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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 26.09.2005
Aktenzeichen: 1 AR 1033/05 - 5 Ws 430/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 460
StPO § 462a Abs. 1
(1) Für die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ist die Strafvollstreckungskammer zuständig, wenn gegen den Verurteilten zum Zeitpunkt der zu treffenden Entscheidung eine Freiheitsstrafe vollstreckt wird. Dies gilt auch dann, wenn das Gericht des ersten Rechtszuges schon mit der Entscheidung über den Widerruf befasst war.

(2) Ein Widerrufsverfahren kann ausnahmsweise vor dem Gesamtstrafenverfahren im Sinne von § 460 StPO betrieben werden, wenn in beiden Verfahrensarten dieselben Tatsachen zur Verfügung stehen. Das Bestehen auf dem Vorrang der Gesamtstrafenbildung erschöpfte sich in einer leeren Förmlichkeit, wenn die mit ihr vorgenommene Neuordnung der Vollstreckungsgrundlagen nach den zugrunde liegenden Umständen kein anderes Ergebnis erbringen könnte, als das Widerrufsverfahren.


1 AR 1033/05 - 5 Ws 430/05

In der Strafsache gegen

wegen vorsätzlicher Körperverletzung

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 26. September 2005 beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin vom 30. Juni 2005 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin - 260 Ds 662/01 - verurteilte den Beschwerdeführer am 11. April 2003, rechtskräftig seit dem 23. April 2003, wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten und setzte deren Vollstreckung zur Bewährung aus. Es bemaß die Bewährungszeit auf drei Jahre und erlegte ihm auf, binnen vier Monaten ab Rechtskraft des Urteils 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit zu leisten. Der Verurteilte erfüllte diese Auflage nicht, kam mehreren Einladungen der Gerichtshilfe (Bericht vom 04. September 2003) in diesem Zusammenhang nicht nach und wurde schließlich am 06. September 2003 wegen der neuen, am selben Tage begangenen Tat in Untersuchungshaft genommen.

In der Bewährungszeit beging der Beschwerdeführer folgende Straftaten:

Am 05. Juli 2003 entwendete er in einem M -Markt unter Verwendung eines Springmessers ein Handy im Wert von 89,00 Euro.

Am 23. Juli 2003 stahl er in einem Supermarkt Fleisch im Gesamtverkaufspreis von 19,08 Euro.

Am 06. September 2003 wollte der Verurteilte, den eine Zeugin als Beteiligten an einer gefährlichen Körperverletzung bezeichnet hatte, sich nach Aufforderung eines Polizeibeamten nicht ausweisen. Als dieser den Beschwerdeführer am Ärmel zu dem Polizeifahrzeug führen wollte, ruderte er heftig mit den Armen, um sich dem Beamten zu entziehen und den Ort zu verlassen. Der Verurteilte war derart alkoholisiert, daß seine Steuerungsfähigkeit möglicherweise aufgehoben war.

Das Landgericht Berlin - (575) 13 Js 3562/03 Ns (90/04) - verurteilte ihn im Berufungsverfahren deshalb am 09. Juni 2004, rechtskräftig seit dem 10. Dezember 2004, wegen Diebstahls mit Waffen, Diebstahls und vorsätzlichen Vollrausches zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr. Unter Anrechnung von 247 Tagen Untersuchungshaft verbüßte der Verurteilte diese Strafe vom 22. März 2005 bis 17. Juli 2005; am 19. August 2005 wurde er nach Verbüßung einer weiteren Freiheitsstrafe entlassen.

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin, das dem Verurteilten mit Schreiben vom 14. März 2005 Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft gegeben hatte, widerrief mit Beschluß vom 18. April 2004 die Strafaussetzung. Der Beschluß wurde dem Beschwerdeführer, der sich seit 22. März 2005 in Strafhaft befand, was dem Amtsgericht nicht bekannt gemacht worden war, am 27. April 2005 unter seiner Wohnanschrift zugestellt. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten verwarf das Landgericht mit Beschluß vom 30. Juni 2005. Die dagegen gerichtete (weitere) Beschwerde ist als sofortige (§ 453 Abs. 2 Satz 3 StPO) des Verurteilten zulässig, hatte aber keinen Erfolg.

