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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 24.07.2006
Aktenzeichen: 8 NG 1156/06
Rechtsgebiete: GO d. Kreist. d. L.-D.-Krs. i. d. F. d. 2 . Änd., HKO, VwGO


Vorschriften:

GO d. Kreist. d. L.-D.-Krs. i. d. F. d. 2 . Änd. § 28
GO d. Kreist. d. L.-D.-Krs. i. d. F. d. 2 . Änd. § 30
HKO § 26 a Abs. 1 S. 3
HKO § 26 a Abs. 1 S. 4
HKO § 33
VwGO § 47 Abs. 1 Nr. 2
VwGO § 47 Abs. 6
1. Die Geschäftsordnung eines kommunalen Vertretungsorgans kann Gegenstand eines Normenkontroll-Eilverfahrens sein.

2. Eine einstweilige Anordnung ist nur dann im Sinne des § 47 Abs. 6 VwGO dringend geboten, wenn bei überschlägiger Prüfung offensichtlich ist und kein Zweifel daran besteht, dass der Normenkontrollantrag Erfolg haben wird.

3. Bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist es denkbar, dass sowohl die Verwendung des Tatbestandsmerkmals "mindestens" in § 26 a Abs. 1 Satz 4 HKO als auch die Festlegung der Fraktionsmindeststärke auf 3 Abgeordnete in § 28 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Kreistages des Lahn-Dill-Kreises rechtmäßig sind.

4. Zur Frage, ob eine "Entrechtung" vorliegt, wenn 2 Kreistagsabgeordnete eines Wahlvorschlags deshalb keine Fraktion bilden können, weil die Fraktionsmindeststärke auf 3 Abgeordnete festgesetzt worden ist.


HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

Az.: 8 NG 1156/06

In dem Normenkontrollverfahren

wegen Fraktionsmindeststärke,

hier: Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO,

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 8. Senat - durch

Richter am Hess. VGH Dr. Nassauer als Vorsitzenden, Richter am Hess. VGH Jeuthe, Richterin am Hess. VGH Thürmer, Richter am Hess. VGH Heuser, Richter am Hess. VGH Igstadt

am 24. Juli 2006 beschlossen:

Tenor:

Der Antrag, den Vollzug von § 28 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Kreistages des Lahn-Dill-Kreises und § 26a Abs. 1 Satz 4 HKO insoweit auszusetzen, als § 28 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Kreistages des Lahn-Dill-Kreises das Tatbestandsmerkmal "drei" enthält und § 26a Abs. 1 Satz 4 HKO das Tatbestandsmerkmal "mindestens", wird abgelehnt.

Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Der Streitwert ist bereits mit Beschluss vom 15. Mai 2006 festgesetzt worden.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin und ein weiterer Wahlbewerber des Wahlvorschlags Nummer 7 sind bei den Kommunalwahlen am 26. März 2006 in den 81 Mitglieder umfassenden C. gewählt worden. Die Antragstellerin wendet sich dagegen, dass nach der mit Wirkung ab 1. April 2006 geänderten Geschäftsordnung des Antragsgegners eine Fraktion aus mindestens drei Abgeordneten bestehen muss.

§ 26a der Hessischen Landkreisordnung - HKO - in der Fassung vom 1. April 2005 (GVBl. I S. 183) lautet wie folgt:

"§ 26a Fraktionen. (1) Kreistagsabgeordnete können sich zu einer Fraktion zusammenschließen. Eine Fraktion kann Kreistagsabgeordnete, die keiner Fraktion angehören, als Hospitanten aufnehmen. Das Nähere über die Bildung einer Fraktion, die Fraktionsstärke, ihre Rechte und Pflichten innerhalb des Kreistags sind in der Geschäftsordnung zu regeln. Eine Fraktion muss aus mindestens zwei Kreistagsabgeordneten bestehen. Eine Fraktion kann Mitglieder des Kreisausschusses und sonstige Personen beratend zu ihren Sitzungen hinzuziehen. Sie unterliegen den Pflichten des § 24 der Hessischen Gemeindeordnung. Hierauf sind sie vom Fraktionsvorsitzenden hinzuweisen.

