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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 02.02.2000
Aktenzeichen: 8 TG 713/99
Rechtsgebiete: HeilprG


Vorschriften:

HeilprG § 1 Abs. 1
HeilprG § 1 Abs. 2
Wird Piercing unter Anwendung einer örtlichen Betäubung mittels Injektion eines Arzneimittels durchgeführt, stellt dies Ausübung der Heilkunde im Sinne des § 1 Abs. 2 HPG dar.
Gründe:

I.

Die Antragstellerin - eine ausgebildete Arzthelferin - arbeitete einige Zeit in diesem Beruf. Dann eröffnete sie unter anderem in Gießen ein Piercingstudio. Nachdem sie angefangen hatte, vor dem Piercing (= Einsetzen von Körperschmuck durch Löchern oder Durchbohren von Hautpartien und anderen Körperstellen) eine örtliche Betäubung mittels Injektion des rezeptfreien, aber apothekenpflichtigen Arzneimittels Lidocain durchzuführen, erging der Bescheid des Landrates des Landkreises Gießen - Allgemeine Landesverwaltung - Gewerbeamt - vom 27. November 1998.

In diesem Bescheid untersagte der Landrat der Antragstellerin, die sich nicht im Besitz der Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) - im Folgenden HPG - vom 17. Februar 1939 (RGBl. I S. 251) in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 2. März 1974 (BGBl. I S. 469, 550) befindet, das weitere Betreiben des Piercingstudios unter Anwendung von örtlicher Betäubung und forderte die Antragstellerin deshalb auf, unverzüglich, spätestens zwei Tage nach Zustellung der Verfügung, das Piercingstudio in Gießen zu schließen. Außerdem ordnete der Landrat die sofortige Vollziehung des Bescheides nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO an. Hinsichtlich der Schließungsverfügung wies er darauf hin, dass die Antragstellerin die Schließung abwenden könne, wenn sie sich gegenüber dem Kreisgesundheitsamt und seiner Behörde schriftlich verpflichte, von dem Gebrauch von Betäubungsmitteln bei den Piercingtätigkeiten abzusehen.

Über den Widerspruch, den die Antragstellerin gegen diesen Bescheid einlegte, ist noch nicht entschieden worden.

Den gleichzeitig gestellten Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen den fraglichen Bescheid nach § 80 Abs. 5 VwGO wiederherzustellen, hat das Verwaltungsgericht Gießen mit Beschluss vom 9. Februar 1999 (GewArch 1999, 164) im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, die Untersagungs- und Betriebsschließungsverfügung sei offensichtlich rechtmäßig. Ermächtigungsgrundlage sei § 15 Abs. 2 GewO. Der Antragsgegner sei zum Erlass dieser Verfügung zuständig.

Zutreffend gehe der Antragsgegner davon aus, dass die Antragstellerin ein genehmigungspflichtiges Gewerbe ohne Erlaubnis betreibe. Bei den von der Antragstellerin vorgenommenen Tätigkeiten handele es sich um Maßnahmen, die vom Heilpraktikergesetz erfasst würden. Die inzwischen üblich gewordene Form des Piercens falle nämlich bereits auch ohne die Verabreichung von Lokalanästhetika unter den Begriff der Heilkunde. Tätigkeiten, die ihrer Methode nach keine Krankenbehandlung im engeren Sinne seien, wegen der Schwere des Eingriffs und der damit verbundenen Folgen aber letztlich der ärztlichen Krankenbehandlung gleich kämen, ärztliche Fachkenntnisse voraussetzten sowie Gesundheitsschäden verursachen könnten, fielen unter den Begriff der Heilkunde. Dies hat das Verwaltungsgericht näher ausgeführt.

Dessen ungeachtet sei aber auf jeden Fall die von der Antragstellerin vorgenommene Verabreichung von Lidocain zum Zwecke der Lokalanästhesie Ausübung von Heilkunde im Sinne des § 1 Abs. 2 HPG.

Im Streitfall sei das in § 15 Abs. 2 Satz 1 GewO vorgesehene Ermessen der Behörde dergestalt eingeschränkt, dass sie zwingend die Betriebsstilllegung habe verfügen müssen. Das besondere Vollzugsinteresse liege vor und sei auch von der Behörde in einer dem § 80 Abs. 3 VwGO genügenden Weise dargelegt.

Mit der zugelassenen Beschwerde verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren weiter.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorganges des Landrates des Landkreises Gießen (1 Heft) Bezug genommen.

II.

Die zugelassene Beschwerde ist nicht begründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Verwaltungsgericht den Antrag der Antragstellerin abgelehnt, nach § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 27. November 1998 wiederherzustellen.