1. Das Rechtsmittel ist als sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts zu werten und als solche zulässig.

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat dazu ausgeführt:

"Eine weitere Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts ist zwar nach § 310 Abs. 2 StPO unzulässig, da die angefochtene Entscheidung weder einen Haftbefehl noch eine einstweilige Unterbringung i.S.v. § 310 Abs. 1 StPO zum Gegenstand hat.

Das Rechtsmittel des Verurteilten ist im vorliegenden Fall allerdings als sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 30. Juni 2005 zu behandeln. Denn es ist davon auszugehen, dass der aufgrund einer Beschwerde ergangene Beschluss des Landgerichts entsprechend der wahren Rechtslage als erstinstanzliche Entscheidung zu werten ist, wenn für diese tatsächlich nicht das Amtsgericht, sondern das Landgericht zuständig gewesen wäre (vgl. hierzu Beschluss des KG vom 8. Februar 2005 - 5 Ws 39/05 -). In einem solchen Fall ist die (sofortige) Beschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts zulässig, weil die sonst vom Gesetz gewollte Entscheidung des dem Landgericht übergeordneten Gericht im Beschwerdeverfahren nicht erreichbar wäre (vgl. KG a.a.O. m.w.N.). Ein solcher Fall ist vorliegend m.E. gegeben.

Für die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ist grundsätzlich gemäß § 462 a Abs. 1 StPO die Strafvollstreckungskammer zuständig, wenn gegen den Verurteilten zum Zeitpunkt der zu treffenden Entscheidung eine Freiheitsstrafe vollstreckt wird. Anders als im Fall der Abgrenzung der örtlichen Zuständigkeit zweier Strafvollstreckungskammern gilt dieses gegenüber dem Gericht des ersten Rechtszuges auch dann, wenn dieses bereits mit der Entscheidung über den Widerruf befasst ist, sobald eine Freiheitsstrafe vollstreckt wird (vgl. hierzu KG, Beschluss vom 6. April 2001 - 5 Ws 116/01 -).

Vorliegend ist der Verurteilte zwischen dem Zeitpunkt der Versendung des amtsgerichtlichen Anhörungsschreibens vom 14. März 2005 und dem Zeitpunkt der amtsgerichtlichen Widerrufsentscheidung am 18. April 2005, nämlich am 22. März 2005, zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in die Justizvollzugsanstalt Berlin-Plötzensee aufgenommen worden. Somit wäre vorliegend die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Berlin zur Entscheidung über den Bewährungswiderruf berufen gewesen.

Mangels Zustellung des angefochtenen Beschlusses ist die sofortige Beschwerde des Verurteilten auch als fristgerecht anzusehen.

Eine Zurückweisung der Sache an die funktionell zuständige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Berlin ist nicht erforderlich, da der Senat gemäß § 309 Abs. 2 StPO in der Sache selbst entscheiden kann. Der Beschwerdeführer ist nicht seinem gesetzlichen Richter entzogen worden, obwohl die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Berlin über den Widerruf hätte befinden müssen. Denn der für Vollstre-ckungssachen ausschließlich zuständige 5. Strafsenat wäre auch dann zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde berufen, wenn das Landgericht richtigerweise als Strafvollstreckungskammer entschieden hätte (vgl. Beschluss vom 5. Januar 1999 - 5 Ws 722/98 -)."

Diese Ausführungen treffen zu.

