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Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 27.09.2005
Aktenzeichen: 1 AR 1053/05 - 4 Ws 128/05
Rechtsgebiete: StPO, JGG
Vorschriften:
StPO §§ 36 ff | |
StPO § 40 Abs. 3 | |
StPO § 44 | |
StPO § 45 | |
StPO § 45 Abs. 2 Satz 1 | |
StPO § 145 a Abs. 1 | |
StPO § 214 Abs. 1 | |
StPO § 323 Abs. 1 | |
StPO § 329 Abs. 1 | |
StPO § 329 Abs. 3 | |
JGG § 1 Abs. 2 | |
JGG § 2 | |
JGG § 48 | |
JGG § 48 Abs. 1 | |
JGG § 55 Abs. 2 Satz 1 | |
JGG § 105 Abs. 1 |
1 AR 1053/05 - 4 Ws 128/05
In der Strafsache gegen
(...) , geboren am (...) in (...), wohnhaft in (...),
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln
hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 27. September 2005 beschlossen:
Tenor:
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 10. August 2005 wird verworfen.
Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten seines Rechtsmittels aufzuerlegen.
Gründe:
Das Jugendschöffengericht Tiergarten hat gegen den zu den Tatzeitpunkten jugendlichen Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in vier Fällen das Zuchtmittel des Jugendarrests verhängt und ihm eine Weisung erteilt. Dagegen hat der Angeklagte Berufung eingelegt. Seine Ladung zu dem Termin zur neuerlichen Hauptverhandlung ist im Wege der öffentlichen Zustellung erfolgt. Das Landgericht hat durch Urteil vom 7. Juli 2005 die Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen, weil der Angeklagte nicht erschienen war. Mit dem angefochtenen Beschluss hat es den Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung als unbegründet verworfen. Die dagegen form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde (§§ 329 Abs. 3, 46 Abs. 3, 311 Abs. 1 und 2 StPO) hat keinen Erfolg.
1. Die Vorschriften über die Wiedereinsetzung finden vorliegend Anwendung.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist zu gewähren, wenn der Betroffene vorbringt und glaubhaft macht, dass er ohne Verschulden gehindert war, eine Frist einzuhalten (§§ 44, 45 StPO) oder - wie hier - zur Berufungshauptverhandlung zu erscheinen (§ 329 Abs. 3 i.V. mit §§ 44, 45 StPO). Der Beschwerdeführer macht dies allerdings nicht geltend. Mit seinem Vorbringen, er sei zur Berufungshauptverhandlung nicht ordnungsgemäß geladen worden, weil die nach § 40 Abs. 3 StPO erfolgte öffentliche Zustellung der Ladung nach dem Grundgedanken des § 48 JGG unwirksam gewesen sei, bestreitet er vielmehr, überhaupt die neuerliche Hauptverhandlung versäumt zu haben.
Der in der Rechtsprechung und Literatur teilweise vertretenen Auffassung, über den Wortlaut der §§ 44, 45 StPO hinaus könne auch demjenigen Wiedereinsetzung gewährt werden, der keine Frist versäumt hat, aber zu Unrecht so behandelt worden ist (vgl. BGHR StPO § 45 Abs. 1 Satz 1 - Wegfall 2 -; Hanseatisches OLG StV 2001, 339 f; Mau in Karlsruher Kommentar, StPO 5. Aufl., § 44 Rdnr. 6; Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl., § 44 Rdnr. 2; Wendisch in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl., § 44 Rdnr. 34; jeweils m.w.Nachw.), hat sich das Kammergericht in ständiger Rechtsprechung bislang nicht angeschlossen (vgl. Beschlüsse vom 19. Mai 2005 - 5 Ws 205/05 - und 22. Dezember 2003 - 3 Ws 327/03 -; jeweils m.w.Nachw.). Der Senat folgt ihr im Grundsatz auch weiterhin nicht. Die Fehlerhaftigkeit der Ladung kann daher nur mit der Revision beanstandet werden (ständige