Die Untersagungs- und Betriebsschließungsverfügung vom 27. November 1998 ist offensichtlich rechtmäßig. Allerdings hat der streitbefangene Bescheid nicht den vom Verwaltungsgericht angenommenen Regelungsgehalt. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin nicht das Piercen an sich untersagt - wovon das Verwaltungsgericht ausweislich seiner Hauptbegründung auszugehen scheint -, sondern lediglich das weitere Betreiben des Piercingstudios unter Anwendung von örtlicher Betäubung. Deshalb lässt es der Senat dahingestellt sein, ob die Ausführungen des Verwaltungsgerichts, das bereits das Piercen selbst als Ausübung der Heilkunde im Sinne von § 1 Abs. 2 HPG ansieht, zutreffen.

Wie sich aus der Begründung der Sachentscheidung im Bescheid ergibt, bezieht sich die Untersagung außerdem nicht auf jegliche örtliche Betäubung (z.B. mittels Vereisungssprays). Vielmehr wird die Anwendung von Lidocain als Lokalanästhetikum und die Durchführung von örtlicher Betäubung mittels anderer zu injizierender Betäubungsmittel untersagt (siehe auch Seite 2 der Beschwerdeerwiderung vom 29. März 1999 - Bl. 110 der GA).

Der Bescheid vom 27. November 1998, in dem nicht ausdrücklich eine Ermächtigungsgrundlage genannt worden ist, lässt sich allerdings nicht - wie der Antragsgegner und das Verwaltungsgericht ihm folgend meinen - auf § 15 Abs. 2 Satz 1 GewO stützen, sondern auf § 1 Abs. 1 HPG i.V.m. § 11 HSOG (vgl. VG Stade, Urteil vom 27. April 1989 - 1 A 153/87 -, NJW 1990, 789 betreffend einen sogenannten Geistheiler).

Das Piercen selbst unterliegt bisher keiner gewerberechtlichen Erlaubnispflicht nach der Gewerbeordnung oder einem gewerberechtlichen Nebengesetz. Bei freien Gewerben, die lediglich der Anzeigepflicht unterliegen, kommen Maßnahmen nach § 15 Abs. 2 Satz 1 GewO deshalb nicht in Betracht (Marcks in Landmann-Rohmer Gewerbeordnung, Kommentar, Stand: Juli 1999, Anmerkung 10 zu § 15). Auch das Piercen unter Anwendung eines Lokalanästhetikums mittels Injektion bedarf keiner gewerberechtlichen Erlaubnis. Vielmehr stellt das Piercen unter Anwendung von örtlicher Betäubung mittels Injektion Ausübung von Heilkunde im Sinne von § 1 Abs. 2 HPG dar. Somit ist eine heilkundliche Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 HPG und nicht eine gewerberechtliche Erlaubnis erforderlich, so dass bereits deswegen § 15 Abs. 2 Satz 1 GewO für diese Konstellation ebenfalls nicht einschlägig ist.

Nach § 1 Abs. 2 HPG ist Ausübung der Heilkunde im Sinne dieses Gesetzes jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird. Da nach den eigenen Angaben der Antragstellerin die Injektion von Lidocain dazu dient, die beim Piercen ohne örtliche Betäubung eintretenden Schmerzen zu verhindern, fällt diese Tätigkeit ohne weiteres unter den Wortlaut des § 1 Abs. 2 HPG.

Dass die Antragstellerin ausgebildete Arzthelferin ist und einen sogenannten Spritzenschein vorlegen kann, vermag an dieser Beurteilung nichts zu ändern. Insoweit übersieht die Antragstellerin, dass auch Injektionen von Arzneimitteln als heilkundliche Eingriffe in den Verantwortungsbereich von Ärzten oder Heilpraktikern fallen. Zwar können diese unter Umständen - wie allgemein anerkannt - zumindest die Durchführung von subkutanen und intramuskulären Injektionen medizinischem Assistenzpersonal übertragen (vgl. die Stellungnahme des Vorstandes der Bundesärztekammer vom 16. Februar 1974, abgedruckt in Narr, Ärztliches Berufsrecht, Stand Januar 1997, Seite 579, sowie die Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schwesternverbände (ADS) und des Deutschen Berufsverbandes für Krankenpflege e.V. (DBfK), zweiter verbesserter Nachdruck 1990, nach deren Nummer 1 der Arzt Krankenschwestern die Verabreichung von subkutanen und intramuskulären Injektionen generell übertragen kann, wenn er sich von ihren Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten überzeugt hat).

