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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 31.05.2006
Aktenzeichen: (5) 1 Ss 68/06 (8/06)
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 47 Abs. 1
Die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe - vorliegend wegen Erschleichens von Leistungen (hier der Beförderung durch ein Verkehrsmittel) bedarf einer Begründung, die sich gesondert und eingehend mit den gesetzlichen Voraussetzungen in § 47 Abs. 1 StGB auseinandersetzt. Sie muß auch erkennen lassen, daß das Gericht sich der Bedeutung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes bewußt gewesen ist und die besondere Härte der kurzen Freiheitsstrafe im Vergleich zur Geldstrafe in seine Erwägungen einbezogen hat.
Geschäftsnummer: (5) 1 Ss 68/06 (8/06)

In der Strafsache gegen

wegen Erschleichens von Leistungen

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts Berlin am 31. Mai 2006 gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 15. August 2005 im Rechtsfolgenausspruch mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Kammer des Landgerichts Berlin zurückverwiesen.

Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat den Angeklagten wegen Erschleichens von Leistungen - hier der Beförderung durch ein Verkehrsmittel - in fünf Fällen auf der Grundlage von Einzelfreiheitsstrafen von je einem Monat zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Von einer Aussetzung der Vollstreckung dieser Strafe zur Bewährung hat es abgesehen. Die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Berlin verworfen. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der Revision, die er mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hält die Revision für begründet. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Die durch die Sachrüge veranlaßte Überprüfung ergibt, daß der Rechtsfolgenausspruch des landgerichtlichen Urteils keinen Bestand haben kann, weil er auf einer rechtsfehlerhaften Erfassung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Verhängung von Freiheitsstrafen unter sechs Monaten nach § 47 Abs. 1 StGB beruht. Das Gesetz sieht vor, daß derartige Freiheitsstrafen nur dann verhängt werden dürfen, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, einen solchen Strafausspruch zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich machen. Darin kommt allgemein zum Ausdruck, daß kurze Freiheitsstrafen nur ausnahmsweise und als letztes Mittel zur Anwendung kommen sollen. Dem gesetzgeberischen Gebot ist dadurch Rechnung zu tragen, daß von dieser Ahndungsmöglichkeit äußerst zurückhaltend Gebrauch gemacht wird (vgl. dazu und zum Folgenden KG StV 2004, 383; Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl., § 47 Rn. 2, 6 ff., jeweils mit weit. Nachw.).

Die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe hat dementsprechend eine umfassende Feststellung und erschöpfende Würdigung aller tat- und täterbezogenen Umstände zur Voraussetzung, die für und gegen die Annahme eines derartigen Ausnahmefalls sprechen. Die Formulierung im Gesetz, derzufolge alternativ auf besondere Umstände in der Tat oder in der Persönlichkeit des Täters abzustellen ist, darf nicht in der Weise mißverstanden werden, daß allein täterbezogene Umstände die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe rechtfertigen könnten. Hier wie im gesamten Bereich der Strafzumessung ist das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit von Tat und Rechtsfolge zu beachten (vgl. KG StV 2004, 383; OLG Karlsruhe NJW 2003, 1825; OLG Stuttgart NJW 2002, 3188). Die Rechtsfolge der kurzen Freiheitsstrafe muß sich daher auch im Hinblick auf das Gewicht der Tat und die Schwere der Tatschuld als gerechtfertigt erweisen.

Eine kurze Freiheitsstrafe belastet den Täter regelmäßig weitaus stärker als eine Geldstrafe. Daher ist, sofern die Tat Bagatellcharakter hat, die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen denkbar. Täterbezogene Umstände wie einschlägige Vorstrafen und Bewährungsversagen sind, für sich genommen, ungeeignet, eine solche Sanktion zu legitimieren. Soweit ihnen eine indizielle Bedeutung für die Beurteilung der Tatschuld zukommt, können sie zu einer entscheidenden Erhöhung des Stellenwertes der Tat nur dann führen, wenn sie ein die gewöhnlichen Fälle deutlich übertreffendes Ausmaß an Pflichtwidrigkeit belegen (vgl. OLG Karlsruhe NJW 2003, 1825 f., und NStZ-RR 1997, 248). Das kann etwa der Fall sein bei Taten, die aus prinzipieller rechtsfeindlicher Gesinnung begangen werden oder wenn Umstände festgestellt sind, die ausweisen, daß Geldstrafen auf den Täter keine Wirkung entfalten. Ausnahmslos steht der Bagatellcharakter der Verhängung einer Freiheitsstrafe nicht entgegen (vgl. OLG Stuttgart NJW 2006, 1222; Senat, Beschlüsse vom 12. Mai 2006 - 5 Ws 274/06 -; 20. April 2005 - 5 Ws 107/05 - und 25. Juli 2003 - 5 Ws 288/03 -).

