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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 17.01.2005
Aktenzeichen: (1) 2 StE 10/03-2 (4/03)
Rechtsgebiete: StPO, RVG, BRAGO


Vorschriften:

StPO § 140 Abs. 1 Nr. 1
RVG § 15
RVG § 33 Abs. 3 Satz 3
RVG § 48 Abs. 5
RVG § 48 Abs. 5 Satz 1
RVG § 56 Abs. 1 Satz 1
RVG § 56 Abs. 2 Satz 1
RVG § 56 Abs. 2 Satz 2
RVG § 56 Abs. 2 Satz 3
RVG § 60
RVG § 60 Abs. 1 Satz 1
RVG § 60 Abs. 2
RVG § 61
RVG § 61 Abs. 1 Satz 1
BRAGO § 134
BRAGO § 134 Abs. 1 Satz 1
Der zuvor bereits als Wahlverteidiger tätig gewesene Pflichtverteidiger wird nach dem RVG vergütet, wenn die Bestellung nach dem 30. Juni 2004 erfolgt ist.
Geschäftsnummer: (1) 2 StE 10/03-2 (4/03)

In der Strafsache gegen

wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion,

hier nur betreffend die Verfahren über die Festsetzung der Pflichtverteidigervergütungen der Rechtsanwälte R...... und K.......,

hat der 1. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 17. Januar 2005 beschlossen:

Tenor:

1. Auf die Erinnerungen der Rechtsanwälte R...... und K....... vom 23. September und 5. Oktober 2004 werden die Beschlüsse des Kammergerichts - Rechtspflegerin - vom 13. und 27. September 2004 aufgehoben.

2. Die aus der Landeskasse zu erstattende Pflichtverteidigervergütung wird für den Rechtsanwalt R...... auf 1.958,26 EUR und für den Rechtsanwalt K....... auf 2.485,48 EUR festgesetzt.

3. Das Verfahren über die Erinnerung ist gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.

Gründe:

I.

Die Erinnerungsführer waren in dem zugrundeliegenden Strafverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung u.a. vor dem 1. Juli 2004 als Wahlverteidiger für den damaligen Angeklagten tätig und wurden diesem auf ihre Anträge vom 7. Juli 2004 von dem Vorsitzenden des Senats am gleichen Tage gemäß § 140 Abs.1 Nr.1 StPO als Pflichtverteidiger bestellt. Der damalige Angeklagte wurde am vierten Verhandlungstag zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.

Mit seinem Antrag vom 3. August 2004 begehrte Rechtsanwalt R......, der an drei Hauptverhandlungsterminen teilgenommen hatte, die Festsetzung seiner aus der Landeskasse zu erstattenden Pflichtverteidigervergütung nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) vom 5. Mai 2004 (BGBl. I S.718, in Kraft seit dem 1. Juli 2004) wie folgt:

Grundgebühr (Nr.4100 VV): 132,00 EUR Verfahrensgebühr (Nr.4118 VV): 264,00 EUR Terminsgebühr (Nr. 4120 VV): 356,00 EUR 356,00 EUR 356,00 EUR Reisekosten (Nr.7004 VV): 168,50 EUR Abwesenheitsgeld (Nr.7005 VV): 60,00 EUR Auslagenpauschale (Nr. 7002 VV): 20,00 EUR Zwischensumme netto 1.712,50 EUR 16% Mehrwertsteuer (Nr.7008 VV): 245,76 EUR Rechnungsbetrag 1.958,26 EUR.

Mit Schriftsatz vom 5. August 2004 beantragte Rechtsanwalt K......., der an allen vier Hauptverhandlungsterminen teilgenommen hatte, folgende Festsetzung nach dem RVG:

Grundgebühr 132,00 EUR Verfahrensgebühr 264,00 EUR Terminsgebühren 1.424,00 EUR Reisekosten 272,20 EUR Abwesenheitsgeld 60,00 EUR Pauschale für Aktenübersendung 8,00 EUR Auslagenpauschale 20,00 EUR 2.180,20 EUR 16% Mehrwertsteuer 305,28 EUR 2.485,48 EUR.

