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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessisches Landesarbeitsgericht
Urteil verkündet am 15.02.2007
Aktenzeichen: 11 Sa 429/06
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO §§ 178 ff.
ZPO § 538 Abs. 2 Nr. 2
1. Der Antritt einer mehrjährigen Strafhaft hebt die Wohnungseigenschaft i.S.d. §§ 178 ff. ZPO auf, selbst wenn dem Inhaftierten über Angehörige (z.B. Ehefrau) noch Bindungen zur Wohnung bleiben und äußerlich noch der Anschein einer Wohnung des Inhaftierten fortbesteht.

2. Der Antrag auf Zurückverweisung an das Arbeitsgericht kann noch nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist in der Berufungsverhandlung gestellt werden.


Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 31. Januar 2006 - 10 Ca 6721/05 - aufgehoben und die Sache wird zur weiteren Verhandlung - auch über die Kosten der Berufung - an das Arbeitsgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen und einer weiteren außerordentlich fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigung der Beklagten gegenüber dem Kläger.

Die Beklagte ist ein Unternehmen der Chemieindustrie.

Der am 7. Februar 1960 geborene, verheiratete Kläger ist Vater von drei Kindern. Er wurde ab dem 15. November 1984 unter Anrechnung einer Betriebszugehörigkeit seit dem 15. September 1981 bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerin als Betriebsfachwerker beschäftigt. Zuletzt übte der Kläger bei der Beklagten die Funktion eines Betriebsmeisters im A-Betrieb aus und verdiente nach eigenen Angaben im Monat rund € 4.000,00 brutto.

Mit Schreiben vom 19. April 2005 (Bl. 43 d. A.) kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zunächst ordentlich zum 30. September 2005. Mit weiterem Schreiben vom 27. Juni 2005 (Bl. 15 d. A.) kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger wegen unentschuldigten Fehlens auch noch einmal außerordentlich, fristlos und vorsorglich wiederum ordentlich zum 31. Dezember 2005.

Am 29. Juli 2005 trat der Kläger eine voraussichtlich bis zum 23. April 2008 dauernde Haftstrafe an (Bl. 145 d. A.).

Bereits am 3. Mai 2005 hat der Kläger beim Amtsgericht Oldenburg in Holstein unter dem Aktenzeichen 3 C 265/05 Kündigungsschutzklage gegen die zum 30. September 2005 von der Beklagten ausgesprochene Kündigung erhoben. Mit dem am 29. Juni 2005 eingegangenen Schriftsatz vom 28. Juni 2005 hat sich der Kläger zudem gegen die Wirksamkeit der weiteren Kündigung der Beklagten vom 27. Juni 2005 gewandt. Bereits mit Beschluss vom 27. Juni 2005 (Bl. 19 und 20 d. A.) hat das Amtsgericht Oldenburg in Holstein den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das örtlich und sachlich zuständige Arbeitsgericht Frankfurt am Main verwiesen.

Gegen den im Termin zur Güteverhandlung nicht erschienenen Kläger hat das Arbeitsgericht Frankfurt am Main mit am 23. September 2005 verkündeten Versäumnisurteil - 10 Ca 6721/05 (Bl. 96 d. A.) - die Kündigungsschutzklage abgewiesen. Das Versäumnisurteil wurde dem Kläger am 28. September 2005 unter der Anschrift XXXXXXXX XX X in XXXXX XXXXXXX durch Einlegung des Schriftstücks in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Einrichtung zugestellt (Bl. 97 d. A.).

Am 25. November 2005 hat der Kläger gegen das Versäumnisurteil Einspruch eingelegt und zugleich beantragt, ihm wegen der Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Er hat behauptet, weder die Ladung zur Güteverhandlung noch das Versäumnisurteil erhalten zu haben. Erst durch einen Anruf seines Prozessbevollmächtigten bei Gericht am 17. November 2005 habe er hiervon erfahren. Das Versäumnisurteil selbst sei dann seiner Ehefrau nach deren Auszug am 1. September 2005 trotz Nachsendeantrag erst im Dezember 2005 von dem Nachmieter ausgehändigt worden.

Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main hat ohne mündliche Verhandlung mit einem am 31. Januar 2006 verkündeten Urteil - 10 Ca 6721/05 (Bl. 109 - 115 d. A.) - den Einspruch des Klägers als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, das Versäumnisurteil sei dem Kläger am 28. September 2005 noch unter seiner Wohnanschrift XXXXXXXX XX X in XXXXX XXXXXXX wirksam zugestellt worden und sein Einspruch hiergegen sei außerhalb der Wochenfrist des § 59 S. 1 ArbGG erfolgt. Wiedereinsetzung sei dem Kläger nicht zu gewähren. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.