(2) Die Bildung einer Fraktion, ihre Bezeichnung, die Namen der Mitglieder und Hospitanten sowie des Vorsitzenden und seiner Stellvertreter sind dem Vorsitzenden des Kreistags und dem Kreisausschuss mitzuteilen.

(3) Die Fraktionen wirken bei der Willensbildung und Entscheidungsfindung im Kreistag mit; sie können insoweit ihre Auffassung öffentlich darstellen.

(4) Der Landkreis kann den Fraktionen Mittel aus seinem Haushalt zu den sachlichen und personellen Aufwendungen für die Geschäftsführung gewähren. Diese Mittel sind in einer besonderen Anlage zum Haushaltsplan darzustellen. Über ihre Verwendung ist ein Nachweis in einfacher Form zu führen."

Nach der Geschäftsordnung des Kreistages des Lahn-Dill-Kreises vom 23. September 2002 betrug die Fraktionsmindeststärke vier Abgeordnete. Mit der zweiten Änderung vom 12. Dezember 2005 wurde die Geschäftsordnung mit Wirkung ab 1. April 2006 dahin geändert, dass die Mindeststärke nur noch drei Abgeordnete beträgt. § 28 der Geschäftsordnung in der Fassung der 2. Änderung vom 12. Dezember 2005 hat folgende Fassung:

"§ 28

Fraktionsstatus

1. Kreistagsabgeordnete können sich zu Fraktionen zusammenschließen. Eine Fraktion muss aus mindestens 3 Abgeordneten bestehen. Sinkt die Mitgliederzahl einer Fraktion unter 3, geht der Fraktionsstatus verloren.

2. Im Übrigen bleibt § 26a der Hessischen Landkreisordnung (HKO) unberührt."

Am 10. Mai 2006 hat die Antragstellerin den Normenkontroll-Eilantrag gestellt, den sie wie folgt begründet: Da der Antragsgegner die kommunale Fraktionsmindeststärke auf 3 Kreistagsabgeordnete festgesetzt habe, dürfe sie sich als eine von zwei Gewählten des Wahlvorschlags 7 mit den anderen Gewählten nicht zu einer Zwei-Personen-Fraktion zusammenschließen. Ihr stehe ein Rechtsschutzinteresse zur Seite. Sie sei in ihrem Recht auf Teilhabe an den wichtigen Entscheidungen des Antragsgegners in Verbindung mit den Rechten, die aus dem Fraktionsstatus resultierten, betroffen. Sie sei in ihren Rechten auf Ausübung ihres öffentlichen Amtes dadurch verletzt, dass § 26a Abs. 1 Satz 4 HKO die kommunale Fraktionsmindeststärke von drei Kreistagsabgeordneten zulasse und der Antragsgegner von dieser Ermächtigungsgrundlage auch Gebrauch gemacht habe. Die kommunale Fraktionsmindeststärke dürfe aber in Hessen wegen des besonderen Ausschusssystems nur auf maximal, nicht mindestens zwei heraufgesetzt werden. § 26a Abs. 1 Satz 4 HKO sei insoweit nichtig, als er eine Fraktionsmindeststärke von "mindestens" zwei erlaube. § 28 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Kreistages des Lahn-Dill-Kreises sei infolgedessen nichtig, weil er nicht eine Fraktionsmindeststärke von nur zwei festlege. Dadurch, dass sie, die Antragstellerin, in keinem der Ausschüsse eine mitentscheidende oder beratende Stimme habe, sei sie zu einer Kreistagsabgeordneten "zweiter Klasse" abgestempelt. Sie könne ihre Rechte auf Überwachung der Verwaltung des Landkreises ohne (beeinflussende) Stimme nicht ausüben. Das Stellen von eigenen Anträgen "in gleich sechs Ausschüssen" sei einem einzelnen Kreistagsabgeordneten praktisch nicht möglich.