Mit Beschlüssen vom 13. und 27. September 2004 hat die Rechtspflegerin die Kostenfestsetzungsanträge jeweils in vollem Umfang mit der Begründung zurückgewiesen, es sei altes Gebührenrecht(BRAGO) anzuwenden. Eine Festsetzung nach altem Gebührenrecht hat sie gleichwohl nicht vorgenommen. Mit ihren dagegen eingelegten Erinnerungen begehren die Verteidiger weiterhin die Vergütungsfestsetzung nach dem RVG in der beantragten Höhe.

II.

1. Die zulässigen, insbesondere gemäß § 56 Abs.1 Satz 1, Abs.2 Satz 1 RVG in Verbindung mit § 33 Abs.3 Satz 3 RVG rechtzeitig erhobenen Rechtsmittel haben Erfolg.

Die den Erinnerungsführern aus der Landeskasse zu erstattenden Pflichtverteidigervergütungen sind nach dem neuen Gebührenrecht des RVG zu bemessen. Gemäß § 61 Abs.1 Satz 1 RVG ist altes Gebührenrecht (BRAGO) weiter anzuwenden, wenn der unbedingte Auftrag zur Erledigung derselben Angelegenheit im Sinne des § 15 RVG vor dem 1. Juli 2004 erteilt oder der Rechtsanwalt vor diesem Zeitpunkt gerichtlich bestellt oder beigeordnet worden ist. Der Senat legt die Übergangsvorschrift des § 61 Abs.1 Satz 1 RVG dahin aus, dass dann, wenn der Verteidiger vor dem 1. Juli 2004 bereits als Wahlverteidiger tätig war und an oder nach diesem Stichtag zum Pflichtverteidiger bestellt worden ist, es für die Frage des anzuwendenden Gebührenrechts allein auf den Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung ankommt. Wurde sie am Stichtag oder später vorgenommen, gilt neues, war sie vorher erfolgt, gilt altes Gebührenrecht. Der Gesetzestext des hinsichtlich seiner Anknüpfungsmerkmale mit § 134 Abs.1 Satz 1 BRAGO wortgleichen § 61 Abs.1 Satz 1 RVG lässt sich sowohl in diesem Sinne als auch dahin auslegen, dass die Anknüpfungspunkte der unbedingten Auftragserteilung einerseits und der gerichtlichen Bestellung oder Beiordnung andererseits alternativ nebeneinander stehen, mithin in Fällen wie dem gegebenen, in dem ein Anknüpfungsumstand vor dem Stichtag verwirklicht wurde, altes Gebührenrecht anzuwenden wäre. In Rechtsprechung und Schrifttum wurden und werden angesichts dieser - mit überzeugenden Gründen nicht bestreitbaren - Auslegungsfähigkeit des § 134 Abs.1 Satz 1 BRAGO und des § 61 Abs.1 Satz 1 RVG jedoch unterschiedliche Auffassungen vertreten. Nach der herrschenden Meinung kommt es allein auf den Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung an, da spätestens mit ihr das Wahlmandat ende und somit nicht mehr als Anknüpfungspunkt zur Verfügung stehe (vgl. etwa OLG Düsseldorf JurBüro 1996, 189; OLG Celle MDR 1995, 532; OLG Köln StV 1995, 306; OLG Schleswig SchlHA 1989, 80; OLG Koblenz Rpfleger 1988, 123; Madert in Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert, BRAGO 15. Aufl., § 134 Rdn.15; Hartmann, Kostengesetze 32. Aufl., § 134 Rdn.18 - jeweils zum alten Recht; OLG Schleswig, Beschluss vom 30. November 2004 - 1 Ws 423/04 - ; Madert in Gerold/Schmidt/ von Eicken/Madert/Müller-Rabe, RVG, 16. Aufl., § 60 Rdn. 32; Burhoff in Burhoff/Kindermann, RVG Rdn. 470; Jungbauer in Bischof/Jungbauer/Podlech-Trappmann, RVG, § 61 Rdn.27; Hartmann, Kostengesetze, 34. Aufl., § 60 RVG Rdn. 18; jeweils zum neuen Recht).