Rechtsprechung des Kammergerichts, vgl. etwa Senat, Beschluss vom 23. April 2001 - 4 Ws 65/01 -; KG, Beschluss vom 19. Mai 2005 aaO; jeweils m.w.Nachw.). Dies gilt jedoch nur dann, wenn der irrtümlich als säumig behandelte Betroffene die Möglichkeit hat, die Fehlerhaftigkeit der Rechtsanwendung auf andere Weise als durch einen Wiedereinsetzungsantrag zu beanstanden. Das ist bei einem Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 StPO der Fall, das ein nach allgemeinem Strafrecht verurteilter Angeklagter mit der Revision angreifen kann (vgl. Senat, Beschluss vom 23. April 2001 aaO; KG, Beschluss vom 19. Mai 2005 aaO; jeweils m.w.Nachw.). Lässt sich Rechtsschutz jedoch auf andere Weise nicht (mehr) erlangen, kommt die Anerkennung eines Zustellungsmangels als Wiedereinsetzungsgrund in Betracht (vgl. KG wistra 2002, 37 und Beschluss vom 19. Mai 2005 aaO, jeweils m.w.Nachw.). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn - wie hier - ein zur Tatzeit im Sinne des § 1 Abs. 2 JGG jugendlicher Angeklagter oder ein unter Anwendung des Jugendstrafrechts verurteilter Heranwachsender (§§ 1 Abs. 2, 105 Abs. 1 JGG) gegen ein Urteil des Jugendrichters oder Jugendschöffengerichts eine zulässige Berufung eingelegt hatte (vgl. KG, Beschluss vom 27. Februar 2002 - 5 Ws 116/02 -). Denn er kann gemäß § 55 Abs. 2 Satz 1 JGG gegen das Berufungsurteil nicht mehr Revision einlegen.
2. Der Wiedereinsetzungsantrag ist zulässig. Er ist am 22. Juli 2005 und damit innerhalb der Wochenfrist des § 329 Abs. 3 StPO, die hier mit der nach § 145 a Abs. 1 StPO wirksamen Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe an den Pflichtverteidiger am 19. Juli 2005 zu laufen begonnen hatte, bei dem zuständigen Gericht eingegangen. Auf den - im Wiedereinsetzungsantrag nicht mitgeteilten - Zeitpunkt der Kenntnis des Angeklagten von dem Verwerfungsurteil kommt es deshalb nicht an. Einer Glaubhaftmachung der zur Begründung des Antrags vorgetragenen Tatsache der öffentlichen Zustellung der Ladung zur Berufungshauptverhandlung bedurfte es nicht. Denn im Fall der - vorliegend gegebenen - Aktenkundigkeit der behaupteten Tatsache ist deren Glaubhaftmachung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO entbehrlich (vgl. Meyer-Goßner aaO, § 45 Rdnr. 6 m.w.Nachw.).
3. Das Landgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zu Recht als unbegründet verworfen. Der Angeklagte ist zur Berufungshauptverhandlung wirksam geladen worden. Die öffentliche Zustellung der Ladung nach § 40 Abs. 3 StPO war zulässig.
Für Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende, auf die nach § 105 Abs. 1 JGG Jugendrecht angewendet wird, gelten gemäß § 2 JGG die allgemeinen Vorschriften nur, soweit im JGG nichts anderes bestimmt ist. Über die Ladung der am Strafverfahren Beteiligten zur Hauptverhandlung enthält das JGG keine besonderen Bestimmungen. Die diesbezüglichen Regelungen in den §§ 214 Abs. 1, 323 Abs. 1 StPO finden Anwendung. Desgleichen sind über das Verfahren bei der Zustellung von Entscheidungen oder - wie hier - Ladungen im JGG keine Regelungen getroffen worden. Die §§ 36 ff StPO sind danach weder von der Anwendung ausgeschlossen noch modifiziert. Dies gilt auch für § 40 StPO, der die öffentliche Zustellung regelt. Die Unzulässigkeit der öffentlichen Zustellung folgt - entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers - nicht aus dem Grundgedanken des § 48 Abs. 1 JGG.
