Hauptsacheverfahren anschließen muss, knüpft lediglich an den Regelfall an, in dem nach Erlass des behördlichen Bescheides bzw. nach Erlass des Widerspruchsbescheides Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage gem. § 42 VwGO erhoben wird. Dieser Grundsatz rechtfertigt es aber aus den vorgenannten Gründen nicht, den hier vorliegenden Fall aus dem Anwendungsbereich des § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO auszuschließen, in dem der streitgegenständliche Bescheid der Behörde erst nach Erhebung der Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO erlassen und das Vorverfahren folglich erst nach Erlass dieses Bescheides eingeleitet werden kann. Wesentlich ist allein, dass die Feststellung nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO einer dem Vorverfahren nachfolgenden gerichtlichen Hauptsacheentscheidung zugeordnet werden kann.

Dem Kläger kann in diesem Fall die Feststellung nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO auch nicht unter Hinweis darauf verweigert werden, dass mangels einer Fristsetzung durch das Verwaltungsgericht gemäß § 75 Satz 3 VwGO die Klage nicht wegen der mangelnden Durchführung des Vorverfahrens als unzulässig abgewiesen werden konnte, es der Durchführung des Vorverfahrens also nicht mehr bedurfte (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Mai 1987 - BVerwG 4 C 30.86 -, NVwZ 1987, 969). Die Einlegung des Widerspruchs ist nämlich ungeachtet der Entbehrlichkeit des Vorverfahrens gleichwohl statthaft (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. Januar 2004 - 14 E 1259/03 -, NVwZ-RR 2004, 395; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., Rdnr. 25). Die Einlegung des Widerspruchs ungeachtet der Entbehrlichkeit des Vorverfahrens gleichwohl als zulässig zu betrachten, rechtfertigt sich daraus, dass die Widerspruchsbehörde trotz Rechtshängigkeit der Klage unverzüglich über den rechtzeitig eingelegten Widerspruch entscheiden muss (BVerwG, Urteil vom 22. Mai 1987, a.a.O.). Im Hinblick hierauf kann der Kläger die Hoffnung hegen, dass die Widerspruchsbehörde noch vor dem Abschluss des gerichtlichen Verfahrens eine Widerspruchsentscheidung zu seinen Gunsten trifft (Vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. August 1991, a.a.O.; OVG Hamburg, Beschluss vom 16. November 1993 - Bs VII 120/93 -, NVwZ-RR 1994, 621). Erweist sich die Einlegung des Widerspruchs danach als zulässig, kann es, entgegen der Auffassung des OVG Hamburg in der vorgenannten Entscheidung, für die Kostenfeststellung nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO nicht darauf ankommen, ob die Durchführung des Vorverfahrens notwendig war (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. August 1991, a.a.O.). Ebenso wenig darf die Entscheidung, dass die Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts im Vorverfahren erstattungsfähig sind, von weitergehenden Anforderungen bei der Durchführung des Vorverfahrens abhängig gemacht werden. Insbesondere ist es für § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO unerheblich, ob das Vorverfahren durch eine von dem Kläger beantragte oder angeregte Aussetzung des Verfahrens nach § 75 Satz 3 VwGO nachgeholt, oder aber ohne Rücksicht auf das Vorverfahren wie ein "normales" Klageverfahren fortgeführt wird (so aber Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 8. Januar 2007, a.a.O.)

Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war auch im Sinne von § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO notwendig. Notwendig ist die Zuziehung eines Bevollmächtigten dann, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. August 1991, a.a.O.; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., Rdnr. 18 zu § 162 VwGO). Eine Fallgestaltung, in der es dem Betroffenen (ausnahmsweise) ohne weiteres auch selbst möglich ist, das Verfahren ohne anwaltlichen Beistand zu führen, ist vorliegend nicht gegeben. Bei der nach Erhebung der Untätigkeitsklage durch nachträglichen Erlass des Ablehnungsbescheides eingetretenen Sachlage handelte es sich um eine für die Klägerin schwer zu überblickende Verfahrenskonstellation, bei der sie sich hinsichtlich der Frage, ob die Einlegung eines Widerspruchs und die Durchführung des Vorverfahrens trotz bereits erfolgter Klageerhebung zulässig und sinnvoll war, der Unterstützung eines Rechtsanwalts bedienen durfte. Da hierzu ein weiterer, mit zusätzlichen Kosten verbundener Auftrag notwendig war (vgl. § 17 Nr. 1 RVG), ist es für die Frage der Notwendigkeit einer Hinzuziehung des Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren auch unerheblich, dass dieser bereits zuvor von der Klägerin mit der Erhebung der Untätigkeitsklage und der Durchführung des Klageverfahrens beauftragt worden war. Die weitergehende Frage, ob sich die Einlegung des - für die Zulässigkeit der Klage nicht erforderlichen - Widerspruchs durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegen den nachträglich ergangenen Ablehnungsbescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt als sachgerecht und sinnvoll darstellt, ist für die Frage der Erstattungsfähigkeit der durch die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren angefallenen Gebühren und Auslagen unerheblich. Eine solche rückwirkende Beurteilung der Notwendigkeit der Hinzuziehung des Bevollmächtigten aus der objektiven Sicht eines rechtskundigen Betrachters ist unzulässig (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O., Rdnr. 3 zu § 162 VwGO).

Im Übrigen lässt sich auch bei einer solchen objektiven Beurteilung die Notwendigkeit der Beauftragung des Prozessbevollmächtigten mit der Durchführung des Vorverfahrens nicht in Zweifel ziehen. Das Regierungspräsidium Darmstadt hat in seinem an das Verwaltungsgericht gerichteten Schriftsatz vom 11. November 2005 darauf hingewiesen, dass im Rahmen des Vorverfahrens über die Frage einer eventuellen Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens entschieden werden könne und dass im Hinblick hierauf die Durchführung des Widerspruchsverfahrens erforderlich sei. Ging aber die Behörde selbst vom Erfordernis eines Vorverfahrens aus, kann der Klägerin nicht entgegen gehalten werden, die Beauftragung eines Rechtsanwalts in diesem Verfahren sei überflüssig gewesen.

Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei, da es an einem Gebührentatbestand für eine stattgebende Entscheidung im vorliegenden Beschwerdeverfahren fehlt. Den übrigen Beteiligten im vorliegenden Beschwerdeverfahren entstandene außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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