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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 20.05.2008
Aktenzeichen: 1 W 62/08
Rechtsgebiete: TSG, FGG, ZPO


Vorschriften:

TSG § 1
TSG § 4
FGG § 12
FGG § 15
ZPO § 411
ZPO § 412
Bei der Entscheidung über den Antrag auf Änderung des Vornamens gemäß § 1 TSG ist das Gericht an das die Diagnose der Transsexualität verneinende Gutachten eines der gemäß § 4 Abs. 3 TSG befragten Sachverständigen nicht gebunden (im Anschluss an OLG Schleswig, OLGR 2003, 227).
Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 1 W 62/08

In dem Verfahren nach dem Transsexuellengesetz

hat der 1. Zivilsenat des Kammergerichts auf die weitere Beschwerde des Antragstellers vom 12. Februar 2008 gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 20. Dezember 2007 am 20. Mai 2008 beschlossen:

Tenor:

1. Auf die weitere Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 31. Oktober 2007 - 84 T 419/07 - aufgehoben.

2. Die Sache wird zur anderweitigen Entscheidung - auch über die Kosten des Verfahrens der weiteren Beschwerde - an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.

3. Der Wert der weiteren Beschwerde wird auf 3.000,00 EUR festgesetzt.

4. Dem Antragsteller wird für das Verfahren der weiteren Beschwerde Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin M-S A, A F 12, ... Tutzing, beigeordnet. Raten sind nicht zu entrichten.

Gründe:

I.

Die gemäß §§ 4 Abs. 1 TSG, 27 ff. FGG zulässige weitere Beschwerde des Antragstellers führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung.

1. Der Beschluss des Landgerichts beruht auf einer Rechtsverletzung (§ 27 Abs. 1 FGG).

a) Der Antrag auf Vornamensänderung gemäß § 1 TSG ist nicht, wie das Amtsgericht in seinem Beschluss vom 31. Oktober 2007 ausgeführt hat, deshalb unbegründet, weil die Diagnose der Transsexualität von beiden gemäß § 4 Abs. 3 TSG beauftragten Gutachtern gestellt werden müsse. Das OLG Schleswig (OLGR 2003, 227 f.) hat hierzu ausgeführt, dafür dass beide Gutachten hinsichtlich der Annahme des Transsexualismus übereinstimmen müssten, gebe das Gesetz schon nach dem Wortlaut keinen Anhaltspunkt. Wegen seiner großen Bedeutung hätte es nahe gelegen, dass der Gesetzgeber dieses Erfordernis in die Bestimmung aufgenommen hätte, wenn er es zur Voraussetzung einer positiven Entscheidung hätte machen wollen. Dem schließt sich der Senat im Ergebnis an. Denn auch im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, der auch das Gutachten eines vom Gericht bestellten Sachverständigen unterliegt (Jansen/Briesemeister, FGG, 3. Aufl., § 12 Rn. 109, 111). Wäre es die Absicht des Gesetzgebers gewesen, die Gerichte bei der Feststellung der Voraussetzungen für eine Namensänderung nach § 1 TSG unter Ausschluss der freien Beweiswürdigung an das Ergebnis der eingeholten Sachverständigengutachten zu binden, so hätte es hierzu einer ausdrücklichen Regelung bedurft (§ 286 Abs. 2 ZPO).