Demgegenüber kommt nach anderer Meinung dem Zeitpunkt der gerichtlichen Bestellung des Verteidigers nur dann Bedeutung zu, wenn dieser nicht schon vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung als Wahlverteidiger mit der Sache befasst war (vgl. zum alten Recht: OLG Frankfurt StV 1995, 597; OLG Bamberg JurBüro 1989, 965; KG, Beschlüsse vom 20. Februar 2003 - 5 Ws 45/03 -, 18. Oktober 1995 - 5 Ws 393/95 - und 21. Dezember 1994 - 4 Ws 329/94 - in RPfleger 1995, 380; zum neuen Recht: LG Berlin, Beschlüsse vom 9. Dezember 2004 - 533 Qs 94/04 -, 5. November 2004 - 536 Qs 7/04 - und 21. Oktober 2004 - 503-39/03 -; Göttlich/Mümmler, RVG, zum Stichwort Übergangsregelung, S. 974)

Der Senat schließt sich unter Aufgabe der früheren Rechtsprechung des Kammergerichts zu § 134 Abs.1 Satz 1 BRAGO, nach der die jeweils alten Gebührensätze heranzuziehen waren (vgl. KG, a.a.O.), der erstgenannten, herrschenden Auffassung an. Letztlich ausschlaggebend ist bei der Auslegung des § 61 Abs.1 Satz 1 RVG der in den Materialien zum Gesetzentwurf (BT-Drucksache 15/1971) zu den (in unveränderter Fassung in Kraft getretenen) §§ 60, 61 RVG-E geäußerte Wille des Gesetzgebers. Dort heißt es bezüglich § 60:

"(...)Legt jedoch der Wahlverteidiger sein Mandat nieder und wird er anschließend zum Pflichtverteidiger bestellt, liegt hinsichtlich der Pflichtverteidigervergütung kein Zusammentreffen mehrerer Tatbestände im Sinne des Satzes 1 vor. Erfolgt die Pflichtverteidigerbestellung nach dem Stichtag, soll die Pflichtverteidigervergütung nach neuem Recht berechnet werden. Dies soll auch für Tätigkeiten vor dem Stichtag gelten, soweit diese nach § 48 Abs.5 RVG-E zu vergüten sind. Eine Aufspaltung der Vergütung könnte bei einer Veränderung des Abgeltungsbereiches einzelner Gebühren zu massiven Problemen bei der Gebührenbemessung führen. Weder diese Übergangsvorschrift noch § 134 BRAGO gelten jedoch für die Übergangsfälle aufgrund des Inkrafttretens dieses Gesetzes. Für diese Fälle sieht § 61 RVG-E eine eigene Übergangsregelung vor."

Im Anschluss daran heißt es zu § 61:

"Absatz 1 der für das Inkrafttreten dieses Gesetzes vorgeschlagenen Übergangsvorschrift entspricht im Grundsatz dem vorgeschlagenen § 60 Abs.1 Satz 1 und 2 RVG-E. Insoweit wird auf die dortige Begründung verwiesen (...)."

Mit diesen Ausführungen formuliert der Gesetzgeber - in Kenntnis des Meinungsstreites zu § 134 Abs.1 Satz 1 BRAGO - ausdrücklich für die hier in Rede stehende Fallgestaltung seine Vorstellung, nach der die Pflichtverteidigervergütung nach neuem Recht erfolgen und dies auf der Grundlage des insoweit für § 61 Abs.1 Satz 1 RVG unverändert übernommenen Wortlautes des § 134 Abs.1 Satz 1 BRAGO geschehen soll. Diesem klar zu Tage getretenen gesetzgeberischen Willen kommt hier für die Norminterpretation bestimmende Bedeutung zu.