Dadurch, dass sie nur 50,00 Euro monatliche Aufwandsentschädigung erhalte statt der für die Fraktionsangehörigen vorgesehenen mindestens 125,00 Euro plus 1/3 von 250,00 Euro, also 208,33 Euro monatlich, stünden ihr nur rund 24 % der Aufwandsentschädigung eines Kreisabgeordneten "erster Klasse" zu. Damit habe sie zu wenig Geld zur Verfügung für z. B. den Erwerb von Papier für Computerausdrucke und Telefaxe oder die Fahrten zu den Ausschüssen, in denen sie nicht mit entscheidender oder beratender Stimme teilnehme (im Ergebnis alle Ausschüsse). Die Aufwandsentschädigung für die Teilnahme an den Ausschüssen werde nur bei Teilnahmepflicht oder bei Teilnahmeberechtigung wegen beratender Stimme gewährt, sonst nicht. Ihr Recht auf wirksame Mitwirkung an der Ausübung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts des Kreises werde nicht gewährt. Ihr Recht sei vom Antragsgegner "entkernt" worden.

Der Hessische Gesetzgeber habe lediglich einer zu großen Zahl kleiner Fraktionen und somit der Zersplitterung der Vertretungskörperschaft gegensteuern, nicht aber elementare Rechte der Gemeindevertreter einschränken wollen. Da das Heraufsetzen der kommunalen Fraktionsstärke auf mindestens zwei durch den Landesgesetzgeber einen Eingriff in die Grundrechte der kommunalen Abgeordneten darstelle, hätte dieser Eingriff auch ausführlich begründet werden müssen. Dies sei nicht geschehen. Das Argument der andernfalls drohenden Zersplitterung der Vertretungskörperschaft besage nichts und sei eine bloße Behauptung. § 26a Abs. 1 Satz 4 HKO sei verfassungskonform deshalb so auszulegen, dass er eine Fraktionsmindeststärke von zwei gebiete, darüber hinaus - betreffend das Tatbestandsmerkmal "mindestens" - aber nichtig sei. § 28 Abs. 1 der Geschäftsordnung sei wegen nichtiger Ermächtigungsgrundlage seinerseits nichtig.

Die einstweilige Anordnung sei dringend geboten; ohne sie würden die Rechte der Antragstellerin verletzt. Ihr sowie der Allgemeinheit entstünden schwere Nachteile. Die Antragstellerin könne mit ihrem Begehren nicht bis zur Rechtskraft eines Hauptsacheverfahrens warten. Sie könnte mangels Fraktionsbildungsberechtigung die einem Kreistagsabgeordneten obliegenden Rechte und Pflichten nicht wahrnehmen. Die Ausschüsse könnten zum Teil endgültig über die Angelegenheiten des Landkreises entscheiden, ohne die Stimme der Antragstellerin.

Die Antragstellerin beantragt,

den Vollzug von § 28 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Kreistages des Lahn-Dill-Kreises und § 26a Abs. 1 Satz 4 HKO insoweit auszusetzen, als § 28 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Kreistages des Lahn-Dill-Kreises das Tatbestandsmerkmal "drei" enthält und § 26a Abs. 1 Satz 4 HKO das Tatbestandsmerkmal "mindestens".

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Er trägt vor, der Antrag richte sich unzulässigerweise gegen den C., vertreten durch die Vorsitzende. Antragsgegner eines Normenkontrollverfahrens, welches eine Geschäftsordnung einer Kommune zum Inhalt habe, sei die Kommune selbst, vertreten durch den Landrat.

Der Antrag sei auch unbegründet. Es bestehe kein Anordnungsanspruch. Die Festlegung der Mindestfraktionsstärke von drei Mitgliedern sei von der Ermächtigungsgrundlage des § 26a HKO gedeckt. Die Entscheidung des Kreistags sei durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt. Ziel sei es gewesen, unter Berücksichtigung der vom Gesetzgeber ausdrücklich eingeräumten Ermessensspielräume für eine handlungsfähige Parlamentsarbeit Sorge zu tragen, den möglichen Schwierigkeiten im neuen Kommunalrecht durch Zersplitterung der Parlamente vorzubeugen und die Effektivität der Arbeit der Mandatsträger zu steigern. Im Übrigen verbessere die Änderungsbestimmung auch die bisherige Position der Mandatsträger insoweit, als nach der alten Geschäftsordnung von 2002 die Fraktionsmindeststärke mit vier Personen im Falle nachträglicher Fraktionsbildung festgelegt gewesen sei. Dies sei nun auf drei Personen reduziert worden. Aus den vorgenannten Erwägungen sei eine Nichtigkeit des § 26a HKO ebenfalls nicht ersichtlich. Mit dem Verfahren nach § 47 VwGO könne die Antragstellerin im Übrigen die Nichtigkeit von Bestimmungen der HKO nicht geltend machen.

