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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessisches Landesarbeitsgericht
Beschluss verkündet am 11.07.2006
Aktenzeichen: 1 SHa 25/06
Rechtsgebiete: BGB, ZPO, ArbGG


Vorschriften:

BGB § 29 I
BGB § 269
ZPO § 36 I 6
ArbGG § 48 I
1) Allein die fehlerhafte Verneinung des Gerichtsstandes des Erfüllungsortes gemäß § 29 Abs. 1 ZPO stellt noch keine greifbare Gesetzwidrigkeit dar, die die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses entfallen lässt.

2) Die in dem Beschluss des erkennenden Gerichts vom 14. November 1951 - II LA 277/51 (BB 1952, 603) - vertretene Ansicht, zur Bejahung des Gerichtsstands des Erfüllungsortes für Streitigkeiten aus einem Arbeitsverhältnis sei am Arbeitsort eine betriebliche Organisation erforderlich, wird ausdrücklich aufgegeben.


Tenor:

Als für die Verhandlung und Entscheidung des Rechtsstreits 10 Ca 3143/06 Arbeitsgericht Frankfurt am Main = 5 Ca 914/06 Arbeitsgericht Neuruppin zwischen den Parteien zuständiges Gericht wird das Arbeitsgericht Neuruppin bestimmt.

Gründe:

Die Klägerin war laut § 1 des schriftlichen Arbeitsvertrags der Parteien vom 10./11. März 2004 seit dem 15. März 2004 für den Beklagten als IT-Supporterin tätig. Einsatzort sollte Frankfurt a. M. sein, "Dienstsitz" Berlin; außerdem war eine Versetzungsklausel vereinbart (Bl. 14 - 16 d. A.). Die Klägerin arbeitete danach ausschließlich in den Räumen der

in Frankfurt a. M. Ihre Vergütung erhielt sie aufgrund einer von einer Steuerberatungsgesellschaft in Kyritz erstellten Abrechnung für den Monat März 2006 auf ihr Konto bei der Frankfurter Sparkasse überwiesen (Bl. 17 d. A.). Nachdem die das Vertragsverhältnis mit dem Beklagten fristlos gekündigt hatte, kündigte dieser das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin mit Schreiben vom 21. April 2006 fristlos, hilfsweise ordentlich zum 30. Juni 2006.

Die Klägerin hält die Kündigung für unwirksam. Mit der am 2. Mai 2006 bei dem Arbeitsgericht Frankfurt a. M. eingereichten, dem Beklagten am 16. Mai 2006 zugestellten Klage hat die Klägerin die Anträge angekündigt

1. festzustellen, dass ihr Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten vom 21. April 2006 nicht aufgelöst worden ist;

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien über den 30. Juni 2006 hinaus ungekündigt fortbesteht;

3. für den Fall, dass dem Klageantrag zu 1 stattgegeben wird, den Beklagten zu verurteilen, sie zu den Bedingungen des Arbeitsvertrags vom 11. März 2004 weiter zu beschäftigen.

Mit Hinweisschreiben vom 10. Mai 2006 (Bl. 19 und 20 d. A.) hat das Arbeitsgericht Frankfurt a. M. die Parteien zu einer beabsichtigten Verweisung des Rechtsstreits an das Arbeitsgericht Neuruppin angehört; die Klägerin (Bl. 25 und 26 d. A.). und der Beklagte (Bl. 27 d. A.) haben dazu Stellung genommen. Das Arbeitsgericht hat alsdann mit einem Beschluss vom 20. Juni 2006 - 10 Ca 3143/06 (Bl. 30 und 30 R d. A.) - sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Arbeitsgericht Neuruppin verwiesen. Dieses hat nach Anhörung der Parteien mit einem Beschluss vom 11. Juli 2006 - 5 Ca 914/06 (Bl. 37 und 37 R d. A.) - sich ebenfalls für unzuständig erklärt und die Sache dem Hessischen Landesarbeitsgericht zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vorgelegt.

Zu dem Inhalt der genannten Entscheidungen und Schriftstücke im Übrigen und im Einzelnen wird auf die angegebenen Blätter der Akte Bezug genommen.