Wegen der Daten der Zustellung des Urteils an den Kläger, der Berufungseinlegung und deren Begründung wird auf die Feststellungen im Protokoll vom 15. Februar 2007 (Bl. 171 d. A.) verwiesen.

Der Kläger wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen. Er ist insbesondere der Ansicht, aufgrund seiner Inhaftierung sei eine Zustellung unter seiner bisherigen Wohnanschrift unwirksam gewesen. Jedenfalls sei aufgrund seiner Inhaftierung und der damit verbundenen Umstände seine fehlende Kenntnis von der Zustellung des Versäumnisurteils unverschuldet gewesen.

Der Kläger beantragt,

1. das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 31. Januar 2006 - 10 Ca 6721/05 - aufzuheben und die Sache zur weiteren Verhandlung an das Arbeitsgericht Frankfurt am Main zurückzuverweisen;

2. hilfsweise für den Fall des Unterliegens das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 31. Januar 2006 - 10 Ca 6721/05 - abzuändern und nach den Schlussanträgen erster Instanz zu erkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und deren Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 31. Januar 2006 - 10 Ca 6721/05 - ist gem. §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2 lit. c ArbGG als Berufung in einem Rechtsstreit über die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1 ArbGG; 519, 520 Abs. 1, 3 und 5 ZPO.

II.

In der Sache hat die Berufung Erfolg, weil sie bereits mit ihrem Hauptantrag begründet ist. Zu Unrecht hat das Arbeitsgericht den Einspruch des Klägers vom 24. November 2005 gegen das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 23. September 2005 - 10 Ca 6721/05 - als unzulässig verworfen. Die gesetzliche Einspruchsfrist von einer Woche hat der Kläger gewahrt, § 59 S. 1 ArbGG. Daher war das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 31. Januar 2006 - 10 Ca 6721/05 - aufzuheben und die Sache auf Antrag des Klägers zur weiteren Verhandlung an das Arbeitsgericht zurückzuverweisen, § 538 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.

1.

Nach § 59 S. 1 ArbGG kann eine Partei gegen ein Versäumnisurteil, das gegen sie ergangen ist, binnen einer Notfrist von einer Woche nach seiner Zustellung Einspruch einlegen. Die einwöchige Einspruchsfrist beginnt mit der ordnungsgemäßen Zustellung des Versäumnisurteils. Daran fehlt es hier. Nach dem Antritt seiner mehrjährigen Haftstrafe ab dem 29. Juli 2005 bis voraussichtlich 23. April 2008 konnte das Versäumnisurteil dem Kläger unter seiner Wohnanschrift XXXXXXXX XX X in XXXXX XXXXXXX nicht mehr durch Einlegen in den Briefkasten am 28. September 2005 gem. § 180 ZPO wirksam zugestellt werden. Nach überwiegender Ansicht (BFH, Urt. v. 20. Oktober 1987 - VII R 19/87 - DB 1988, 378; OLG Hamm, Beschl. v. 11. Februar 1977 - 14 W 78/76 - DGVZ 1978, 23; OLG Düsseldorf, Urt. v. 12. Februar 1980 - 6 UF 137/79 - FamRZ 1980, 713; LG Hagen, Beschl. v. 12. November 1979 - 46 QS 251/79 - NJW 1980, 1703; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, § 178 ZPO Rn 5 "Haft"; MünchKommZPO-v.Feldmann, § 181 ZPO Rn 4; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 178 ZPO Rn 10) hebt der Antritt einer mehrmonatigen Strafhaft die Wohnungseigenschaft auf, selbst wenn der Zustellungsempfänger noch guten Kontakt zu seiner Ehefrau unterhält. Auch ob daneben äußerlich noch der Anschein einer Wohnung des Inhaftierten fortbesteht, kann ebenfalls dahinstehen. Allein die lange Abwesenheit infolge der Strafhaft führt dazu, dass die Eigenschaft der Heimatadresse als Wohnung im Sinne der §§ 178 ff. ZPO aufgehoben wird. Ob eine andere Beurteilung dann geboten sein kann, wenn dem Inhaftierten über Angehörige (z. B. die Ehefrau) noch Bindungen zur Wohnung bleiben (BGH, Urt. v. 24. November 1977 - III ZR 1/76 - NJW 1978, 1858; LAG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 26. November 1997 - 4 Ta 203/209/97 - MDR 1998, 924, 925; Hüßtege, in: Thomas/Putzo, 27. Aufl., § 178 Rn 7; Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 26. Aufl., § 178 Rn 6), muss nach Auffassung des Berufungsgerichts im Streitfall nicht entschieden werden. Dies kann jedenfalls dann nicht (mehr) gelten, wenn die Inhaftierung, wie im Fall des Klägers, für voraussichtlich fast drei Jahre erfolgt. Da maßgeblich die von vornherein absehbare gesamte Dauer des Zwangsaufenthalts in der Haftanstalt ist (Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 178 ZPO Rn 10), verliert angesichts einer so langen Zeitdauer der Inhaftierte seine bisherige Wohnung. Es ist dann in der Regel nicht mehr gewährleistet, dass er während der Dauer seiner mehrjährigen Inhaftierung überhaupt oder zumindest zeitnah Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück nehmen und seine Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung darauf einrichten kann (BGH, Urt. v. 24. November 1977 - III ZR 1/76 - NJW 1978, 1858). Die Sicherstellung und Verwirklichung des rechtlichen Gehörs, die auch durch die Vorschriften über die Zustellung gewährleistet werden soll, begegnet bei einer derartigen Zwangsabwesenheit durchgreifenden Bedenken, Art. 103 Abs. 1 GG. Vorliegend sind auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, warum aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls trotz mehrjähriger Inhaftierung gleichwohl von einer wirksamen Ersatzzustellung des Versäumnisurteils unter der Wohnanschrift des Kläger auszugehen sein könnte, § 180 ZPO.