Auch ein Anordnungsgrund fehle. Weder hätte der Hauptsacheantrag Aussicht auf Erfolg noch sei eine einstweilige Regelung unabweisbar erforderlich. Die Antragstellerin habe weiterhin alle wesentlichen Rechte, die zur Ausübung ihres Mandates erforderlich seien. Die Fraktionsbildung spiele im Wesentlichen für die Besetzung der Ausschüsse gemäß § 33 HKO, § 62 HGO eine Rolle. Um dem Minderheitenschutz Rechnung zu tragen, hätten die fraktionslosen Mandatsträger gemäß § 30 der Geschäftsordnung des Kreistages des Lahn-Dill-Kreises das Recht, mit beratender Stimme bei der Behandlung eigener Anträge an den Ausschusssitzungen teilzunehmen. Von der Möglichkeit, einzelne Entscheidungen aus der Kompetenz des Kreistags in einen Ausschuss zu verlagern, habe der Kreistag im Übrigen bisher kaum Gebrauch gemacht; dies stehe derzeit auch nicht an.

Die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners (1 Heft) haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die vorgenannten Unterlagen, die gewechselten Schriftsätze und den darüber hinausgehenden Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Der Normenkontroll-Eilantrag hat keinen Erfolg.

Allerdings hält der Senat bei der im Eilverfahren lediglich möglichen summarischen Prüfung den C. für den richtigen Antragsgegner, soweit die Antragstellerin § 28 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Kreistages des Lahn-Dill-Kreises angreift, denn diese Vorschrift wirkt nicht im Außenrechtsverhältnis zwischen dem Landkreis und seinen Bürgern, sondern regelt lediglich organinterne Rechtsbeziehungen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. September 1987 - 7 N 1/87 - juris = DVBl. 1988, 790). Es handelt sich demnach um ein organinternes Streitverfahren, an dem die Organe bzw. Organteile beteiligt sind, um deren Rechtsbeziehungen zueinander es geht.

Soweit die Antragstellerin auch die Aussetzung des Vollzuges des § 26a Abs. 1 Satz 4 HKO betreffend das Tatbestandsmerkmal "mindestens" verlangt, ist der Antrag - unbeschadet der Berechtigung des Senats, die Wirksamkeit dieser Vorschrift inzident zu prüfen - ohnehin unzulässig, weil es sich bei der Hessischen Landkreisordnung - HKO - um ein Landesgesetz und damit nicht um eine "andere im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift" im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 15 Abs. 1 des Hessischen Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung - HessAGVwGO - handelt. Einer Erstreckung des Antrags auf das Land Hessen als Antragsgegner, wie die Antragstellerin sie in ihrem ergänzenden Antragsschriftsatz vom 10./11. Mai 2005 sinngemäß in Erwägung zieht, oder einer Beiladung des Landes Hessen bedarf es daher nicht. Es bleibt daher auch dabei, dass der C. der von der Antragstellerin zutreffend gewählte Antragsgegner ist.

Es ist in der Rechtsprechung geklärt, dass die Geschäftsordnung eines kommunalen Vertretungsorgans Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO und damit auch Gegenstand eines Normenkontroll-Eilverfahrens sein kann (vgl. BVerwG, a.a.O.; Bay. VGH, Beschluss vom 17. September 2002 - 4 NE 02.1925 - juris, und Urteil vom 16. Februar 2006 - 4 N 05.779 - juris Rdnr. 50; Bad.-Württ. VGH, Urteil vom 24. Juni 2002 - 1 S 896/00 - juris = DÖV 2002, 912, jeweils m. w. N.). Nach dem Sinn und Zweck des Normenkontrollverfahrens müssen jedenfalls Bestimmungen, die die Rechte von Mitgliedern kommunaler Vertretungsorgane in abstrakt-genereller Weise regeln, trotz ihres Charakters als bloße Innenrechtssätze in den Anwendungsbereich des § 47 VwGO einbezogen und auf Antrag eines Mitglieds vom Gericht auf ihre Gültigkeit überprüft werden (Bad.-Württ. VGH, a.a.O., m. w. N.).