An einer derartigen Delegation fehlt es aber im Streitfall. Die Antragstellerin handelt vielmehr selbständig im Rahmen des von ihr betriebenen Piercingstudios. Sie übt also insoweit gewerbsmäßig Heilkunde aus. Dass Lidocain, ein rezeptfreies Arzneimittel und somit in Apotheken für jedermann frei erhältlich ist, ist unerheblich, da die Antragstellerin selbst die Injektionen vornimmt, weshalb es bei der Erlaubnispflicht nach § 1 Abs. 1 HPG bleibt.

Da die Antragstellerin unstreitig keine Erlaubnis nach dieser Vorschrift besitzt, durfte der Landrat des Landkreises Gießen ihr das Betreiben des Piercingstudios unter Anwendung von örtlicher Betäubung mittels Injektion untersagen und sie deshalb auffordern ihr Piercingstudio in Gießen unverzüglich, spätestens zwei Tage nach Zustellung der Verfügung zu schließen, wenn sie sich nicht verpflichtete, von der Betäubung abzusehen. Der Bescheid vom 27. November 1998 findet seine zutreffende Rechtsgrundlage in § 1 Abs. 1 HPG i.V.m. § 11 HSOG. Die Zuständigkeit des Landrates folgt aus § 1 Nr. 15 der Verordnung über die Verteilung der Aufgaben der Landesverwaltung auf der Kreisstufe vom 24. März 1953 (GVBl. S. 39) i.V.m. § 11 Abs. 2 erste Durchführungsverordnung zum Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) vom 18. Februar 1939 (RGBl. I S. 259) in der Fassung vom 18. April 1975 (BGBl. I S. 967).

Nach der Generalklausel des § 11 HSOG können unter anderem die Gefahrenabwehrbehörden die erforderlichen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwehren. Diese konkrete Gefahr ist im Streitfall gegeben. Hier ist die öffentliche Sicherheit dadurch betroffen, dass die Antragstellerin beständig gegen § 1 Abs. 1 HPG verstößt, indem sie ohne die erforderliche Erlaubnis vor dem Piercen Lidocain spritzt. Nach § 5 HPG werden derartige Verstöße mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Da die Antragstellerin zu erkennen gegeben hat, an ihrer Handlungsweise festhalten zu wollen, weil sie sich als frühere Arzthelferin dazu berechtigt sieht, besteht somit eine Wiederholungsgefahr.

Wegen der formellen Illegalität der Handlungsweise der Antragstellerin, die sich auch bisher der erforderlichen Heilpraktikerprüfung nicht unterworfen hat und der laut Fachinformation des Herstellers bei Lidocain gegebenen Schockgefahr ist das Entschließungsermessen des Antragsgegners auf Null reduziert, wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat.

Auch hinsichtlich des Auswahlermessens hat der Senat keine Bedenken. Der Antragsgegner hat die erforderliche Maßnahme im Sinne des § 11 HSOG getroffen, indem er der Antragstellerin das weitere Betreiben des Piercingstudios unter Anwendung örtlicher Betäubung mittels Injektion untersagt hat. Auch die damit gekoppelte Betriebsschließungsverfügung ist jedenfalls im Hinblick auf die Abwendungsbefugnis, die der Antragsgegner der Antragstellerin in dem Bescheid eingeräumt hat, unbedenklich. Die Maßnahme ist geeignet, das unzulässige Spritzen eines Betäubungsmittels vor dem Piercen durch die Antragstellerin zu verhindern. Wegen des Beharrens der Antragstellerin auf ihrer fehlerhaften Rechtsansicht ist sie auch erforderlich. Angesichts der Schockgefahr, die durch das Spritzen von Lidocain gegeben ist, stellt die Betriebsschließungsverfügung in der Kombination mit der Abwendungsbefugnis (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 2 HSOG) auch den geringstmöglichen Eingriff dar. Die Antragstellerin hat es nämlich in der Hand, sich schriftlich gegenüber dem Kreisgesundheitsamt und dem Landrat des Landkreises Gießen zu verpflichten, von dem Gebrauch von Betäubungsmitteln durch Injektionen bei den Piercingtätigkeiten abzusehen. Schließlich ist die Antragstellerin die richtige Adressatin des angefochtenen Bescheides (vgl. § 6 Abs. 1 HSOG).

Hinsichtlich der Anordnung der sofortigen Vollziehung folgt der Senat den Ausführungen des Verwaltungsgerichts in dem angefochtenen Beschluss und führt ergänzend aus, dass der Antragsgegner das besondere Vollzugsinteresse auch in formeller Hinsicht nach § 80 Abs. 3 VwGO ordnungsgemäß dargelegt hat, indem er auf die Gefahr für die Volksgesundheit hingewiesen hat, die gegeben ist, wenn die Antragstellerin ihr Piercingstudio in der beanstandeten Art und Weise weiter betreibt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 1 i.V.m. § 13 Abs. 1 und § 20 Abs. 3 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).

Ende der Entscheidung

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