2. Über den Widerrufsantrag kann entschieden werden, obgleich eine grundsätzlich vorrangige (nachträgliche) Gesamtstrafenbildung bisher unterblieben ist. Die im vorliegenden Verfahren am 11. April 2003 verhängte Freiheitsstrafe von sechs Monaten ist mit den drei Einzelgeldstrafen (20, 30 und 40 Tagessätze zu je 10 Euro) wegen dreimaligen Erschleichens von Leistungen (Tatzeiten: 04. Dezember 2001, 21. Januar 2002 und 03. Juli 2002) aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin - 260 Cs 721/03 - vom 22. Mai 2003 gesamtstrafenfähig (§ 55 StGB, § 460 StPO), sofern die sonstigen Voraussetzungen vorliegen. Ein im Erkenntnisverfahren unterbliebene Gesamtstrafenbildung ist im Beschlußverfahren (§ 460 Abs. 1 StPO) nachzuholen. In dem Beschlußverfahren ist auch darüber neu zu entscheiden, ob die Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird (vgl. BGHSt 30, 168, 170 m. weit. Nachw.). Das hat zur Folge, daß die früheren Strafaussetzungen gegenstandslos werden, ohne daß es ihres Widerrufes bedarf. Aus diesem Grunde hat die Gesamtstrafenbildung zwar regelmäßig Vorrang vor dem Widerrufsverfahren (vgl. KG, Beschluß vom 13. April 2005 - 5 Ws 594/04 -; Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl., § 460 Rdn. 17 m. weit. Nachw.). Zwingend ist die Einhaltung dieser Reihenfolge aber nicht. Das Widerrufsverfahren kann vor dem Gesamtstrafenverfahren betrieben werden, wenn in beiden Verfahrensarten dieselben Tatsachen zur Beurteilung zur Verfügung stehen. Denn das Bestehen auf dem Vorrang der Gesamtstrafenbildung erschöpfte sich in einer leeren Förmlichkeit, wenn die mit ihr vorgenommene Neuordnung der Vollstreckungsgrundlagen nach dem Persönlichkeitsbild des Verurteilten, den zugrunde liegenden Tatsachen, Umständen und Bewertungsmaßstäben sowie den rechtlichen Voraussetzungen kein anderes Ergebnis erbringen könnte, als das Widerrufsverfahren (vgl. KG a.a.O. und Beschluß vom 26. April 2002 - 5 Ws 234/02 -). So ist es hier. Bei der Bildung der Gesamtstrafe hat sich der Richter zwar auf den Standpunkt des letzten Tatrichters zu stellen (vgl. BGHSt 32, 190, 193; Meyer-Goßner a.a.O., Rdn. 1 m. weit. Nachw.). Für die Entscheidung über die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung kommt es aber auch für ihn auf den Zeitpunkt der Beschlußfassung an (vgl. Meyer-Goßner a.a.O. Rdn. 17). Das bedeutet, daß die Entwicklung, die der Beschwerdeführer nach dem Urteil vom 11. April 2003 genommen hat, sowohl für das Widerrufsverfahren als auch für die Aussetzungsentscheidung im Gesamtstrafenverfahren von Bedeutung ist.

3. Der Widerruf der Strafaussetzung (§ 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB) ist nicht zu beanstanden.

a) Der Beschwerdeführer hat in der Bewährungszeit, die mit der Rechtskraft des Urteils am 23. April 2003 begann, drei neue Straftaten begangen. Daß es sich um solche von einigem Gewicht handelt, wird dabei schon an der Verhängung der nicht unerheblichen Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr deutlich. Die Taten haben auch keinen Ausnahme- oder Gelegenheitscharakter, vielmehr mußte der Beschwerdeführer in der Vergangenheit bereits mehrfach wegen Diebstahls und Trunkenheitsdelikten bestraft werden. Die der Strafaussetzung zugrunde liegende Erwartung, der Beschwerdeführer werde künftig keine Straftaten mehr begehen, hat sich damit nicht erfüllt.

