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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 24.04.2001
Aktenzeichen: 8 UZ 1816/00
Rechtsgebiete: GG, VwGO


Vorschriften:

GG Art. 19 Abs. 4
VwGO § 60 Abs. 1
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
1. Versäumt ein anwaltlich nicht vertretener Kläger die Klagefrist durch Verwechslung der Telefax-Nummern des Erst- und des Berufungsgerichts kommt eine Wiedereinsetzung in Betracht, wenn die Verwechslung auf einer am letzten Tag der Frist eingeholten fehlerhaften Auskunft eines Telefonansagedienstes beruht und keine besonderen Anhaltspunkte für eine Verwechslungsgefahr bestanden.

2. Die Berufung gegen ein die Klage als unzulässig abweisendes Prozessurteil des Verwaltungsgerichts ist gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, wenn durch die Zulassungsantrag ein für diese verwaltungsgerichtliche Entscheidung tragender Rechtssatz oder eine dafür erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten nachhaltig erschüttert wird.

Mit der vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 - für die Auslegung der gesetzlichen Zulassungsgründe hervorgehobenen Bedeutung der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG ist es in einem solchen Fall nicht vereinbar, die Prüfung der Begründetheit der Klage bereits summarisch im Zulassungsverfahren durchzuführen und bei negativem Ergebnis die Zulassung der Berufung wegen der offensichtlichen Ergebnisrichtigkeit der angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zu versagen.


Gründe:

Auf den noch innerhalb der Monatsfrist gemäß § 124 a Abs. 1 Sätze 1 und 2 VwGO am 17. Mai 2000 per Telefax und per Post beim Verwaltungsgericht eingegangenen Antrag des Klägers vom gleichen Tage ist die Berufung gegen das am 17. April 2000 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 5. April 2000 zuzulassen, weil sich aus den Ausführungen im Zulassungsantrag der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ergibt.

Der Kläger hat zur Begründung dieses Zulassungsgrundes in einer der Darlegungspflicht des § 124 a Abs. 1 Satz 4 VwGO genügenden Weise einen "einzelnen tragenden Rechtssatz", also eine entscheidungserhebliche rechtliche Begründung des Verwaltungsgerichts, mit "schlüssigen Gegenargumenten" so in Frage gestellt (vgl. zu diesem Prüfungsmaßstab BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 - DVBl. 2000 S. 1458 ff. = NVwZ 2000 S. 1163 ff.), dass die Abweisung seiner Klage als unzulässig durch das angefochtene verwaltungsgerichtliche Prozessurteil nach summarischer, das Berufungsverfahren nicht vorwegnehmender Prüfung im Ergebnis als fehlerhaft erscheint.

Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts, dass seine an das Verwaltungsgericht Kassel gerichtete und am 27. Dezember 1999 per Telefax - um 17.35 Uhr - beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel eingegangene und erst am nächsten Tag und damit nach Fristablauf an das zuständige Verwaltungsgericht weitergeleitete Klage gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht fristgemäß erhoben worden ist, sind zwar trotz seines dagegen geltend gemachten, nur die Frage der Vorwerfbarkeit betreffenden Einwandes, ihm sei die Fehlerhaftigkeit der Fax-Nummer nicht erkennbar gewesen, nicht zu beanstanden. Durch den Eingang einer Klageschrift bei einem unzuständigen Gericht wird nämlich die Klagefrist nur gewahrt, wenn die Schrift gerade an dieses Gericht adressiert war. Fallen - wie hier - das Gericht, an das die Klage gerichtet war, und das, bei dem sie eingeht, auseinander, ist die Prozessvoraussetzung des § 74 Abs. 1 VwGO nur gewahrt, wenn die Klageschrift noch innerhalb der Frist auch beim angerufenen Gericht eingeht, was hier nicht der Fall war. Für die Rechtzeitigkeit des Eingangs eines fristwahrenden Schriftstücks ist entscheidend, dass es innerhalb der Frist tatsächlich in die Verfügungsgewalt des betreffenden Gerichts gelangt, womit das Gericht gemeint ist, an das der Schriftsatz gerichtet ist und das als angerufenes Gericht tätig zu werden hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 1999 - 3 B 36.99 - juris).

