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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 24.06.2002
Aktenzeichen: 9 TG 1064/02
Rechtsgebiete: GG, AuslG, VwGO


Vorschriften:

GG Art. 3 Abs. 3 Satz 1
AuslG § 21 Abs. 1 Satz 1
VwGO § 80 Abs. 5
An der Verfassungsmäßigkeit des § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG bestehen im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG erhebliche Bedenken (ohne abschließende Klärung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO).
Hessischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss

9. Senat

9 TG 1064/02

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Ausländerrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 9. Senat - durch Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Teufel, Richter am Hess. VGH Dr. Fischer, Richter am Hess. VGH Schneider

am 24. Juni 2002 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 6. März 2002 (Az.: 7 E 5130/01 <5>) mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung aufgehoben.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 24. Oktober 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 19. November 2001 wird angeordnet.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.000,-- € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 6. März 2002, in welchem der Antrag des Antragstellers auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 24. Oktober 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2001 abgelehnt wurde, ist zulässig und begründet.

Der Antrag des Antragstellers ist statthaft.

Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. grundlegend: Beschluss vom 14. Februar 1991 - 13 TH 2288/90 -), dass ein Ausländer gegen die Versagung der Aufenthaltsgenehmigung vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO in Anspruch nehmen kann, wenn ihm als Folge seines Antrages auf Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung bis zur ablehnenden Entscheidung der Ausländerbehörde ein fiktives Bleiberecht gemäß § 69 AuslG zustand, das durch eine gerichtliche Aussetzung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wieder hergestellt werden kann. Ungeachtet der Frage, ob der Antragsteller tatsächlich einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG hat, kann er sich auf die Fiktionswirkung nach § 69 Abs. 3 Satz 2 AuslG berufen, die dadurch entstanden ist, dass die Eltern des am 8. Februar 2001 im Bundesgebiet geborenen Antragstellers am 30. März 2001, und damit innerhalb der Frist des § 69 Abs. 1 Satz 2 AuslG, eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt haben. Auch hinsichtlich der in der angefochtenen Verfügung vom 24. Oktober 2001 enthaltenen Abschiebungsandrohung ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Bezug genommen.

Der Antrag ist auch begründet.

Einem Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zunächst zu entsprechen, wenn sich der mit Widerspruch bzw. Klage angefochtene Verwaltungsakt schon bei summarischer Prüfung im Eilverfahren als offensichtlich rechtswidrig darstellt, da an der Vollziehung rechtswidriger Verwaltungsakte kein öffentliches Interesse bestehen kann. Darüber hinaus ist einem Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auch dann stattzugeben, wenn sich bei der im Aussetzungsverfahren allein möglichen überschlägigen Prüfung weder eine offensichtliche Rechtswidrigkeit noch eine offensichtliche Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts feststellen lässt, die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bzw. des Rechtsmittels in der Hauptsache also offen erscheinen und bei Abwägung der sich gegenüberstehenden privaten und öffentlichen Interessen dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers der Vorrang gebührt (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 21. Juli 1997 - 13 TG 4776/96 -).

Aufgrund der im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Überprüfung der Verfügung vom 24. Oktober 2001 kann weder von deren offensichtlichen Rechtswidrigkeit noch von deren offensichtlichen Rechtmäßigkeit ausgegangen werden. Die mithin zu treffende Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses mit dem gegenüberstehenden privaten Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung fällt zugunsten des Antragstellers aus.

Das Verwaltungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass § 21 Abs. 1 AuslG von seinem Wortlaut her als Anspruchsgrundlage für das Begehren des Antragstellers ausscheidet. Denn nach dieser Bestimmung ist einem im Bundesgebiet geborenen Kind von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis nur dann zu erteilen, wenn die Mutter eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltsberechtigung besitzt. Dies ist hier unstreitig nicht der Fall. Der Umstand, dass der Vater des Antragstellers im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis ist, genügt nach § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht.

Die Bestimmung des § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG begegnet allerdings im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Nach dieser Bestimmung darf niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Die vorgenannte Verfassungsnorm verstärkt den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, indem sie der dem Gesetzgeber darin eingeräumten Gestaltungsfreiheit engere Grenzen zieht. Das Geschlecht darf grundsätzlich - ebenso wie die anderen in Absatz 3 Satz 1 genannten Merkmale - nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. Dies gilt auch dann, wenn eine Regelung nicht auf eine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt (so ausdrücklich BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 - 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83 und 10/91 -, BVerfGE 85, 191 <206>). Allerdings verstößt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht jede Ungleichbehandlung, die an das Geschlecht anknüpft, gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Differenzierende Regelungen können vielmehr zulässig sein, soweit sie zur Lösung von Problemen zwingend erforderlich sind, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können. Eine zwischen Männern und Frauen differenzierende Regelung muss im Hinblick auf die objektiven biologischen und funktionalen (arbeitsteiligen) Unterschiede nach der Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses begründbar sein (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 8. Januar 1985 - 1 BvR 830/83 - BVerfGE 68, 384 <390>).