II. Nachdem sowohl das Arbeitsgericht Frankfurt a. M. als auch das Arbeitsgericht Neuruppin sich mit rechtskräftigen, weil gem. §§ 48 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG, 17 a Abs. 2 und 3 GVG unanfechtbaren, Beschlüsse für örtlich unzuständig erklärt haben, hat das Hessische Landesarbeitsgericht gem. § 36 Abs. 2 ZPO auf die Vorlage des Arbeitsgerichts Neuruppin das örtlich zuständige Arbeitsgericht zu bestimmen. Die Vorlage ist in dem hier gegebenen Fall des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO auch ohne Antrag einer Partei von Amts wegen zulässig, um einen Verfahrensstillstand zu vermeiden (BGH Beschl. v. 31.01.1979 - IV ARZ 111/78 - NJW 1979, 1048; v. 07.03.1991 - I ARZ 15/91 - MDR 1991, 1199).

1. Als örtlich zuständiges Arbeitsgericht ist das Arbeitsgericht Neuruppin als eines der - gem. §§ 12, 13 ZPO - als örtlich zuständig in Betracht kommenden und bisher schon mit der Sache befassten Arbeitsgerichte zu bestimmen.

Zwar war das Arbeitsgericht Frankfurt a. M. entgegen dessen Ansicht als besonderer Wahl-Gerichtsstand des Erfüllungsortes gem. § 29 Abs. 1 ZPO zuständig, weil die Klägerin ihr Wahlrecht zwischen dem allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten bei dem Arbeitsgericht Neuruppin und dem nach dem insoweit unstreitigen Sachverhalt gegebenen Gerichtsstand des Erfüllungsortes Arbeitsgericht Frankfurt a. M., § 35 ZPO, bezüglich des letzteren ausgeübt hat. Das Arbeitsgericht Neuruppin ist aber an den rechtskräftigen Verweisungsbeschluss des Arbeitsgericht Frankfurt a. M. vom 20. Juni 2006 gebunden.

1. Zwar ist der Verweisungsbeschluss des Arbeitsgerichts Frankfurt a. M. rechtswidrig, weil es den Inhalt des Begriffes "Erfüllungsort" verkannt hat. Für Arbeitsverhältnisse gilt für die Verpflichtungen beider Parteien, wovon das Arbeitsgericht Frankfurt a. M. richtig ausgegangen ist, ein einheitlicher Erfüllungsort (BAG Urt. v. 09.10.2002 - 5 AZR 307/01 - EzA § 29 ZPO Nr. 1 unter I 2 c aa; v. 20.04.2004 - 3 AZR 301/03 - EzA § 29 ZPO Nr. 2 unter A II 2 d aa), nämlich der des wirtschaftlichen und technischen Mittelpunktes der Berufstätigkeit des Arbeitnehmers (BAG Beschl.. v. 26.09.2000 - 3 AZN 181/00 - NZA 2001, 286, 287; Urt. v. 20.04.2004, aaO, ebd.). Das ist regelmäßig auch für Kündigungsschutzklagen und so auch hier der Ort, wo die Arbeitsleistung vertragsgemäß zu erbringen ist, wie sich gerade auch aus der von dem Arbeitsgericht selbst zitierten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ergibt (BAG Beschl. v. 03.11.1993 - 5 AS 20/93 - NZA 1994, 479, 480, unter III; s. auch Urt. v. 12.06.1986 - 2 AZR 398/85 - AP Nr. 1 zu Art. 5 Brüsseler Abkommen unter B V 3 b, st. Rspr.; v. 09.10.2002, aaO, ebd; v. 20.04.2004, aaO, ebd.; HessLAG Beschl. v. 11.042006 - 1 SHa 11/06 - zur Veröffentlichung vorgesehen; nahezu einhellige Meinung, vgl. Grunsky, ArbGG, 7. Aufl., § 2 Rn 39; Düwell/Lipke/ Krasshöfer, ArbGG, 2. Aufl., § 2 Rn 56; Schwab/Weth/Walker, ArbGG, 2004, § 2 Rn 230; Zöller/Vollkommer, ZPO, 25. Aufl., § 29 Rn 25 "Arbeitsvertrag"; Opolony, Der Arbeitsgerichtsprozess, Rn 192; Nägele, Das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren, 2004, S. 174; Dewender, DB 2005, 1110, 1111). Als Ort der Erbringung der Arbeitsleistung der Klägerin war Frankfurt a. M. vereinbart. Dort war die Klägerin auch während der gesamten Dauer des Arbeitsverhältnisses bis zum Zugang der Kündigungserklärung ausschließlich tätig. Die daneben getroffene Vereinbarung eines "Dienstsitzes" Berlin hat keinen erkennbaren rechtlichen Gehalt. Die vereinbarte Versetzungsklausel ändert, so lange der Beklagte sein ihm durch diese ausdrücklich eingeräumtes Direktionsrecht nicht ausgeübt hat, an dem tatsächlichen Erfüllungsort nichts (HessLAG Beschl. v. 06.12.04 - 1 SHa 13/04 - n. v.).