Aus der Entscheidung des Gesetzgebers für eine Beschränkung der kurzen Freiheitsstrafe auf Ausnahmefälle ergeben sich auch besondere Anforderungen an die Begründung der Sanktionsentscheidung im tatgerichtlichen Urteil (vgl. KG StV 2004, 383). Die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe bedarf einer Begründung, die sich gesondert und eingehend mit den gesetzlichen Voraussetzungen in § 47 Abs. 1 StGB auseinandersetzt. Sie muß auch erkennen lassen, daß das Gericht sich der Bedeutung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes bewußt gewesen ist und die besondere Härte der kurzen Freiheitsstrafe im Vergleich zur Geldstrafe in seine Erwägungen einbezogen hat.

Diesen Grundsätzen wird das landgerichtliche Urteil nicht gerecht. Es fehlt bereits an einer gesonderten, von allgemeinen Strafzumessungserwägungen klar abgegrenzten Befassung mit den Voraussetzungen von § 47 Abs. 1 StGB und den Anforderungen, die sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergeben.

Vielmehr wird unter unklarer Bezugnahme ("nach alledem") auf voranstehende allgemeine Ausführungen zur Strafzumessung eine Verhängung kurzer Freiheitsstrafen für die Einzeltaten als unerläßlich bezeichnet. Bezug genommen wird damit auf die den Angeklagten belastenden Umstände, daß er die Taten während einer laufenden Bewährungszeit begangen hat und daß er zuvor bereits wegen vier einschlägiger Taten, die er ebenfalls während einer laufenden Bewährungszeit verübt hat, zu einer Gesamtgeldstrafe verurteilt worden ist. Angefügt wird dann lediglich noch, daß die Verhängung bloßer Geldstrafen nicht vertretbar sei, weil dem Angeklagten deutlich vor Augen geführt werden müsse, daß der Tatbestand der Leistungserschleichung nicht bloß ein "nicht ernstzunehmendes Kavaliersdelikt" sei. Diese Begründung läßt wesentliche Umstände unberücksichtigt, die für die Prüfung von Bedeutung sind, ob die Voraussetzungen eines Ausnahmefalls vorliegen, der zur Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe berechtigt.

Insbesondere wäre noch das Folgende zu berücksichtigen gewesen. Es ist jeweils lediglich ein geringfügiger Schaden in Höhe des Preises für eine Fahrkarte entstanden, die der Angeklagte für die Durchführung der Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln der BVG hätte lösen müssen, insgesamt also ein Schaden in Höhe des Preises für fünf Fahrkarten. Das geringe Gewicht der Taten kommt auch darin zum Ausdruck, daß der geschädigte Verkehrsbetrieb, wie die Urteilsgründe ausweisen, nur mit zeitlicher Verzögerung sein Interesse an einer Strafverfolgung durch Stellen eines Strafantrags bekundet hat, was darauf schließen läßt, daß ihm zur Hauptsache an der Beitreibung des so genannten erhöhten Beförderungsentgelts gelegen gewesen ist. Hinsichtlich dreier Taten wurde der Strafantrag erst nach Ablauf der gesetzlichen Frist gestellt. Außerdem wird der Unrechtsgehalt der Taten erheblich dadurch gemindert, daß der Angeklagte in vier der fünf Fälle keine Zugangskontrollen überwinden mußte, weil U-Bahn und Straßenbahn ohne Fahrscheinkontrolle betreten werden können und lediglich bei der Benutzung von Bussen ein Fahrausweis vorgezeigt werden muß. Eine Beförderungserschleichung, die lediglich im Fahren ohne Fahrschein besteht, liegt nach ihrem objektiven Gewicht an der untersten Grenze desjenigen Bereichs menschlichen Verhaltens, den die Rechtsordnung mit Strafe bedroht (vgl. KG StV 2004, 383). Vielfach wird sogar eine Entkriminalisierung mit der Begründung gefordert, daß die Sanktionierung mittels Strafe unangemessen hart sei (vgl. Tiedemann in LK, 11. Aufl., § 265 a Rdnr. 7, 47). Schließlich wäre es geboten gewesen, die in Rechtskraft erwachsene Feststellung des erstinstanzlichen Urteils zum Tatgeschehen einzubeziehen, wonach der Angeklagte die Fahrten "wahrscheinlich ... im Zusammenhang mit von ihm betreuten Baustellen" unternommen hat. Das läßt vermuten, daß er die Beförderung nur gelegentlich und aus einem bestimmten Anlaß, nicht aber in prinzipieller Mißachtung der Beförderungsbedingungen der Verkehrsgesellschaft erschlichen hat. Dieser Unterschied im Tatmotiv ist von wesentlicher Bedeutung für die Bewertung der Tat und der Täterpersönlichkeit. Insofern und auch im Hinblick auf die Frage, ob der Angeklagte aus Mangel an finanziellen Mitteln oder aus sonstigen Gründen gehandelt hat, bedarf es noch weiterer Aufklärung.