Nach summarischer Prüfung sprechen aber unter Berücksichtigung des klägerischen Vorbringens im Zulassungsantrag die überwiegenden Gesichtspunkte dafür, dass dem Kläger entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts gemäß § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist hätte gewährt werden müssen und dass seine Klage deshalb nicht ohne Sachprüfung als unzulässig hätte abgewiesen werden dürfen. Da seine Klage einen Tag nach Fristablauf beim zuständigen Verwaltungsgericht eingegangen ist und er sich nach dem gerichtlichen Hinweis vom 28. Dezember 1999 bereits in einem Telefonat vom 6. und mit einem Schreiben vom 8. Januar 2000 darauf berufen hat, dass ihm von der Telefon/Fax-Auskunft eine falsche Telefax-Nummer mitgeteilt worden sei, lagen die formalen Voraussetzungen des Absatz 2 des § 60 VwGO für eine gerichtliche Wiedereinsetzung vor.

Der Kläger dürfte auch ohne Verschulden an der Fristeinhaltung gehindert gewesen sein. Er hat zwar die Klagefrist bis zum letzten Tag ausgenutzt; das ist andererseits aber auch sein "gutes Recht", so dass daraus keine übertriebenen Anforderungen an seine Sorgfaltspflichten hergeleitet werden können. Auch wäre es in dieser Situation, in der er eine Übermittlung der Klageschrift per Telefax beabsichtigte, sicherlich sinnvoll gewesen, zur Ermittlung der richtigen Telefax-Nummer beim Verwaltungsgericht selbst während der Dienstzeiten und nicht erst nach 16.00 Uhr anzurufen. Es kann ihm jedoch nicht als Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt entgegengehalten werden, dass er erst nach Fertigstellung der Klageschrift am Nachmittag des betreffenden Tages mangels einer Auskunft des von ihm zunächst zu Rate gezogenen Rechtsanwaltsbüros bei der Auskunftsstelle der "TelDaFax" die Telefax-Nummer erfragt und sich auf die ihm mitgeteilte Nummer verlassen hat. Da er auf seiner Klageschrift das Verwaltungsgericht mit zutreffender Bezeichnung und zutreffender Anschrift aufgeführt hat, erscheint es plausibel, dass die Verwechslung nicht schon bei seiner Nachfrage, sondern erst bei der ihm erteilten Auskunft erfolgt ist. Angesichts der unterschiedlichen Bezeichnungen und der unterschiedlichen Anschriften der beiden fraglichen Kasseler Gerichte und da der Kläger mangels entgegenstehender Anhaltspunkte von einer hinreichenden Befähigung der im Telefondienst eingesetzten Auskunftsperson ausgehen konnte, musste er auch nicht mit der Gefahr einer Verwechslung rechnen (so allerdings BGH, Beschluss vom 26. Mai 1994 - III ZB 35/93 - NJW 1994 S. 2300 für einen Rechtsanwalt unter Berücksichtigung der besonderen Münchner Verhältnisse; kritisch dazu: Pape/Nothoff, NJW 1996 S. 417 <421 f.>), so dass er für deren Verschulden nicht einzustehen hat (vgl. zu einem ähnlichen Fall: BVerwG, Beschluss vom 6. August 1997 - 4 B 124.97 -, NJW 1998 S. 398). Angesichts der gemeinsamen Sammelnummer des Verwaltungsgerichts Kassel und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in Kassel kann dem Kläger schließlich auch nicht vorgehalten werden, dass er die ihm mitgeteilte Telefax-Nummer nicht als unrichtig erkannt hat bzw. nicht stutzig geworden ist (vgl. BGH, a.a.O.), so dass er auch keinen Anlass hatte, die Klageschrift persönlich nach Kassel zu bringen und in den Nachtbriefkasten des Verwaltungsgerichts einzuwerfen.

