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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 18.11.2008
Aktenzeichen: 1 W 275/08
Rechtsgebiete: AufenthG, FrhEntzG


Vorschriften:

AufenthG § 62 Abs. 2 S. 2
FrhEntzG § 5
FrhEntzG § 6
FrhEntzG § 11
Sieht das Amtsgericht bei der Entscheidung über einen sogenannten Vorabhaftantrag der Ausländerbehörde von der Anhörung des Ausländers ab, ist in dem Beschluss über die vorläufige Freiheitsentziehung konkret zu begründen, auf Grund welcher konkreten tatsächlichen Umstände eine dann erforderliche Gefahr im Verzug vorliegt.
Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 1 W 275/08

18.11.2008

In der Freiheitsentziehungssache betreffend

hat der 1. Zivilsenat des Kammergerichts auf die sofortige weitere Beschwerde der Betroffenen vom 2. Juli 2008 gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 2. Juni 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Kammergericht Sieveking sowie die Richter am Kammergericht Hinze und Müller am 18. November 2008 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 2. Juni 2008 wird teilweise abgeändert:

Der Beschluss des Amtsgerichts Schöneberg vom 20. Juli 2006 - 70 XIV 1226/06 B - war rechtswidrig.

Die darüber hinausgehende sofortige weitere Beschwerde wird zurückgewiesen.

Gründe:

I. Die sofortige weitere Beschwerde ist zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht durch den Verfahrensbevollmächtigten der Betroffenen eingelegt worden, §§ 106 Abs. 2 S. 1 AufenthG, 7 Abs. 1 und 2, 3 S. 2 FEVG, 29 Abs. 1, 2 und 4, 22 Abs. 1 FGG.

Das Rechtsschutzbedürfnis der Betroffenen an den begehrten Feststellungen ist durch ihre Entlassung aus dem Polizeigewahrsam nicht entfallen (BVerfG, NJW 2002, 2456; Beschluss vom 10. Dezember 2007 - 2 BvR 1033/06 -, bei Melchior, Internetkommentar zur Abschiebungshaft; VerfGH Berlin, Beschluss vom 7. Dezember 2004 - 55/04 und 55A/04 -, JURIS, Rdn. 17; Senat, Beschluss vom 22. Januar 2008 - 1 W 371/07 -, InfAuslR 2008, 169).

II. Die sofortige weitere Beschwerde ist auch begründet, soweit die Betroffenen beantragt haben, die Rechtswidrigkeit des Beschlusses des Amtsgerichts vom 20. Juli 2006 festzustellen.

Das Amtsgericht hat die Anordnung der Freiheitsentziehung vom 20. Juli 2006 auf § 11 FEVG gestützt. Ist Antrag auf Freiheitsentziehung gestellt, so kann das Gericht einem Betroffenen nach dieser Vorschrift einstweilen die Freiheit für die Dauer von höchstens sechs Wochen entziehen, sofern dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass die Voraussetzungen für die Unterbringung vorliegen, und über die endgültige Unterbringung nicht rechtzeitig entschieden werden kann, § 11 Abs. 1 FEVG. Dabei hat das Gericht die Person, der die Freiheit entzogen werden soll, mündlich anzuhören, §§ 11 Abs. 2 S. 1, 5 Abs. 1 S. 1 FEVG. Die Anhörung kann bei Gefahr im Verzug unterbleiben; sie muss dann jedoch unverzüglich nachgeholt werden, § 11 Abs. 2 S. 2 FEVG.

Der Beschluss vom 20. Juli 2006 erging ohne mündliche Anhörung der Betroffenen. Das Amtsgericht ist insoweit von Gefahr im Verzug ausgegangen, hat zur Begründung hierzu aber keine Ausführungen gemacht, was gemäß § 6 Abs. 1 FEVG jedoch erforderlich gewesen wäre. Das Landgericht hat die vorläufige Freiheitsentziehung aus materiell-rechtlichen Gründen für rechtmäßig gehalten. Die Verfahrensrügen der Betroffenen hat das Landgericht nur im Hinblick auf die unterlassene Beiziehung der Ausländerakten behandelt. Soweit die Betroffenen auch ihre unterlassene Anhörung beanstandet haben, enthält der Beschluss des Landgerichts keine Ausführungen.

Dies hält einer rechtlichen Nachprüfung, auf die das Gericht der weiteren Beschwerde beschränkt ist, §§ 27 Abs. 1 FGG, 546 ZPO, nicht stand. Es ist nicht erkennbar, aus welchen Gründen die Tatsacheninstanzen vorliegend eine Gefahr im Verzug für gegeben erachtet haben, die das Amtsgericht hätte berechtigen können, vor Erlass seiner Entscheidung von der persönlichen Anhörung der Betroffenen abzusehen. Auch aus den Akten ergibt sich hierfür nichts. Vielmehr sieht das Gesetz regelmäßig die Ladung eines Betroffenen, dem die Freiheit entzogen werden soll, zur persönlichen Anhörung vor. Erst wenn er einer solchen Ladung nicht folgt, kann seine Vorführung angeordnet werden, § 5 Abs. 1 S. 2 FEVG. Deshalb kann Gefahr im Verzug auch nicht allein damit begründet werden, dem Betroffenen werde durch die Ladung der Haftantrag der Ausländerbehörde bekannt, so dass die Möglichkeit bestehe, er werde sich seiner Verhaftung entziehen; vielmehr bedarf es für eine solche Annahme konkreter Anhaltspunkte (Senat, Beschluss vom 23. April 2008 - 1 W 48/08 -, OLGReport 2008, 624). Solche waren hier nicht gegeben. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall.