2. Soweit das Landgericht auf Vorstrafen des Angeklagten und sein Bewährungsversagen abgestellt hat, ist auf Folgendes hinzuweisen. Wie dargelegt, kann auf diese Umstände allein, also ohne Berücksichtigung des Gewichts der Tat und der Schwere der Tatschuld, die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe nicht gestützt werden. Auch ist eine rein schematische Verwertung dieser Umstände verfehlt. Vielmehr muß konkret dargelegt werden, daß ihnen eine straferschwerende Bedeutung zukommt (vgl. OLG Karlsruhe NJW 2003, 1825 f.; Stree in Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., Rdnr. 11). Sie kann sich insbesondere aus der Warnfunktion einer Vorverurteilung und einer Aussetzungsentscheidung ergeben. Insofern erweckt es jedoch Bedenken, wenn das Landgericht die Einlassung des Angeklagten, er habe von einem früheren Strafbefehl wegen Beförderungserschleichung keine Kenntnis gehabt, mit der Begründung zurückweist, daß er, wie von ihm eingestanden, seinerzeit vorsätzlich seine gesamte Post ungeöffnet gelassen habe, was dazu führe, daß er sich dessen Inhalt zurechnen lassen müsse. Im Falle bloßer "Zurechnung" kann ein in einem ungeöffneten Brief enthaltener Strafbefehl keine Warnfunktion entfalten. Allerdings bedarf es auch nicht unbedingt der Feststellung, daß der Angeklagte Kenntnis vom Strafbefehl erlangt hat, um eine Warnfunktion annehmen zu können. Wer eine Beförderungserschleichung begeht und die Zahlung des erhöhten Beförderungsentgelts verweigert, muß, wie allgemein bekannt ist, mit Strafverfolgung rechnen. Läßt er seine Post ungeöffnet, so nimmt er bewußt in Kauf, daß ihm staatliche Strafverfolgungsmaßnahmen nicht zur Kenntnis gelangen. Bereits von dem Wissen, daß die Tat verfolgbar ist und möglicherweise auch Verfolgungshandlungen ausgelöst hat, geht eine Warnfunktion aus.

3. Auf Grund der dargelegten Feststellungs- und Erörterungsmängel muß der Rechtsfolgenausspruch des landgerichtlichen Urteils aufgehoben werden. Eine Entscheidung des Senats gemäß § 354 Abs. 1 a StPO kommt nicht in Betracht, weil weitere Feststellungen erforderlich sind. Die Sache wird daher nach § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Diese wird, sollte sie - auch unter Berücksichtigung der hier dargelegten Grundsätze - die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe für unerläßlich halten, im Rahmen der Prüfung einer etwaigen Strafaussetzung zur Bewährung wiederum den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten und das geringe Gewicht der angeklagten Taten zu bedenken haben (vgl. KG StV 2004, 383).

Ende der Entscheidung

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