Da damit durch das Vorbringen des Klägers entscheidungstragende Gründe des Verwaltungsgerichts für das angefochtene, die Klage als unzulässig abweisende Prozessurteil "nachhaltig erschüttert" sind und deshalb ernstliche Zweifel an der Richtigkeit dieser verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bestehen, ist die Berufung unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 23. Juni 2000 (a.a.O.) im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG aufgestellten Grundsätze gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Dazu bedürfte es keiner Darlegung des Klägers, dass seine Klage nicht nur zulässig, sondern auch begründet ist, ihr also im Ergebnis insgesamt hätte stattgegeben werden müssen. Es bedürfte umgekehrt auch keiner Prüfung des Gerichts, ob sich nicht schon im Zulassungsverfahren "ohne Weiteres" aufgrund "summarischer Prüfung" und "mit der gebotenen Sicherheit" feststellen ließe, dass die Klage aus vom Verwaltungsgericht nicht erörterten Erwägungen als unbegründet hätte abgewiesen werden können, dass das angefochtene Urteil also jedenfalls im Ergebnis richtig ist (vgl. u. a. OVG NW, Beschluss vom 17. Juli 1998 - 24 B 370/98 - juris; OVG Berlin, Beschluss vom 9. März 1999 - 4 SN 158.98 - juris; Seibert, NVwZ 1999 S. 113 <119 f.> m.w.N. auf die wohl h. M.). Eine solche ergänzende, letztlich auf prozessökonomischen Gründen beruhende "Ergebniskontrolle" (vgl. OVG Berlin, a.a.O.), in der bereits im Zulassungsverfahren zur Aufrechterhaltung der angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung dort nicht aufgeführte Gründe herangezogen werden, mit denen sich der Zulassungsantrag nicht auseinandersetzen konnte, erscheint im Hinblick auf die vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 23. Juni 2000 (a.a.O.) für die Auslegung der gesetzlichen Zulassungsgründe hervorgehobenen Bedeutung der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG schon generell recht fraglich. Nach dieser Entscheidung kann nämlich zum Einen dem Zulassungsantragsteller nicht "abverlangt" werden, dem Zulassungsgericht "einen vollständigen Begründungskontext zu liefern, den es im Fall der Stattgabe selbst zu entwickeln hätte", und hat das Zulassungsverfahren zum Anderen "nicht die Aufgabe, das Berufungsverfahren vorwegzunehmen" (vgl. BVerfG, a.a.O.). Hinzu kommt, dass umgekehrt einem Zulassungsantrag auch nicht - quasi von Amts wegen - deshalb stattgegeben wird, weil die verwaltungsgerichtliche Entscheidung nach Auffassung des OVG/VGH aus Gründen als offensichtlich unrichtig anzusehen ist, die im Zulassungsantrag nicht aufgeführt sind.

Jedenfalls aber dann, wenn das Verwaltungsgericht - wie hier - eine Klage nach dem Zulassungsvorbringen bei summarischer Prüfung zu Unrecht durch Prozessurteil als unzulässig abgewiesen hat und deshalb nicht in eine Sachprüfung eingetreten ist, erscheint es mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar, dass das OVG bzw. der VGH die Prüfung der Begründetheit dieser offensichtlich zulässigen Klage bereits summarisch in dem Zwischenverfahren über die Zulassung der Berufung durchführt und bei negativem Ergebnis die Berufungszulassung versagt. Das hätte nämlich zur Folge, dass trotz des offensichtlichen Vorliegens der Sachurteilsvoraussetzungen nicht nur das Verwaltungsgericht, sondern auch das Berufungsgericht eine Begründetheitsprüfung nicht in dem dafür eigentlich gesetzlich vorgesehenen Hauptverfahren vornehmen, sondern diese unter Umgehung der besonderen gesetzlichen Verfahrensvorschriften für eine vereinfachte Entscheidung im Berufungsverfahren in bestimmten, von der Rechtsprechung entwickelten "besonders einfachen" Fällen in das Zulassungsverfahren vorverlagern und demgemäß auch nicht aufgrund seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, sondern nach bloß summarischer Prüfung entscheiden würde. Einen Kläger, der eine zulässige Klage erhebt, ist aber aus Art. 19 Abs. 4 GG ein Anspruch darauf zuzubilligen, dass die Begründetheit seiner Klage jedenfalls in einer Instanz in einem "ordentlichen " Verfahren geprüft wird.

Nach alledem ist die Berufung mit der Folge zuzulassen, dass das Antragsverfahren gemäß § 124 a Abs. 2 Satz 4 VwGO als Berufungsverfahren fortgesetzt wird, ohne dass es der Einlegung einer Berufung bedarf.

Die Entscheidung über die Kosten des Antragsverfahrens folgt der Kostenentscheidung im Berufungsverfahren.

Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.

Es wird darauf hingewiesen, dass gemäß § 124 a Abs. 3 VwGO die nunmehr zugelassene Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen ist. Die Begründung ist beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

Ende der Entscheidung

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