Zunächst ist die - auf den unklaren Angaben der Ausländerbehörde beruhende - Feststellung des Landgerichts unzutreffend, die Betroffene zu 1 habe letztmalig am 6. April 2006 bei der Ausländerbehörde vorgesprochen. Tatsächlich ist sie nochmals am 18. April 2006 bei der Ausländerbehörde erschienen, um Rechtsmittel gegen den die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis versagenden Bescheid der Ausländerbehörde vom 6. April 2006 einzulegen. Nach dem Aktenvermerk Blatt 56 der Ausländerakte ist die Betroffene zu 1 an das Verwaltungsgericht verwiesen worden, wo das Verfahren dann durch ihre Verfahrensbevollmächtigten weiter betrieben worden ist. Dass die Betroffene zu 1 in der Folgezeit bei der Ausländerbehörde persönlich vorzusprechen, insbesondere vorgegebene Termine wahrzunehmen hatte, ist nicht ersichtlich zumal sie über ihre Verfahrensbevollmächtigten im ständigen Kontakt mit der Ausländerbehörde stand.

Darüber hinaus waren die Betroffenen unter ihrer Meldeanschrift in Berlin wohnhaft. Der Ausländerbehörde war auch die Anschrift der Verlobten der Betroffenen zu 1 bekannt. Dem Amtsgericht wäre also eine Vorladung, vgl. § 5 Abs. 1 S. 2 FEVG, möglich gewesen, ggf. hätte die Ladung über die Verfahrensbevollmächtigten der Betroffenen erfolgen können. Außerdem hatte die Ausländerbehörde dem Amtsgericht noch am 20. Juli 2006 die Mitteilung des Verfahrensbevollmächtigten der Betroffenen vom 18. Juli 2006 übersandt aus der sich ergab, dass für den 28. Juli 2006, also nur zwei Tage nach der geplanten Abschiebung ein Flug für die Betroffenen nach Venezuela gebucht war. Soweit die Ausländerbehörde in diesem Schreiben Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Ausreiseabsicht der Betroffenen geäußert hat, wäre es erforderlich gewesen, dass sich das Amtsgericht im Rahmen einer persönlichen Anhörung ein Bild von der Betroffenen gemacht hätte, um ihre Glaubwürdigkeit und die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben zu prüfen.

Gefahr im Verzug lag auch nicht etwa wegen des bereits für den 26. Juli 2006 geplanten Abschiebungstermins vor. Zunächst hatte die Ausländerbehörde ihren Antrag mit einer für den 14. August 2006 geplanten Abschiebung begründet, so dass bei Eingang des Antrags bei Gericht am 13. Juli 2006 genügend Zeit für die Anberaumung eines Anhörungstermins vorhanden war. Daran änderte auch nichts die Mitteilung der Ausländerbehörde vom 20. Juli 2006, dass die Abschiebung "aus organisatorischen Gründen" bereits am 26. Juli 2006 stattfinden sollte. Auch dann bestand noch genügend Zeit für die Anberaumung eines Anhörungstermins vor dem 26. Juli 2006.

III. Die außergerichtlichen Kosten der Betroffenen waren der Ausländerbehörde nicht aufzuerlegen. Das kommt nur dann in Betracht, wenn der Antrag der Behörde auf Freiheitsentziehung abgelehnt wird und das Verfahren ergeben hat, dass ein begründeter Anlass zur Stellung des Antrags nicht vorlag, § 16 Abs. 1 S. 1 FEVG. Die Ausländerbehörde hatte hier jedoch genügenden Anlass zur Beantragung eines Vorabhaftbeschlusses. Die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Haftgrundes nach § 62 Abs. 2 S. 2 AufenthG lagen vor. Die Feststellungen des Amtsgerichts und des Landgerichts haben die Betroffenen insoweit nicht in Frage gestellt. Die Entscheidung über die Anordnung der beantragten sogenannten "kleinen Sicherungshaft" lag danach im pflichtgemäßen Ermessen des Amtsgerichts (OLG München, OLGReport 2006, 269), war also nicht allein von dem Haftantrag der Ausländerbehörde und den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 S. 2 AufenthG abhängig. Im Rahmen dieses Ermessens und nach gebotener Anhörung der Betroffenen hatte das Amtsgericht zu prüfen, ob die Haft trotz der von den Verfahrensbevollmächtigten vorgelegten Buchungsbestätigung für den 28. Juli 2006 erforderlich erschien. Von dieser hatte die Ausländerbehörde das Amtsgericht mit FAX vom 20. Juli 2006 unterrichtet und zugleich mitgeteilt, dass der Termin der Abschiebung auf den 26. Juli 2006 vorverlegt worden sei. Es lag ausschließlich in der Entscheidung des Amtsgerichts, ob es unter diesen Umständen dem geänderten Antrag stattgeben konnte. Dazu war - wie ausgeführt - das nach § 5 Abs. 1 FEVG vorgeschriebene Verfahren einzuhalten, was nicht geschehen ist. Die Rechtswidrigkeit des Beschlusses vom 20. Juli 2006 beruhte auf diesem dem Amtsgericht unterlaufenen Verfahrensfehler. Dass der Flugtermin am 26. Juli 2006 storniert wurde, die für diesen Termin angeordnete Haft also objektiv überflüssig war, war der Behörde bei Antragstellung nicht bekannt. die Gründe hierfür lagen, wie sie glaubhaft vorgetragen hat, auch nicht in ihrem Verantwortungsbereich.

Ende der Entscheidung

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