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Gericht: Hessisches Landesarbeitsgericht
Beschluss verkündet am 18.10.2005
Aktenzeichen: 4 TaBV 134/05
Rechtsgebiete: BetrVG, ArbGG


Vorschriften:

BetrVG § 50
BetrVG § 76
BetrVG § 111
BetrVG § 112
ArbGG § 98
Für die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Einzel- und Gesamtbetriebsrat für Verhandlungen über einen Interessenausgleich kommt es darauf an, ob die Auswirkungen der Betriebsänderung, die Gegenstand des Interessenausgleichs sein sollen, mehrere Betriebe des Unternehmens erfassen und auf einem einheitlichen unternehmerischen Konzept beruhen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist der Einzelbetriebsrat auch dann offensichtlich unzuständig im Sinne von § 98 Abs. 1 Satz 2 ArbGG, wenn personelle Maßnahmen aufgrund der Betriebsänderung nur in einem Betrieb anfallen.
Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 31. August 2005 - 22 BV 826/05 - wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Bestellung einer Einigungsstelle.

Die zu 2) beteiligte Arbeitgeberin vertreibt Hard- und Softwareprodukte und bietet Serviceleistungen in Zusammenhang hiermit an. Sie ist die deutsche Tochtergesellschaft eines weltweit operierenden ausländischen Konzerns und beschäftigt deutschlandweit in mehreren Betrieben 892 Arbeitnehmer. In den Betrieben sind Betriebsräte gewählt, die einen Gesamtbetriebsrat gebildet haben. Der antragstellende Betriebsrat repräsentiert die 234 Arbeitnehmer des Hauptbetriebes. Zu diesem Betrieb gehört die bisher 21 Arbeitnehmer umfassende Abteilung Finance Deutschland, die für die deutschen Betriebe zentrale Rechnungswesenfunktionen ausübt, u.a. die Provisionsberechnung. Im Juni 2005 unterrichtete die Arbeitgeberin den Betriebsrat über die Absicht der Konzernobergesellschaft, in Irland länderübergreifend ein sog. Shared-Services-Center (SSC) einzurichten, das für verschiedene nationale Konzerngesellschaften einschließlich der Arbeitgeberin Aufgaben des Rechnungswesens übernehmen soll. Dies führt in der Abteilung Finance Deutschland zum Wegfall von fünf oder sechs Stellen.

Der Betriebsrat ist der Auffassung, es handele sich um eine Betriebsänderung im Sinne von § 111 BetrVG. Er verlangte die Bildung einer Einigungsstelle zum Abschluss eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans für diese Maßnahme. Er hat behauptet, die Maßnahme wirke sich nicht nur auf die Inhaber der betroffenen Stellen aus, sondern auf alle durch die auszulagernden Funktionen betroffenen Arbeitnehmer, etwa auf alle Mitarbeiter mit Provisionseinkommen. Hier stellten sich Fragen des Datenaustauschs, des Datenschutzes und der Bearbeitungsdauer. Wegen des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes, der erstinstanzlichen Anträge und der Tatsachenfeststellungen des Arbeitsgerichts wird auf den tatbestandlichen Teil des angefochtenen Beschlusses (Bl. 68 - 72 d.A.) Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat die Anträge des Betriebsrats zurückgewiesen. Es hat angenommen, die Einigungsstelle sei im Sinne von § 98 Abs. 1 Satz 2 ArbGG offensichtlich unzuständig, da keine Betriebsänderung gemäß § 111 BetrVG vorliege. Die betroffene Abteilung sei kein wesentlicher Betriebsteil nach § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG. Die übertragenen Tätigkeiten seien nur Hilfsfunktionen. Wegen der weiteren Gründe wird auf die Entscheidungsgründe (Bl. 72 - 75 d.A.) Bezug genommen.