Gemäß § 48 Abs. 1 JGG ist die Verhandlung vor dem erkennenden Richter einschließlich der Verkündung der Entscheidungen nicht öffentlich. Diese Vorschrift soll dem Schutz des jugendlichen Angeklagten vor Bloßstellung und damit verbundener stigmatisierender Wirkung sowie der Vermeidung von Verletzungen seines Schamgefühls dienen (vgl. BGHSt 42, 294, 295; Brunner/Dölling, JGG 11. Aufl., § 48 Rdnr. 3; Dallinger/Lackner, JGG 2. Aufl., § 48 Rdnr. 2; Eisenberg, JGG 10. Aufl., § 48 Rdnr. 8; Albrecht, Jugendstrafrecht 3. Aufl., S. 368 f; Meier in Meier/ Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, S. 276; Nothacker, "Erziehungsvorrang" und Gesetzesauslegung im Jugendgerichtsgesetz, S. 276). Sie trägt darüber hinaus entwicklungspsychologischen und jugendpädagogischen Erwägungen Rechnung, nach denen es unter anderem vermieden werden soll, dass sich der Jugendliche "als Mittelpunkt eines allgemeinen Interesses fühlt" (vgl. BT-Drs. 1/4437 S. 8; OLG Stuttgart MDR 1987, 340; Eisenberg aaO § 48 Rdnr. 8; Brunner/Dölling aaO; Ostendorf, JGG 6. Aufl., vor §§ 48 - 51 Rdnr. 3; Nothacker aaO S. 277; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht 14. Aufl., S. 198; Böhm/Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht 4. Aufl., S. 73). Die Geltung des Grundsatzes der Nichtöffentlichkeit über den Wortlaut des § 48 Abs. 1 JGG hinaus auch außerhalb der Hauptverhandlung ist jedenfalls in der Literatur (vgl. etwa Brunner/Dölling aaO § 2 Rdnr. 5; Eisenberg aaO § 2 Rdnr. 6 a; Ostendorf aaO § 48 Rdnr. 6; Nothacker aaO S. 278 f; Böhm/Feuerhelm aaO S. 73 f) anerkannt.
Ob dieser Grundsatz auch für die Zustellung von Entscheidungen oder - wie hier - Ladungen gilt, ist umstritten. Einerseits wird aus dem Grundsatz abgeleitet, dass der mit ihm erstrebte Persönlichkeitsschutz des Jugendlichen nur dann gewährleistet sei, wenn vermieden werde, auf die nicht öffentliche Hauptverhandlung öffentlich, nämlich durch Anschlag an der Gerichtstafel nach § 40 Abs. 2 StPO aufmerksam zu machen (vgl. OLG Stuttgart aaO; Brunner/Dölling aaO § 2 Rdnr. 5; Eisenberg aaO § 2 Rdnr. 6 a, § 48 Rdnr. 11; Ostendorf aaO § 2 Rdnr. 4, § 48 Rdnr. 7; Meyer-Goßner aaO § 40 Rdnr. 2, § 329 Rdnr. 9; Weßlau in Systematischer Kommentar, StPO, § 40 Rdnr. 3; Paulus in KMR, StPO, § 40 Rdnr. 3; Weßlau in Systematischer Kommentar, StPO, § 40 Rdnr. 3). Andererseits wird die Geltung des Grundsatzes der Nichtöffentlichkeit mit der Begründung abgelehnt, dass durch die öffentliche Zustellung weder jugendpsychologische noch -pädagogische Gesichtspunkte berührt würden; der jugendliche Angeklagte werde durch den Anschlag der Ladung an der Gerichtstafel noch nicht zum Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gemacht, sein Selbstwert-, Ehr- und Schamgefühl bliebe unberührt (vgl. LG Zweibrücken MDR 1991, 985; Maul in Karlsruher Kommentar aaO § 40 Rdnr. 8; Wendisch in Löwe/Rosenberg aaO § 40 Rdnr. 4). Der Senat schließt sich dieser Auffassung (jedenfalls) für die hier vorliegende Sachverhaltsgestaltung an, dass eine Ladung zur Berufungshauptverhandlung erfolgen soll.