Demnach hat der Kläger mit seinem Einspruch vom 24. November 2005 gegen das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 23. September 2005 - 10 Ca 6721/05 - die einwöchige Einspruchsfrist des § 59 Satz 1 ArbGG gewahrt. Über den gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung hat das Berufungsgericht deshalb nicht entscheiden müssen.

2.

Nach § 538 Abs. 2 Nr. 2 ZPO darf das Berufungsgericht die Sache, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen, wenn durch das angefochtene Urteil ein Einspruch als unzulässig verworfen ist und eine Partei die Zurückweisung beantragt.

a) Zunächst findet die Vorschrift des § 538 Abs. 2 Nr. 2 ZPO auch im Berufungsverfahren vor den Landesarbeitsgerichten trotz § 68 ArbGG Anwendung, wonach die Zurückverweisung wegen eines Mangels im Verfahren des Arbeitsgerichts unzulässig ist (BCF/Friedrich, ArbGG, 4. Aufl., § 68 Rn 3; ErfK/Koch, 6. Aufl., § 68 ArbGG Rn 4; Germelmann/Matthes/Prütting/ Müller-Glöge, ArbGG, 5. Aufl., § 68 Rn 8).

b) Die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung gem. § 538 Abs. 2 Nr. 2 ZPO liegen vor. Durch das angefochtene Urteil ist der Einspruch des Klägers vom 24. November 2005 gegen das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 23. September 2005 - 10 Ca 6721/05 - als unzulässig verworfen. Auch hat der Kläger die Zurückverweisung beantragt. Ein solcher Antrag muss nicht bereits in der Berufungsbegründung gestellt werden, sondern er kann noch nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist in der Berufungsverhandlung nachgeholt werden (OLG Saarbrücken, Urt. vom 19. Februar 2003 - 1 U 653/02 - 155 - NJW-RR 2003, 573, 574, unter B.I). Die weitere Verhandlung der Sache ist schließlich erforderlich, da eine materielle Überprüfung in erster Instanz noch überhaupt nicht stattgefunden hat (Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, ArbGG, 5. Aufl., § 68 Rn 11). Entscheidungsreife liegt außerdem auch nicht vor, so dass weder der arbeitsrechtliche Beschleunigungsgrundsatz (§ 9 Abs. 1 S. 1 ArbGG) noch die Prozessökonomie dafür sprechen, dass das Berufungsgericht in der Sache selbst abschließend entscheidet.

In diesem Zusammenhang bestand auch keine gesetzlich begründete Veranlassung, der Beklagten über die mündlichen Erörterungen in der Berufungsverhandlung hinaus den von ihr beantragten Schriftsatznachlass zu gewähren.

3.

Da der Kläger mit seinem Hauptantrag obsiegt, hat das Berufungsgericht über den Hilfsantrag des Klägers nicht entscheiden müssen.

III.

Die Kostenentscheidung bleibt aufgrund der Zurückverweisung dem Arbeitsgericht vorbehalten (Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 26. Aufl., § 538 Rn 58). Eine Anordnung des Berufungsgerichts über die Nichterhebung von Kosten wegen unrichtiger Sachbehandlung gem. § 21 Abs. 1 S. 1 GKG scheidet dabei aus. Die Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor. Es geht nicht um eine fehlerhafte Handlungsweise des Arbeitsgerichts, sondern um eine unterschiedliche Rechtsauffassung zu der Frage, unter welchen Umständen die bisherige Wohnung bei längerer Abwesenheit wegen Inhaftierung die Eigenschaft einer Wohnung im Sinne des §§ 178 ff. ZPO verliert.

Für die Zulassung der Revision ist kein gesetzlicher Grund ersichtlich, § 72 Abs. 2 ArbGG.

Ende der Entscheidung

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