Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 02.04.2007
Aktenzeichen: 7 TG 501/07
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 80 Abs. 7 S. 2
VwGO § 80b
VwGO § 121
1. Hat ein Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt aus materiellen Gründen wiederhergestellt, ist es der Behörde selbst bei einer Änderung der Sach- und Rechtslage verwehrt, bezüglich dieses Verwaltungsakts eine neue Vollziehungsanordnung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zu erlassen.

2. Hält die Behörde aufgrund einer Änderung der Sach- und Rechtslage die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes, dessen Vollziehbarkeit durch gerichtlichen Beschluss aus materiellen Gründen ausgesetzt ist, für geboten, so muss sie nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO eine entsprechende Änderung der gerichtlichen Eilentscheidung beantragen.

3. §§ 80, 80b VwGO gehen von einer einheitlichen aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs aus, die insbesondere nicht mit dessen Zurückweisung durch Widerspruchsbescheid endet und (erst) mit Klageerhebung neu begründet wird.

4. Hat ein Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Fall VwGO die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs aus materiellen Gründen - also nicht lediglich aus formellen Gründen wie etwa einer mangelhaften Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung - wiederhergestellt, so wird die auf diese Weise bewirkte gerichtliche Aussetzung der Vollziehung eines bestimmten Verwaltungsaktes durch eine im Nachhinein (erneut) erfolgende behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung desselben Verwaltungsaktes in ihrer Wirksamkeit nicht berührt.


HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

7 TG 501/07

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Ausländerrechts - erneute behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung nach deren gerichtlicher Aussetzung -

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 7. Senat - durch

Richter am Hess. VGH Schönstädt

als Berichterstatter am 2. April 2007 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschlusses des Verwaltungsgerichts Gießen vom 7. Februar 2007 - 6 G 3845/06 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung in der Hauptsache wie folgt gefasst wird:

Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers vom 22. März 2001 gegen die im Bescheid des Landrates des Landkreises A-Stadt vom 20. März 2001 verfügte Ausweisung aufschiebende Wirkung hat.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 10. November 2006 gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. Oktober 2006 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 € festgesetzt.

Gründe:

Die gemäß § 146 Abs. 1 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen, über die der Berichterstatter gemäß § 87a Abs. 2 und 3 VwGO im Einverständnis der Beteiligten entscheiden kann, ist unbegründet.

1. Der Landrat des Landkreises ... wies den Antragsteller mit Bescheid vom 20. März 2001 aus, setzte ihm eine Ausreisefrist von drei Monaten nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Ausweisung und drohte ihm die Abschiebung an. Die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin ordnete mit Bescheid vom 3. April 2006 die sofortige Vollziehung der Ausweisung vom 20. März 2001 an.

Im gerichtlichen Eilverfahren stellte das Beschwerdegericht mit Beschluss vom 27. Juli 2006 - 7 TG 1561/06 - die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 22. März 2001 gegen die im Bescheid des Landrates des Landkreises ... vom 20. März 2001 erlassene Ausweisung wieder hier und ordnete sie in im Hinblick auf die im selben Bescheid verfügte Abschiebungsandrohung an. Es fehle an einem besonderen Vollzugsinteresse, das die sofortige Vollziehung der Ausweisung rechtfertigen könnte. Sowohl spezial- als auch generalpräventive Ausweisungszwecke könnten ein besonderes Vollzugsinteresse jedenfalls dann nicht begründen, wenn - wie hier - die Ausländerbehörde für die zwangsweise Verwirklichung der durch die Ausweisung begründeten Ausreisepflicht einen Zeitpunkt nach Bestandskraft der Ausweisung festgesetzt habe.

Die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin erließ daraufhin am 5. Oktober 2006 einen Bescheid, mit dem sie den Antragsteller nunmehr aufforderte, die Bundesrepublik Deutschland binnen drei Monaten nach Bekanntgabe dieses Bescheides zu verlassen.

Zugleich ordnete die Ausländerbehörde (erneut) die sofortige Vollziehung der Ausweisung des Antragstellers an und erließ (erneut) eine Abschiebungsandrohung.

Das Regierungspräsidium Darmstadt wies mit Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 2006 den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid des Landrates des Landkreises ... vom 20. März 2001 zurück.

Am 10. November 2006 erhob der Antragsteller Klage, die unter dem Aktenzeichen 6 E 3846/06 geführt wird. Auf den am selben Tag gestellten Eilantrag des Antragstellers hin entschied das Verwaltungsgericht Gießen mit dem im Tenor bezeichneten Beschluss, dass die aufschiebende Wirkung der Klage 6 E 3846/06 wiederhergestellt bzw. angeordnet werde. Wegen der Einzelheiten wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts Gießen Bezug genommen.

2. Die Beschwerde der Antragsgegnerin bleibt ohne Erfolg, da das Verwaltungsgericht dem Eilantrag des Antragstellers im Ergebnis zu Recht stattgegeben hat.

Dem Widerspruch des Antragstellers gegen die im Bescheid des Landrates des Landkreises ... vom 20. März 2001 verfügte Ausweisung kommt aufgrund der rechtskräftigen Entscheidung des Beschwerdegerichts vom 27. Juli 2006 - 7 TG 1561/06 - (weiterhin) aufschiebende Wirkung zu, die durch die Änderung des Beginns der Ausreisefrist und die erneute Anordnung der sofortigen Vollziehung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. Oktober 2006 nicht entfallen ist.