Jedoch liegen die besonderen, in § 47 Abs. 6 VwGO geregelten Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Normenkontroll-Eilverfahren nicht vor. Nach der genannten Vorschrift kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Damit stellt § 47 Abs. 6 VwGO an die Aussetzung des Vollzugs einer untergesetzlichen Norm erheblich strengere Anforderungen als § 123 VwGO an den Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Mai 1998 - 4 VR 2/98 - juris = NVwZ 1998, 1065; Hess. VGH, Beschluss vom 8. September 2000 - 11 NG 2500/00 - juris = ESVGH 51, 27). Dies bedeutet, dass eine einstweilige Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO nur ergehen kann, wenn die dafür sprechenden Gründe so schwer wiegen, dass der Erlass unabweisbar erscheint. Insofern sind die Erfolgsaussichten eines gestellten Normenkontrollantrags bei der Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutzantrag dann mit in die Bewertung einzubeziehen, wenn sich die angegriffene Norm bereits im Eilverfahren als offensichtlich gültig oder als offensichtlich ungültig erweist (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 10. Mai 2001 - 8 NG 1310/01 - juris = ESVGH 51, 209; Beschluss vom 8. September 2000, a.a.O.). Eine einstweilige Anordnung ist daher nur dann im Sinne des § 47 Abs. 6 VwGO dringend geboten, wenn bei überschlägiger Prüfung offensichtlich ist und kein Zweifel daran besteht, dass der Normenkontrollantrag in der Hauptsache Erfolg haben wird (vgl. Hess. VGH, Beschlüsse vom 22. April 2003 - 9 NG 561/03 - juris = BRS 66 Nr. 67, und vom 26. November 1999 - 4 NG 1902/99 - juris = ESVGH 50, 131).

Die genannten Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

Insbesondere ist es keinesfalls unzweifelhaft, dass der Normenkontrollantrag in der Hauptsache Erfolg haben wird. Im Gegenteil spricht einiges dafür, dass ein Normenkontroll-Hauptsacheantrag keinen Erfolg hätte, dass also die Regelung einer höheren Fraktionsmindeststärke als zwei Kreistagsabgeordnete zulässig (vgl. Borchmann, in: Bennemann u.a., Kommunalverfassungsrecht Hessen, Stand: 14. Erg.Lfg., März 2006, Band II, Anm. 37 und 39 zu § 26a HKO) und die Festsetzung auf drei Kreistagsabgeordnete rechtmäßig ist. Dass in einem großen, 81 Abgeordnete umfassenden Vertretungsorgan die Fraktionsmindeststärke auf drei Abgeordnete festgelegt worden ist, erscheint bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Betrachtung nicht von vornherein ermessensmissbräuchlich. Der Antragsgegner weist sinngemäß überzeugend darauf hin, dass das Ziel der Entscheidung des Kreistags war, für eine handlungsfähige Parlamentsarbeit Sorge zu tragen, den möglichen Schwierigkeiten im neuen Kommunalrecht durch Zersplitterung der Parlamente vorzubeugen und die Effektivität der Arbeit der Mandatsträger zu steigern. Nicht unberücksichtigt bleiben kann auch, dass nach der alten Geschäftsordnung vom 23. September 2002 die Fraktionsmindeststärke sogar vier Personen betrug. Es sind auch keine sonstigen zwingenden Gründe dafür ersichtlich, bei einem 81 Personen umfassenden Kreistag die Fraktionsmindeststärke durch die Geschäftsordnung auf zwei festzulegen. Derartiges mag zwar dem individuellen Interesse der Antragstellerin entsprechen, ist aber aus objektiver Sicht nicht zwingend geboten.