Aus dem Grundsatz der Nichtöffentlichkeit lässt sich ein genereller oder "absoluter" Ausschluss der Öffentlichkeit im Jugendstrafverfahren nicht herleiten. Dies ergibt sich bereits für die Hauptverhandlung selbst aus der Regelung in § 48 Abs. 2 Satz 1 JGG, wonach einem bestimmten Personenkreis die Anwesenheit von Gesetzes wegen gestattet ist, und in § 48 Abs. 2 Satz 2 JGG, derzufolge der Vorsitzende weiteren Personen die Anwesenheit gestatten kann. Handelt es sich insoweit noch um eine im Umfang beschränkte Öffentlichkeit (vgl. Richtlinien zum JGG zu § 48), so bestimmt § 48 Abs. 3 Satz 1 JGG hingegen eine uneingeschränkte Öffentlichkeit der Hauptverhandlung für den Fall, dass neben dem Jugendlichen auch Heranwachsende oder Erwachsene angeklagt sind. Für den Ausschluss der Öffentlichkeit bedarf es dann gemäß § 48 Abs. 3 Satz 2 JGG einer besonderen Entscheidung des Gerichts, die (nur) auf das Interesse der Erziehung des jugendlichen Angeklagten gestützt werden darf.
Im Fall der öffentlichen Zustellung der Ladung ist - ebenso wie bei Terminsaushängen - nicht ersichtlich, dass durch sie ein solches erzieherisches Interesse oder schutzwürdige Belange des (zur Tatzeit) jugendlichen Angeklagten verletzt werden. Der an die Gerichtstafel gehefteten verfahrensgegenständlichen Ladung des Beschwerdeführers lässt sich lediglich entnehmen, dass in einem gegen ihn geführten Strafverfahren ein erstinstanzliches Urteil des Jugendschöffengerichts ergangen ist und er oder sein gesetzlicher Vertreter/Erziehungsberechtigter dieses mit der Berufung angefochten hat, worüber eine Jugendkammer in dem festgesetzten Hauptverhandlungstermin entscheiden wird. Außer dem Namen des Angeklagten sind aus der Ladung weder weitere persönliche Daten noch der ihm gemachte Tatvorwurf zu ersehen. Soweit der mit der Ladung verbundene Beschluss der Strafkammer über die Anordnung der öffentlichen Zustellung unter anderem das Geburtsdatum und den Geburtsort des Angeklagten enthält, bedurfte es dieser Angaben, um ihn als Ladungsadressaten - mithin gerade auch in seinem Interesse - hinreichend genau zu bestimmen. Eine Bloßstellung oder Stigmatisierung des Beschwerdeführers ist damit ebenso wenig verbunden wie das Hervorrufen eines besonderen öffentlichen Interesses an der Person des Angeklagten. Etwas anderes ergibt sich hier auch nicht daraus, dass der Beschluss der Strafkammer als Tatvorwurf einen "Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz" bezeichnet. Diese Formulierung ist so allgemein gehalten, dass sie einen konkreten Tatbestand nicht erkennen lässt. Unter Berücksichtigung des Grundgedankens eines weit reichenden Schutzes der Persönlichkeit des (zur Tatzeit) jugendlichen Angeklagten erachtet der Senat es allerdings als tunlich, den Tatvorwurf in einen Anordnungsbeschluss nach § 40 Abs. 3 StPO nicht aufzunehmen; entsprechendes gilt für die Anschrift des Angeklagten, unter der letztmals zugestellt worden war oder die der Angeklagte zuletzt angegeben hatte.
Für die Zulässigkeit der öffentlichen Zustellung einer Ladung zur Berufungshauptverhandlung an einen (zur Tatzeit) jugendlichen Angeklagten spricht im Übrigen das Gebot der Verfahrensbeschleunigung (vgl. LG Zweibrücken aaO), das - worauf das Landgericht in dem angefochtenen Beschluss zutreffend hingewiesen hat - im Jugendstrafrecht allgemein von besonderer Bedeutung ist. Denn ein solcher jugendlicher Angeklagter, der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegt hat, hätte es - anders als ein nach allgemeinem Strafrecht verurteilter Angeklagter - andernfalls in der Hand, die rechtskräftige Beendigung des gegen ihn geführten Verfahrens gegebenenfalls auf unbestimmte Zeit hinauszuzögern. Er würde sich damit zugleich der erzieherischen Einwirkung im Jugendstrafverfahren entziehen können; dies widerspricht den Grundprinzipien des JGG.
4. Der Senat hat gemäß § 74 JGG davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten seines Rechtsmittels aufzuerlegen.
Ende der Entscheidung
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