Das Arbeitsgericht Frankfurt a. M. hat sich mit der seiner Ansicht widersprechenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Hessischen Landesarbeitsgerichts nicht auseinandergesetzt. Soweit sich das Arbeitsgericht Frankfurt a. M. dagegen auf ein Zitat von Matthes (vgl. Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, ArbGG, 5. Aufl., Rn 163) stützt, an dem Ort des Schwerpunktes oder der Arbeitsleistung sei eine betriebliche Organisation erforderlich, findet diese Ansicht im Gesetz keine Stütze und kann auch nicht floskelhaften Wendungen zur angeblichen - nicht näher ausgeführten - Struktur der Zuständigkeitsbestimmungen der Zivilprozessordnung begründet werden. Soweit Matthes ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Frankfurt vom 14. November 1951 - II LA 277/51 (BB 1952, 603) - zitiert, wird die darin vertretene Ansicht durch die nunmehr zuständige erkennende Kammer ausdrücklich aufgegeben. Auch die weiteren Zitate vermögen die Ansicht des Arbeitsgerichts Frankfurt a. M. nicht zu stützen. Im Kommentar zur Zivilprozessordnung von Stein/Jonas wird von Roth in der 22. Auflage keine andere Ansicht als hier vertreten (vgl. Stein/Jonas/Roth, ZPO, 22. Aufl., § 29 Rn 44). Auch Wenzel äußert keine abweichende Meinung (GK-ArbGG/Wenzel, § 2 Rn 242).

2. Gleichwohl hat es bei der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses für das Arbeitsgericht Neuruppin sein Bewenden, weil er jedenfalls - nur das ist von dem Landesarbeitsgericht zu prüfen - nicht offensichtlich rechtswidrig, d. h. willkürlich und unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt haltbar, ist (BAG Beschl. v. 01.07.1992 - 5 AS 4/92 - AP § 36 ZPO Nr. 39, st. Rspr.; v. 19.03.2003 - 5 AS 1/03 - MDR 2003, 1010; BGH Beschl. v. 09.07.2002 - X ARZ 110/02 - NJW 2002, 1498; vgl. GK-ArbGG/Bader, § 48 Rn 77 - 79; HessLAG Beschl. v. 05. 11 2003 - 1 AR 31/03; Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, ArbGG, 5. Aufl. § 48 Rn 65; Grunsky, ArbGG, 7. Aufl., § 48 Rn 26; Zöller/Greger, ZPO, 25. Aufl., § 281 Rn 14; Thomas/Putzo/Reichhold, ZPO, 26. Aufl., § 281 Rn 12).

Einer der in der Rechtsprechung anerkannten Fälle der Willkür wie Verletzung der Gewährung rechtlichen Gehörs, fehlende Begründung, irrtümliche Verweisung oder Nichtbeachtung einer Gesetzesänderung, die derartige Verweisungen gerade ausschließen wollte, liegt hier nicht vor. Einer solcher Fall wäre selbst dann nicht gegeben, wenn ein schwerwiegender oder krasser Rechtsfehler vorliegen würde (BGH Beschl. v. 16.12.2003 - X ARZ 363/03 - MDR 2004, 587; BAG Beschl. v. 19.03.2003, aaO). Etwas anderes ist auch dem von dem Arbeitsgericht Neuruppin angeführten Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 10.07.1995 - 5 AS 12/95 ( n. v.) - nicht zu entnehmen.

Das Arbeitsgericht Frankfurt a. M. hat sich mit der Frage des Gerichtsstands des Erfüllungsortes Frankfurt a. M. auseinandergesetzt. Allein das Abweichen von höchstrichterlicher Rechtsprechung oder einer herrschenden Meinung reicht zur Annahme einer offenbaren Gesetzeswidrigkeit nicht aus (BGH Beschl. v. 09.07.2002 - X ARZ 110/02 - NJW 2002, 1498), zumal dann nicht, wenn das Gericht einer in einem namhaften Kommentar und - wenn auch vor Jahrzehnten - von dem Vorgängergericht des erkennenden Gerichts vertretenen, wenn auch unhaltbaren, Ansicht folgt.

3. Das Arbeitsgericht Neuruppin wird im Rahmen einer Kostenentscheidung gem. § 21 GKG auch zu entscheiden haben, ob Kosten für die Anrufung eines unzuständigen Gerichts wegen unrichtiger Sachbehandlung nicht zu erheben sind.

Rechtsmittelbelehrung: Gegen diesen Beschluss ist kein Rechtsmittel gegeben, § 37 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

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