b) Die Entscheidung des Landgerichts ist fehlerhaft, weil die Kammer ihrer Amtsermittlungspflicht nach §§ 4 Abs. 1 TSG, 12, 15 FGG nicht nachgekommen ist. Die vom Amtsgericht gemäß § 4 Abs. 3 TSG eingeholten Gutachten der Sachverständigen Dr. S und Prof. B weichen im entscheidenden Punkt, nämlich der Diagnose der Transsexualität, voneinander ab. Während die Psychotherapeutin Dr. S auf Seite 4 ihres Gutachtens vom 25. Juli 2007 ausführt, es scheine sicher, dass die Transsexualität und die hieraus erwachsenen Probleme signifikant mitverursachend an den Erkrankungen des Antragstellers gewesen seien und nicht etwa Begleitsymptom oder Folge, führt der Sachverständige Prof. B auf Seite 61 seines Gutachtens vom 17. September 2007 aus, der Leidensdruck des Antragstellers sei in erster Linie Folge einer schizotypen Störung und nicht Ausdruck der Geschlechtsidentitätsstörung, die als nicht-transsexuelle Geschlechtsidentitätsstörung zu diagnostizieren sei (S. 59 GA). Ob bei einem nicht auflösbaren sachlichen Widerspruch zweier Gutachten, wie das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLGR 2004, 208 f.) in einem obiter dictum gemeint hat, eine weitere sachverständige Begutachtung erforderlich ist (dagegen Senat, OLGZ 1967, 87, 88), bedarf im vorliegenden Fall keiner abschließenden Entscheidung. Der angefochtene Beschluss ist jedenfalls deshalb fehlerhaft, weil es an jeder Auseinandersetzung mit dem Gutachten der Psychotherapeutin Dr. S fehlt. Im Fall sich widersprechender Gutachten darf nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes das Gericht, ohne seinen Ermessensspielraum zu überschreiten, den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass es ohne einleuchtende und logisch nachzuvollziehende Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt (BGH NJW 1993, 2382 f. m.w.N.). Zwar ist das Gericht nicht stets gehalten, sich die Gutachten mündlich erläutern zu lassen oder ein weiteres Gutachten (Obergutachten) einzuholen. Wenn die Gutachten inhaltlich klar sind und jeweils für sich keine Zweifelsfragen offen lassen, ist es kein Ermessensfehler, sich mit der schriftlichen Begutachtung zu begnügen. Im Einzelfall kann es dann gute Gründe dafür geben, einem Gutachten den Vorzug zu geben; diese Gründe hat der Tatrichter dann allerdings darzulegen (BGH VersR 1980, 533). Eine solche Darlegung lässt der angefochtene Beschluss vermissen. Sie wird nicht dadurch entbehrlich, dass das ausführliche Gutachten von Prof. B in vollem Umfang nachvollziehbar ist und für sich genommen eine ausreichende Grundlage für die richterliche Überzeugungsbildung darstellen könnte, während das sehr viel kürzere Gutachten von Dr. S eine Reihe von Zweifelsfragen offen lässt. Da Dr. S die vom Gericht gestellten Fragen uneingeschränkt bejahte, oblag es den Tatsacheninstanzen nach §§ 12, 15 FGG, 411 Abs. 3, 412 Abs. 1 ZPO zu prüfen, ob die Sachverständige zur mündlichen Erläuterung oder schriftlichen Ergänzung ihres Gutachtens aufzufordern war. Zur Sachaufklärung konnte es auch ausreichen, zunächst eine mündliche Anhörung der beiden Sachverständigen durchzuführen, um die sich aus den Gutachten ergebenden Widersprüche aufzuklären. Dass die schriftlichen Gutachten der beiden Sachverständigen unabhängig voneinander erarbeitet werden müssen, schließt eine gemeinsame mündliche Anhörung zur Klärung der divergierenden Standpunkte nicht aus (vgl. OLG Schleswig a.a.O.). Auch die Einholung eines weiteren Gutachtens eines anderen Sachverständigen (Obergutachtens) ist durch § 4 Abs. 3 TSG nicht ausgeschlossen (vgl. OLG Schleswig a.a.O.). Sie ist, entgegen der Auffassung der weiteren Beschwerde, bei Vorliegen einander widersprechender Gutachten aber auch nicht zwingend geboten (vgl. Keidel/Schmidt, FGG § 15 Rn. 46). Insbesondere ergibt sich diese Notwendigkeit nicht aus den vom Antragsteller erhobenen Einwendungen gegen den Sachverständigen Prof. B . Der Antragsteller hatte Prof. B , an dessen Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der sog. "Alltagstest" seit Dezember 2005 durchgeführt wurde, selbst als Gutachter vorgeschlagen. Der Therapeut ist keineswegs, wie der Antragsteller nun meint, zum Sachverständigen gemäß § 4 Abs. 3 TSG ungeeignet. Das von Prof. B und dem begleitenden Therapeuten Dr. G erstellte, wissenschaftlich begründete Gutachten lässt eine Voreingenommenheit bezüglich der Diagnose "Transsexualität" auch nicht erkennen.

c) Das Landgericht wird die auch in der Beschwerdeinstanz gebotene persönliche Anhörung des Antragstellers gemäß § 4 Abs. 2 TSG (vgl. OLG Karlsruhe, StAZ 1990, 48 f.) nachzuholen haben.

d) Gelangt das Landgericht nach ergänzender Beweisaufnahme zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller sich aufgrund transsexueller Prägung dem weiblichen Geschlecht zugehörig empfindet und mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sich das Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird, so wird es auch zu prüfen haben, ob der Antragsteller seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, seinen Vorstellungen entsprechend zu leben (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 TSG). Zwar hat die Sachverständige Dr. S auch diese Frage in ihrem Gutachten "eindeutig" bejaht, doch können den gutachterlichen Ausführungen hierzu keine Feststellungen entnommen werden. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass der Antragsteller nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. B erstmals Anfang 2006 weiblich gekleidet zum Therapiegespräch erschien (S. 25 GA). Zu Beginn der Behandlung habe der Antragsteller noch gebeten, als Mann angesprochen zu werden, weil er "seit Jahren daran gewöhnt sei, ein Mann zu sein" (S. 26 GA). Laut Arztbericht des T vom 28. August 2003 hat der Antragsteller dort angegeben, er verspüre "keinen Handlungsdruck zur Geschlechtsumwandlung" (S. 28 GA). Dies scheint sich erst mit der Hormonbehandlung ab April 2006 geändert zu haben.

2. Die Wertfestsetzung beruht auf den §§ 128 a Abs. 2, 30 Abs. 2 Satz 1 KostO.

II.

Auf seinen Antrag war dem Antragsteller für das Verfahren der weiteren Beschwerde Prozesskostenhilfe zu bewilligen (§ 14 FGG i.V.m. §§ 114 f. ZPO).

Ende der Entscheidung

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