b) Mildere Maßnahmen als der somit veranlaßte Widerruf der Strafaussetzung kommen vorliegend nicht in Betracht. Sie würden nur dann eine angemessene Reaktion auf ein Bewährungsversagen darstellen, wenn objektiv eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür bestünde, daß der Verurteilte zukünftig straffreies Leben führen wird (std. Rspr. des Senats, vgl. u.a. Beschlüsse vom 13. April 2005 - 5 Ws 594/04 - und 26. April 2004 - 5 Ws 190/04 -). Für die Annahme einer solchen günstigen Prognose müssen Tatsachen vorliegen, die trotz des neuerlichen Fehlverhaltens die Annahme rechtfertigen, der Beschwerdeführer werde Tatanreizen künftig widerstehen (vgl. KG NStZ-RR 2000, 170). Das ist zumal unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Beschwerdeführer nicht zum ersten Mal Strafhaft verbüßt hat, nicht der Fall.

c) Seit 1989 mußte er vor der hiesigen Sache 15 Mal mehrfach wegen Diebstahls, Betruges, vorsätzlicher Körperverletzung und Verkehrsdelikten in Verbindung mit Trunkenheit und wegen Vollrausches verurteilt werden. Dies zeigt eine inzwischen eingeschliffene Neigung zur Begehung von Vergehen auf diesen Gebieten. Weder Geld- noch Freiheitsstrafen, deren Verbüßung oder eine Bewährungschance vermochten ihn von erneuten Straftaten abzuhalten, die auf derselben Linie liegen wie bisherige. Es fehlen Tatsachen dafür, daß die letzte Strafverbüßung vom 22. März 2003 bis 19. August 2005 daran etwas geändert hätte. Weder ist für die Behebung tatursächlicher Charaktermängel, noch die Neigung zu übermäßigem Alkoholkonsum etwas ersichtlich.

d) Daß der Beschwerdeführer eine Lebensgefährtin und eine Wohnung hat, ändert daran nichts. Seine Taten beruhen weder auf Wohnungslosigkeit noch dem Fehlen einer Partnerschaft. Das Vorbringen des Beschwerdeführers zu dieser Beziehung ist widersprüchlich. Einerseits betont er, seine Partnerin stehe ihm fest zur Seite, andererseits macht er geltend, er werde sie durch eine längere Haft (die hier (nur) sechs Monate abzüglich 16 Tagen Untersuchungshaft dauern dürfte) verlieren. Jedenfalls ist es völlig ungewiß, ob seine Beziehung geeignet sein wird, bei ihm Verhaltensänderungen zu bewirken, die ihn nunmehr befähigen, ohne Straftaten zu leben. Seine Beteuerungen insoweit reichen nicht aus.

Die Gründe, die den Widerruf rechtfertigen, würden es auch hindern, eine etwa nachträglich zu bildende Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen.

e) Aufgrund des weiteren Verfahrensganges ist die von dem Beschwerdeführer geltend gemachte Tatsache ohne Bedeutung, daß ihm der Widerrufsbeschluß des Amtsgerichts vom 18. April 2005 am 27. April 2005 an seine Wohnanschrift zugestellt worden war, obgleich er sich seit dem 22. März 2003 in Strafhaft befand. Denn seine sofortige Beschwerde vom 05. Juni 2005 gegen diesen Beschluß erkannte das Landgericht als rechtzeitig an. Abgesehen davon ist die Entscheidung des Amtsgerichts nunmehr ohne Bedeutung, weil der Senat davon ausgeht, daß der Beschluß des Landgerichts als erstinstanzliche Entscheidung anzusehen ist und dementsprechend die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde zulässig ist. Da das Landgericht in der irrigen Annahme, gegen seinen Beschluß sei (wegen § 310 Abs. 2 StPO) ein Rechtsmittel nicht mehr gegeben, diesen (nach § 35 Abs. 2 Satz 2 StPO) dem Beschwerdeführer nur formlos übersandte, statt ihn (gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 StPO) zuzustellen, hat der Senat die am 12. Juli 2005 eingegangene sofortige Beschwerde gegen die erst am 05. Juli 2005 abgesandte angefochtene Entscheidung als rechtzeitig behandelt. Das als Wiedereinsetzungsantrag zu wertende Vorbringen des Verurteilten ist deshalb gegenstandslos.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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