Der Betriebsrat hat gegen den am 05. September 2005 zugestellten Beschluss am selben Tag Beschwerde eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Er hält an seiner Auffassung fest, dass von der Maßnahme ein wesentlicher Betriebsteil betroffen sei. Dafür sei nicht allein die Zahl der in der Abteilung beschäftigten Arbeitnehmer relevant. Vielmehr sei auch eine qualitative Betrachtung erforderlich. Schließlich komme es auf die Gesamtzahl der von der Maßnahme betroffenen Arbeitnehmer an. Angesichts der Hilfsfunktionen der Abteilungen seien praktische alle Mitarbeiter und alle anderen Organisationseinheiten betroffen. Die Maßnahme habe wesentliche Nachteile für erhebliche Teile der Belegschaft des Betriebs, des Unternehmens und des Konzerns zur Folge. Der Gesamtbetriebsrat sei gleichwohl nicht zuständig, da die Abteilung lediglich im Hauptbetrieb angesiedelt ist, zumal auch die Arbeitgeberin die Zuständigkeit nicht gerügt habe.

Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Vortrags des Betriebsrats wird auf die Schriftsätze vom 05. September und 14. Oktober 2005 Bezug genommen.

Der Betriebsrat beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses nach den in der mündlichen Anhörung vom 31. August 2005 zuletzt gestellten Anträgen zu entscheiden.

Die Arbeitgeberin macht zur Begründung ihres Zurückweisungsantrags weiter geltend, es liege offensichtlich keine Betriebsänderung vor.

Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Vortrags der Arbeitgeberin wird auf den Schriftsatz vom 04. Oktober 2005 Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist nicht begründet. Die vom Betriebsrat angestrebte Einigungsstelle ist nicht zu bilden, da sie für die Regelung der verfahrensgegenständlichen Maßnahme offensichtlich nicht zuständig ist.

Ein Antrag einer Betriebspartei auf Bestellung des Vorsitzenden einer Einigungsstelle und auf Festlegung der Zahl der Beisitzer gemäß § 76 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 BetrVG kann nach § 98 Abs. 1 Satz 2 ArbGG wegen fehlender Zuständigkeit nur zurückgewiesen werden, wenn die Einigungsstelle offensichtlich unzuständig ist. Dies ist der Fall, wenn die Zuständigkeit unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt als möglich erscheint, wenn ihre Zuständigkeit also bei sachgerechter Beurteilung auf den ersten Blick unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründet ist. Das Bestellungsverfahren soll weder durch die Klärung komplizierter Rechtsfragen noch durch die Aufklärung streitiger Tatsachen belastet werden; diese Aufgaben sind ggf. der Einigungsstelle vorbehalten. Für deren Bestellung ist entscheidend, ob an ihrer Unzuständigkeit ernsthafte rechtliche Zweifel möglich sind. Bei Kontroversen in Rechtsprechung und Literatur über die für die Zuständigkeit maßgeblichen Rechtsfragen besteht der Zurückweisungsgrund der offensichtlichen Unzuständigkeit nicht (LAG Berlin 22. Juni 1998 - 9 TaBV 3/98 - LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 32, zu 3 a; LAG Köln 13. Januar 1998 - 13 TaBV 60/97 - LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 33, zu II 2 b aa; LAG Hamm 09. August 2004 - 10 TaBV 81/04 - LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 43, zu B II 1).

Dahinstehen kann, ob die Maßnahme in diesem Sinn offensichtlich nicht Beteiligungsrechte nach §§ 111, 112 BetrVG auslöst. Für den Abschluss eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans wäre ggf. jedenfalls nicht der Betriebsrat, sondern der Gesamtbetriebsrat zuständig. Zumindest derzeit besteht eine Zuständigkeit des Betriebsrats ohne gesetzlich begründbare Zweifel eindeutig nicht. Die Zuständigkeitsprüfung nach dem Maßstab von § 98 Abs. 1 Satz 2 ArbGG umfasst auch die Zuständigkeitsverteilung zwischen Einzel- und Gesamtbetriebsrat (vgl. Hess. LAG 13. April 1999 - 4 TaBV 41/99 - NZA-RR 2000/83, zu II 1, 3 b; LAG München 31. Januar 2003 - 9 TaBV 59/02 - AuR 2003/238 L, zu 3).