Soweit die Antragstellerin - insbesondere auf Seite 3 der Antragsschrift vom 10. Mai 2006 - Rechte aufzählt, die ihr bei einer Mindestfraktionsstärke von drei Abgeordneten entgingen, macht sie letztlich geltend, dass außer einzelnen Gewählten eines Wahlvorschlags alle Gewählten Fraktionsstatus erhalten müssten. Dies ist jedenfalls nicht zwingend und würde das Ermessen des Kreistages, die Fraktionsmindeststärke festzulegen, weitgehend aushöhlen. Entsprechendes würde für die von der Antragstellerin als nichtig angesehene Regelung des § 26a Abs. 1 Satz 4 HKO gelten. Wäre das in § 26a Abs. 1 Satz 4 HKO geregelte Tatbestandsmerkmal "mindestens" nichtig, so bliebe den kommunalen Vertretungskörperschaften keinerlei Gestaltungsspielraum in Bezug auf die Mindeststärke der Fraktionen, weil die Fraktionsmindeststärke dann immer zwei Kreistagsabgeordnete betragen müsste. Die in § 26a Abs. 1 Satz 3 HKO getroffene Regelung, dass in der Geschäftsordnung das Nähere über die Fraktionsstärke zu regeln ist, wäre damit praktisch obsolet. Dass die von der Antragstellerin insofern vertretene Rechtsansicht offensichtlich und zwingend richtig wäre, lässt sich - auch unter Berücksichtigung des Vortrags der Antragstellerin - daher nicht erkennen.

Ist es nach allem denkbar, dass sowohl § 26a Abs. 1 Satz 4 HKO als auch § 28 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Kreistages des Lahn-Dill-Kreises rechtmäßig sind, so fehlt es an einem schweren Nachteil und an einem anderen wichtigen Grund, der es dringend gebietet, die begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch deshalb nicht dringend geboten, weil entgegen der Auffassung der Antragstellerin von ihrer "Entrechtung" (vgl. die Antragsschrift vom 10. Mai 2006 und den Schriftsatz der Antragstellerin vom 9. Juni 2006) keine Rede sein kann. Der Antragsgegner weist auf Seite 3 seines Schriftsatzes vom 31. Mai 2006 zu Recht darauf hin, dass die Antragstellerin nach der Hessischen Landkreisordnung und der Geschäftsordnung des Antragsgegners weiterhin alle wesentlichen Rechte hat, die zur Ausübung ihres Mandates erforderlich sind und dass die Fraktionsbildung im Wesentlichen für die Besetzung der Ausschüsse eine Rolle spielt. Insofern ist aber zu berücksichtigen, dass nach § 30 der Geschäftsordnung des Kreistages des Lahn-Dill-Kreises diejenigen Abgeordneten, die Anträge gestellt haben, einzuladen sind, auch wenn sie nicht Mitglied des Ausschusses sind. Der Antragsgegner hat auch glaubhaft versichert, von der Möglichkeit, einzelne Entscheidungen aus der Kompetenz des Kreistages in einen Ausschuss zu verlagern, bisher kaum Gebrauch gemacht zu haben und dass dies derzeit auch nicht anstehe. Auch unter diesen Umständen ist es der Antragstellerin zumutbar, jedenfalls bis zum Ergehen einer Hauptsacheentscheidung in einem Normenkontrollverfahren abzuwarten. Die strengen Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO liegen insofern nicht vor. Es trifft nicht zu, dass die Antragstellerin - wie sie sinngemäß auf Seite 3 des Schriftsatzes vom 9. Juni 2006 vortragen lässt - ohne mitgestaltende Rechte ist. Dass Fraktionen ihre politischen Ziele leichter durchsetzen können als einzelne Abgeordnete, denen der Fraktionsstatus nicht zukommt, ist systemimmanent und im Interesse der Arbeitsfähigkeit des 81 Abgeordnete umfassenden Kreistages nachvollziehbar, so dass auch insofern von einem offensichtlichen Erfolg eines Hauptsache-Normenkontrollantrags nicht ausgegangen werden kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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