Beschlüsse nach § 80 Abs. 5 VwGO erwachsen gemäß § 121 VwGO analog in materielle Rechtskraft und binden die Beteiligten. Hat ein Gericht - wie hier das Beschwerdegericht mit Beschluss vom 27. Juli 2006 - die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt aus materiellen Gründen - hier wegen eines fehlenden besonderen Vollzugsinteresses - wiederhergestellt, ist es der Behörde selbst bei einer Änderung der Sach- und Rechtslage verwehrt, bezüglich dieses Verwaltungsakts eine neue Vollziehungsanordnung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zu erlassen. Hält die Behörde aufgrund einer Änderung der Sach- und Rechtslage die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes, dessen Vollziehbarkeit durch gerichtlichen Beschluss aus materiellen Gründen ausgesetzt ist, für geboten, so muss sie nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO eine entsprechende Änderung der gerichtlichen Eilentscheidung beantragen (vgl. zu Vorstehendem: Bay. VGH, Beschlüsse vom 18. Dezember 1998 - 7 S 98.1660, 7 ZS 98.2969 - DVBl 1999, 624, und vom 29. Januar 2003 - 23 CS 02.3146 - BayVBl. 2003, 405; Bader/Funke-Kaiser/ Kuntze/von Albedyll, VwGO, 3. Aufl. 2005, § 80 Rdnr. 127 ff., Eyermann, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 80 Rdnr. 98 f. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 80 Rdnr. 172 ff.). Diese Rechtskraftwirkung des gerichtlichen Aussetzungsbeschlusses erstreckt sich dabei in sachlicher Hinsicht auf den konkreten Verwaltungsakt, für den durch gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Fall VwGO die Vollziehung ausgesetzt worden ist.

Nach diesem Maßstab ist die angegriffene verwaltungsgerichtliche Entscheidung, nach der die Ausweisung weiterhin nicht vollziehbar ist, zutreffend. Die (erneute) Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ausweisung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. Oktober 2006 ist rechtsfehlerhaft, da ihr die rechtskräftige Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ausweisung im Beschluss des Beschwerdegerichts vom 27. Juli 2006 entgegensteht. Die bloße Modifizierung des den Lauf der Ausreisefrist auslösenden Umstandes von der Unanfechtbarkeit der Ausweisung zu deren Bekanntgabe hat den für die Rechtskraftwirkung maßgeblichen Streitgegenstand - die Vollziehbarkeit der nicht bestandskräftigen Ausweisung des Antragstellers vom 20. März 2001 - nicht geändert. Die Frage, ob das Ziel der Antragsgegnerin, eine Aufenthaltsverfestigung der Ehefrau des Antragstellers zu verhindern, formell zur Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung genügt bzw. materiell die Annahme eines besonderen Vollzugsinteresses rechtfertigt, stellt sich infolge dieser Rechtskraftwirkung nicht.

Bei der Neufassung des die Ausweisung des Antragstellers betreffenden Tenors der erstinstanzlichen Entscheidung durch das Beschwerdegericht wird zunächst auf die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs - nicht der Klage - abgestellt. Dies folgt daraus, dass der Suspensiveffekt vom ersten Rechtsbehelf ausgelöst wird, der aufschiebende Wirkung entfaltet. §§ 80, 80b VwGO gehen von einer einheitlichen aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs aus, die insbesondere nicht mit dessen Zurückweisung durch Widerspruchsbescheid endet und (erst) mit Klageerhebung neu begründet wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 1987 - BVerwG 1 C 19.85 - BVerwGE 78, 192 [209]; Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 80b Rdnr. 4 m. w. N. in Fn. 5). Darüber hinaus bedarf es lediglich der Feststellung (des Fortbestehens) der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ausweisung.

Hat ein Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Fall VwGO die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs aus materiellen Gründen - also nicht lediglich aus formellen Gründen wie etwa einer mangelhaften Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung - wiederhergestellt, so wird die auf diese Weise bewirkte gerichtliche Aussetzung der Vollziehung eines bestimmten Verwaltungsaktes durch eine im Nachhinein (erneut) erfolgende behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung desselben Verwaltungsaktes in ihrer Wirksamkeit nicht berührt. Der Behörde fehlt - auch aus Gründen der Gewaltenteilung - die Rechtsmacht, die aus materiellen Gründen erfolgte negative gerichtliche Entscheidung zur Vollziehbarkeit des nicht bestandskräftigen Verwaltungsaktes durch behördliche Anordnung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO (wieder) außer Kraft zu setzen (vgl. zu Vorstehendem: Bay. VGH, a. a. O.; Schoch/Schmidt-Assmann/Pietzner, VwGO, Stand: April 2006, § 80 Rdnr. 299; a. A. Kopp/Schenke, a. a. O, § 80 Rdnr. 173).

Vorläufiger Rechtsschutz ist dem Antragsteller schließlich auch in Bezug auf die erneute Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 5. Oktober 2006 zu gewähren. Infolge der fortbestehenden aufschiebenden Wirkung des gegen die Ausweisung gerichteten Widerspruchs fehlt es weiterhin an der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht des Antragstellers als gesetzlicher Voraussetzung für den Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 58 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 AufenthG.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

Zurück