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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 27.01.2009
Aktenzeichen: 1 Zs 1465/08 - 1 VAs 2/09
Rechtsgebiete: GVGEG, StPO


Vorschriften:

GVGEG § 28 Abs. 3
StPO § 456a Abs. 1
Ein Bescheid, mit dem der Antrag des Verurteilten auf Absehen von der Vollstreckung nach § 456a StPO zurückgewiesen wird, ist aufzuheben, wenn nicht erkennbar ist, inwieweit die für ein Absehen von der weiteren Strafvollstreckung sprechenden Umstände tatsächlich in die gebotene Gesamtabwägung einbezogen und gewürdigt worden sind (hier: Belange eines in Deutschland bindungslosen Ausländers).
KAMMERGERICHT Beschluß

Geschäftsnummer: 1 Zs 1465/08 - 1 VAs 2/09

In der Justizverwaltungssache betreffend

wegen Absehens von der Strafvollstreckung nach § 456a StPO

hat der 1. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 27. Januar 2009 beschlossen:

Tenor:

1. Auf den Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung wird der Bescheid der Staatsanwaltschaft Berlin vom 2. Juni 2008 in der Gestalt des Bescheides der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 27. Juni 2008 aufgehoben.

2. Die Vollstreckungsbehörde wird verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats über den Antrag des Betroffenen auf Absehen der weiteren Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 30. Juni 2005 - (532) 1 Kap Js 2513/04 Ks (2/05) - erneut zu entscheiden.

Gründe:

Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger und verbüßt zur Zeit eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren, die das Landgericht Berlin mit Urteil 30. Juni 2005 gegen ihn wegen Totschlags verhängt hat. Zweidrittel der Strafe werden am 31. Juli 2009 vollstreckt sein. Das Strafende ist für den 30. November 2011 (TE) notiert. Den Antrag des Betroffenen, von der weiteren Strafvollstreckung nach § 456a StPO abzusehen, hat die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 2. Juni 2008 abgelehnt. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat die Generalstaatsanwaltschaft durch Bescheid vom 27. Juni 2008 zurückgewiesen. Dem Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung kann ein (vorläufiger) Erfolg nicht versagt bleiben.

1. Der Antrag ist rechtzeitig gestellt. Die Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft, der am 30. Dezember 2008 eingegangene Rechtsbehelf des Betroffenen gegen den seinem Verfahrensbevollmächtigten am 2. Juli 2008 zugegangenen Bescheid sei verspätet, trifft nicht zu. Die Monatsfrist (§ 26 Abs. 1 EGGVG) ist mit der formlosen Übersendung des Beschwerdebescheides nicht in Gang gesetzt worden, da das Schriftstück aufgrund der zwingenden Vorschrift des § 26 Abs. 1 Alternative 2 EGGVG nach Maßgabe der §§ 29 Abs. 2 EGGVG, 37 Abs. 1 StPO, 166 ff ZPO hätte zugestellt werden müssen. Eine Heilung des Zustellungsmangels im Zeitpunkt des tatsächlichen Zugang des Bescheides nach § 189 ZPO ist ausgeschlossen, da die Anwendung dieser Bestimmung einen - hier nicht gegebenen - Zustellungswillen voraussetzt (vgl. BGH NJW 2003, 1193; Senat, Beschluß vom 7. Februar 2008 - 1 VAs 83/07 -; BayObLG NJW 2004, 3722).

2. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat auch in der Sache (vorläufigen) Erfolg.

Die angegriffenen Bescheide sind rechtsfehlerhaft. Sie heben zwar zu Recht die Schwere der Schuld des Betroffenen und das öffentliche Interesse an einer nachhaltigen Strafvollstreckung hervor (vgl. KG, Beschluß vom 7. Juli 2006 - 4 VAs 48/06 -; OLG Hamburg StV 1996, 328 mwN). Es wird aber nicht erkennbar, inwieweit die für ein Absehen von der weiteren Strafvollstreckung sprechenden Umstände tatsächlich in die gebotene Gesamtabwägung einbezogen und gewürdigt worden sind. Die Staatsanwaltschaft beschränkt sich insoweit auf die Begründung, daß die "Interessen des Verurteilten nicht als ausreichend angesehen" werden. Welche Tatsachen die Vollstreckungsbehörde dabei berücksichtigt und mit welchen Überlegungen sie den Belangen des Betroffenen gegenüber den öffentlichen Interessen ein geringeres Gewicht beigemessen hat, ist auch dem Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft nicht zu entnehmen, in dem hierzu lediglich auf die "zutreffenden Gründe" der Entschließung der Staatsanwaltschaft verwiesen wird.

Der Senat kann daher nicht prüfen, ob bei der Interessenabwägung die persönlichen Verhältnisse des Verurteilten, der in Berlin ohne soziale Bindungen sein soll und zu seiner Großfamilie in seine türkische Heimat zurückkehren will, genügend Beachtung gefunden haben.

Die angegriffenen Bescheide können daher keinen Bestand haben. Eine eigene Entscheidung über das Absehen von der weiteren Strafvollstreckung, wie vom Betroffenen beantragt, ist dem Senat verwehrt. Er darf die nach § 456a StPO der Vollstreckungsbehörde vorbehaltenen Ermessensabwägungen nicht durch eigene Bewertungen und Vorstellungen ersetzen. Ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null, bei dem nur eine Sachentscheidung zugunsten des Betroffenen in Betracht käme, ist nicht gegeben. Die Vollstreckungsbehörde wird bei ihrer erneuten Prüfung des Antrages den inzwischen eingetretenen Zeitablauf berücksichtigen und beachten müssen, daß mit fortschreitender Dauer der Strafvollstreckung das öffentliche Interesse an deren Fortsetzung gegenüber den persönlichen Belangen des Verurteilten zunehmend an Gewicht verliert.

3. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Verfahrenskosten werden nach den §§ 30 Abs. 1 Satz 1 EGGVG, 130 KostO nur bei einer Verwerfung oder Zurücknahme des Antrages auf gerichtliche Entscheidung erhoben. Für eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Betroffenen aus Billigkeitsgründen (§ 30 Abs. 3 EGGVG) besteht kein Anlaß, da er mit seinem Antrag lediglich die Verpflichtung der Vollstreckungsbehörde zur Neubescheidung erreicht hat.

Ende der Entscheidung

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