Bei mitbestimmungspflichtigen Betriebsänderungen ist der Gesamtbetriebsrat gemäß § 50 Abs. 1 BetrVG originär zuständig, wenn sich die Maßnahme auf alle oder mehrere Betriebe des Unternehmens auswirkt und deshalb eine einheitliche Regelung notwendig ist. Liegt der Betriebsänderung ein unternehmenseinheitliches Konzept zugrunde, ist die Mitwirkung Aufgabe des Gesamtbetriebsrats (BAG 24. Januar 1996 - 1 AZR 542/95 - BAGE 82/79, zu I 1, 2; 08. Juni 1999 - 1 AZR 831/98 - AP BetrVG 1972 § 111 Nr. 47, zu III 2; 11. Dezember 2001 - 1 AZR 193/01 - EzA BetrVG 1972 § 50 Nr. 18, zu II 1 b). Allerdings folgt aus der Kompetenz des Gesamtbetriebsrats zum Abschluss eines Interessenausgleichs nicht ohne weiteres auch dessen Zuständigkeit für den Abschluss eines Sozialplans. Für diesen sind die Voraussetzungen von § 50 Abs. 1 BetrVG gesondert zu prüfen. Es muss ein zwingendes Bedürfnis nach einer betriebsübergreifenden Regelung bestehen. Insoweit sind insbesondere die Ausgestaltung der Betriebsänderung im Interessenausgleich und die den Arbeitnehmern dadurch entstehenden Nachteile entscheidend. Der Gesamtbetriebsrat bleibt dann auch für den Sozialplan zuständig, wenn die im Interessenausgleich vereinbarte Betriebsänderung mehrere oder sämtliche Betriebe des Unternehmens erfasst und wenn die Durchführung des Interessenausgleichs von betriebsübergreifenden einheitlichen Kompensationsregelungen abhängig ist (BAG 11. Dezember 2001 a.a.O., zu II 1 c; 23. Oktober 2002 - 7 ABR 55/01 - EzA BetrVG 2001 § 50 Nr. 1, zu II 2 b aa).

Nach diesem Maßstab fehlt die Zuständigkeit des Betriebsrats für den Abschluss von Interessenausgleich und Sozialplan, ohne dass Zweifel an diesem Ergebnis verbleiben. Der Betriebsrat betont selbst die betriebs-und unternehmensübergreifenden Auswirkungen der Maßnahme, der ein europa-, zumindest aber deutschlandweites einheitliches unternehmerisches Konzept zugrunde liegt. Dass die betroffene Abteilung allein in den vom Betriebsrat repräsentierten Betrieb eingegliedert war, ändert daran nichts. Da der Interessenausgleich der Gestaltung der Betriebsänderung und der Sozialplan dem Ausgleich oder der Milderung deren wirtschaftlicher Nachteile für die betroffenen Arbeitnehmer dient, kommt es für die Zuständigkeit auf das Konzept des Arbeitgebers bzw. auf die Auswirkungen der Maßnahme für die Arbeitnehmer an. Das unternehmerische Konzept und dessen Auswirkungen sind nach der Darstellung des Betriebsrats deutschlandweit einheitlich.

Auch hinsichtlich des Sozialplans besteht jedenfalls derzeit eine Zuständigkeit des Betriebsrats offensichtlich nicht. Die vom Betriebsrat angeführten Fragen des Datenaustauschs, des Datenschutzes und der Bearbeitungsdauer können ggf. durchaus unternehmenseinheitliche Kompensationsregelungen erforderlich machen. Solange ein Interessenausgleich - sofern die Voraussetzungen von § 111 BetrVG tatsächlich vorliegen sollten - nicht geschlossen ist, ist keine Grundlage für den Abschluss darauf aufbauender Sozialpläne vorhanden. Ob die Maßnahme interessenausgleichpflichtig ist, ist daher zunächst im Verhältnis zwischen Gesamtbetriebsrat und Arbeitgeber zu klären. Für den Betriebsrat besteht jedenfalls derzeit keine gesetzliche Aufgabe in diesem Zusammenhang.

Für diese Feststellung ohne Bedeutung ist schließlich, dass die Arbeitgeberin nicht die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats geltend gemacht hat. Für die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Gesamt- und Einzelbetriebsrat ist die Auffassung des Arbeitgebers nicht relevant, sondern die gesetzliche Regelung von § 50 BetrVG.

Ende der Entscheidung

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