Es mag zwar sein, dass die von der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 15. Mai 2002 in den Mittelpunkt der Argumentation gestellten besonders engen und intensiven Beziehung zwischen Mutter und Kind gerade in der ersten Zeit nach der Geburt einen sachlichen Grund für eine Differenzierung zwischen dem Aufenthaltsrecht des Vaters und der Mutter im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG darstellt. Ob es auf Grund dieser besonderen Mutter/Kindbeziehung allerdings im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwingend erforderlich ist, hinsichtlich des Aufenthaltsrechts danach zu unterscheiden, ob die Mutter oder der Vater eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung besitzt, erscheint zweifelhaft. Ebenso wie der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Beschluss vom 29. Januar 2001 - 13 S 864/00 -, NVwZ-RR 2001, 605) geht auch der Senat davon aus, dass die besonders intensive Beziehung zwischen Mutter und Kind nur relativ kurze Zeit andauert und somit ein zwingender sachlicher Grund für die Privilegierung der Mutter nach § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG nicht ohne Weiteres ersichtlich ist, so dass die differenzierende Regelung gerade nicht zwingend erforderlich wäre, um Probleme zu lösen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können (vgl. insoweit auch Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: September 2001, § 21 AuslG, Rdnr. 2a, VG München, Urteil vom 20. März 2001 - M 21 K 00.5288 -, InfAuslR 2001, 436).

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin hat auch das Bundesverwaltungsgericht bisher noch nicht entschieden, ob die Regelung des § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG vor der Verfassungsbestimmung des § 3 Abs. 3 Satz 1 GG Bestand haben kann. In der von der Antragsgegnerin zitierten Entscheidung vom 29. März 1996 (Az.: BVerwG 1 C 28.94 -, InfAuslR 1997, 24 <28>) hat das Bundesverwaltungsgericht (lediglich) ausgeführt, dass Art. 6 GG entgegen der Auffassung der Revision nicht gebiete, es genügen zu lassen, dass der Vater eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung besitzt, denn dem vom Grundgesetz gebotenen Familienschutz könne auch im Rahmen der anderen Vorschriften des Ausländergesetzes über den Familiennachzug ausreichend Rechnung getragen werden.

Gegen die Berücksichtigung der eventuellen Verfassungswidrigkeiten des § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG im hier zu entscheidenden Fall spricht entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin auch nicht der Umstand, dass nicht der Antragsteller wegen seines Geschlechts benachteiligt wird, sondern sich die Benachteiligung sich daraus ergibt, dass nach dem Gesetz seine - des Antragstellers - Beziehung zu seinem Vater ausländerrechtlich nicht in gleicher Weise geschützt wird, wie die Beziehung zu seiner Mutter. Es erscheint insoweit zutreffend, dass es dem Antragsteller an einer Betroffenheit im Hinblick auf das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG fehlt. Dies ändert jedoch nichts daran, dass ihm ein Aufenthaltstitel versagt wird, weil die entsprechende Anspruchsgrundlage eventuell mit dem Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht in Einklang steht.

Vor dem Hintergrund einer möglichen Verfassungswidrigkeit der Bestimmung des § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen zu bezeichnen. Zwar erscheint dem Senat - insoweit ist der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zuzustimmen - aufgrund des eindeutigen Wortlauts der Bestimmung eine verfassungskonforme Interpretation nicht angängig. Sollte der Senat im Hauptsacheverfahren zu der Erkenntnis gelangen, dass die Bestimmung verfassungswidrig ist, müsste das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingeholt werden. Ob eine vom Bundesverfassungsgericht gegebenenfalls festgestellte Verfassungswidrigkeit des § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG zu einer Gleichbehandlung "nach oben" (Erstreckung des § 21 Abs. 1 AuslG auch auf die Fälle, in denen der Vater eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung besitzt) oder zu einer Gleichbehandlung "nach unten" (Streichung der Vergünstigung des § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG auch für die Fälle, in denen die Mutter eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung besitzt) führt, erscheint offen. Vor diesem Hintergrund ist das Interesse des Antragstellers, während der Zeit bis zu einer möglich erscheinenden Beseitigung des Verstoßes gegen das Gleichberechtigungsgebot durch eine Gleichbehandlung "nach oben" im Bundesgebiet bleiben zu dürfen, höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung der ausländerbehördlichen Entscheidung.

Auch hinsichtlich der in der angegriffenen Verfügung enthaltenen Abschiebungsandrohung ist die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers anzuordnen. Es handelt sich um eine unselbstständige Abschiebungsandrohung gemäß § 50 Abs. 1 Satz 2 AuslG, die das rechtliche Schicksal der Verfügung teilt, mit dem der Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt wurde.

Nach alledem ist der Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 6. März 2002 aufzuheben und dem Antragsteller vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren.

Die Antragsgegnerin hat als unterliegender Teil gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des gesamten Verfahrens zu tragen. Die Entscheidung über die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 14 Abs. 1, 13 Abs. 1 Satz 2, 20 Abs. 3 GKG und folgt der Streitwertentscheidung erster Instanz.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1, 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).

Ende der Entscheidung

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