Zwar gebührt dieser (subjektiven) Auslegungsmethode im Verhältnis zu den sonstigen anerkannten Auslegungskriterien, die sich auf den Wortsinn, den gesetzessystematischen Bedeutungszusammenhang und den Sinn und Zweck der Norm beziehen, grundsätzlich ebensowenig der Vorrang, wie einer der anderen; lässt sich indes, wie hier, der Regelungsgehalt einer Vorschrift weder aus ihrem Wortlaut, noch aus ihrem Bedeutungszusammenhang oder anhand ihres Regelungszweckes eindeutig bestimmen, kann der im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens beigegebenen Begründung jedenfalls dann maßgebliche Bedeutung zukommen, wenn Gesetzgebung und konkrete Rechtsanwendung zeitlich eng zusammen liegen.

Der verschiedentlich (vgl. Beschlüsse des LG Berlin a.a.O.) gegen die Anwendung des neuen Vergütungsrechts herangezogene Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes des Kostenschuldners führt zu keinem anderen Ergebnis. Ihm kommt bei der Entscheidung über die Höhe der dem Pflichtverteidiger zustehenden Gebühren kein maßgebliches Gewicht zu (tendenziell in diesem Sinne bereits KG, Beschluss vom 20. Februar 2003 - 5 Ws 45/03 -), da sich die Pflichtverteidigerbestellung als eigener prozessualer Akt darstellt, dessen gebührenrechtliche Folge der Kostenschuldner hinzunehmen hat. Schließlich ist auch kein ausreichender Grund dafür ersichtlich, einen Angeklagten, dessen Wahlverteidiger nach dem Stichtag zum Pflichtverteidiger bestellt wird, gebührenrechtlich besser zu stellen als einen zuvor unverteidigt gewesenen Angeklagten, dem nach Inkrafttreten des neuen Vergütungsrechts ein Pflichtverteidiger bestellt wird. Letztlich spricht auch die Regelung des § 48 Abs.5 Satz 1 RVG, nach welcher der bestellte Verteidiger, mag er auch zuvor Wahlverteidiger gewesen sein, die Vergütung rückwirkend auch für seine Tätigkeit vor dem Zeitpunkt seiner Bestellung erhält, für die Anwendung neuen Gebührenrechts (in diesem Sinne auch Hartung in Hartung/Römermann, Praxiskommentar zum RVG, § 60 Rdn. 22, 23).

2. Der Senat entscheidet im Erinnerungsverfahren selbst in der Sache (vgl. von Eicken in Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert/ Müller-Rabe, RVG, 16. Aufl., § 56 Rdn. 11).

Die Vergütungen sind auch der Höhe nach nicht zu beanstanden. Sie waren daher antragsgemäß festzusetzen. Beide Erinnerungsführer beziehen sich auf die zutreffenden Gebühren- und Auslagentatbestände des Vergütungsverzeichnisses (VV, Anlage 1 zu § 2 Abs.2 RVG). Die Reisekosten (Nr.7004 VV) sind anläßlich einer Besprechung der Verteidiger mit der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe entstanden. Sie sind angemessen und waren für eine sachgemäße Verteidigung erforderlich. Die von Rechtsanwalt K....... in Höhe von 8,00 EUR angesetzte Position ("Pauschale für die Übersendung der Akten") beruht auf der entsprechenden Kostenforderung der Generalbundesanwaltschaft an den Verteidiger für die Übersendung von Ablichtungen der kompletten Verfahrensakten. Eine Ablichtungspauschale (Nr.7000 VV) ist von den Erinnerungsführern folglich auch nicht in Ansatz gebracht worden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 56 Abs.2 Satz 2 und 3 RVG.

Ende der Entscheidung

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