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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 22.11.2007
Aktenzeichen: 12 U 199/06
Rechtsgebiete: ZPO, StVO


Vorschriften:

ZPO § 286
ZPO § 513 Abs. 1
ZPO § 522 Abs. 2
ZPO § 529
ZPO § 529 Abs. 1 Nr. 1
StVO § 14 Abs. 1
Kommt es in unmittelbarem örtlichen und zeitlichem Zusammenhang mit einem Ein- oder Aussteigen (§ 14 Abs.1 StVO) aus einem am Fahrbahnrand geparkten Fahrzeug zu einem Verkehrsunfall, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine fahrlässige Sorgfaltspflichtverletzung des Ein- oder Aussteigenden, wobei der Vorgang des Einsteigens erst mit dem Schließen der Fahrzeugtür beendet ist und der Vorgang des Aussteigens erst mit dem Schließen der Fahrzeugtür und dem zügigen Verlassen der Fahrbahn. Herrscht Fahrverkehr auf der Fahrbahnseite des haltenden oder parkenden Fahrzeugs, so gehört es zur Gefahrenminderungspflicht des nach links Aussteigenden, dass er nicht länger als unbedingt nötig die Tür offen lässt und sich auf der Fahrbahn aufhält.
Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 12 U 199/06

In dem Rechtsstreit

hat der 12. Zivilsenat des Kammergerichts in Berlin durch den Vorsitzenden Richter am Kammergericht Grieß, die Richterin am Kammergericht Zillmann und den Richter am Kammergericht Spiegel am 22. November 2007 beschlossen:

Tenor:

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 ZPO zurückzuweisen.

2. Die Klägerin erhält Gelegenheit zur Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Wochen ab Zugang dieses Beschlusses.

Gründe:

Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg. Der Senat folgt den im Wesentlichen zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch die Berufungsbegründung nicht entkräftet worden sind. Ergänzend wird auf Folgendes hingewiesen:

Nach § 513 Absatz 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Beides ist nicht der Fall.

Entgegen der Ansicht der Klägerin hat das Landgericht ihren Vortrag nicht in wesentlichen Teilen unberücksichtigt gelassen, eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt deshalb nicht vor.

1. Zu Unrecht geht die Klägerin auf Seite 2 ihrer Berufungsbegründung davon aus, die Beweisaufnahme habe ihren Vortrag bestätigt, wonach der Zeuge Nnnn sich beim Verlassen des Fahrzeugs mit der erforderlichen Sorgfalt verhalten habe und der Unfall allein durch das Fahrverhalten der Beklagten zu 1) verursacht worden sei.

a) Auf Seite 6 der angefochtenen Entscheidung führt das Landgericht zutreffend aus, dass zu Lasten der Klägerin von einem Anscheinsbeweis auszugehen ist. Entgegen der Ansicht der Klägerin kommt es für die Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises nicht auf die Frage an, ob die Fahrzeuge in der Münzstraße im Zeitpunkt des Öffnens der Türe standen oder fuhren. Auch verkehrsbedingt (z. B. vor einer Ampel) stehende Fahrzeuge gehören zum fließenden Verkehr. Kommt es aber in unmittelbarem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Ein- und Aussteigen (§ 14 Abs. 1 StVO) aus einem am Fahrbahnrand geparkten Fahrzeug zu einem Verkehrsunfall, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine fahrlässige Sorgfaltspflichtverletzung des Ein- und Aussteigenden (Senat, VersR 2004, 1618 = KGReport 2004, 485), wobei der Vorgang des Einsteigens erst mit dem Schließen der Fahrzeugtüre beendet ist, der Vorgang des Aussteigens erst mit dem Schließen der Fahrzeugtüre und dem zügigen Verlassen der Fahrbahn.

b) Zutreffend geht das Landgericht auf den Seiten 6 ff der angefochtenen Entscheidung davon aus, dass die Klägerin diesen Anscheinsbeweis im Verlauf der Beweisaufnahme nicht entkräftet hat.

Die Beweiswürdigung durch das Landgericht ist nicht zu beanstanden. Die in der angefochtenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Feststellungen hat mithin der Senat bei der Beurteilung des Falles zugrunde zu legen.

aa) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen.

Dies ist nicht der Fall, wenn sich das Gericht des ersten Rechtszuges bei der Tatsachenfeststellung an die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO gehalten hat und das Berufungsgericht keinen Anlass sieht vom Ergebnis der Beweiswürdigung abzuweichen (vgl. Senat, Urteil vom 8. Januar 2004 - 12 U 184/02 -; vgl. auch KG [22. ZS], KGR 2004, 38 = MDR 2004, 533; Senat, KGR 2004, 269).

Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist aus Rechtsgründen (§§ 513 Abs. 1, 546 ZPO) nicht zu beanstanden, da das Landgericht die gesetzlichen Vorgaben nach § 286 ZPO eingehalten hat.

Diese Vorschrift fordert den Richter auf, "unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme" nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Das bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze sowie an Erfahrungssätze und ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf. So darf er beispielsweise einer Partei mehr glauben als einem beeideten Zeugen oder trotz mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil einer Beweisbehauptung feststellen (Zöller/Greger, ZPO, 25. Aufl., 2005, § 286 Rdnr. 13).

Die leitenden Gründe und die wesentlichen Gesichtspunkte für seine Überzeugungsbildung hat das Gericht nachvollziehbar im Urteil darzulegen. Dabei ist es nicht erforderlich, auf jedes einzelne Parteivorbringen und Beweismittel ausführlich einzugehen; es genügt, dass nach der Gesamtheit der Gründe eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat (Thomas/Putzo, ZPO, 26. Aufl. 2004, § 286 Rdnr. 3, 5; Senat, NZV 2004, 355).

bb) An diese Regeln der freien Beweiswürdigung hat das Landgericht sich im angefochtenen Urteil gehalten. Insbesondere hat das Landgericht dargelegt, aus welchem Grund es der Aussage des Zeugen Tnn Nnnnn nicht gefolgt ist.

Der Senat folgt der Beweiswürdigung des Landgerichts auch in der Sache.

c) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann deshalb entgegen der Ansicht der Klägerin nicht davon ausgegangen werden, dass die Fahrzeugtüre bereits geöffnet war und der Zeuge neben dem klägerischen Fahrzeug stand, bevor die Beklagte zu 1) an diesem Fahrzeug vorbeifuhr. Es kann nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Beklagte zu 1) einen zu geringen Seitenabstand eingehalten hat.

d) Entgegen der Ansicht der Klägerin sind die Tatsachenfeststellungen des Gerichts zur Frage des Ruhens des Fließverkehrs nicht uneinheitlich und widersprüchlich. Für die Frage der Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises kommt es auf diese Frage, wie oben dargelegt, nicht an. Da die Klägerin diesen Anscheinsbeweis, wie oben dargelegt, nicht entkräften konnte, ist aufgrund dieses Anscheinsbeweises zugunsten der Beklagten von einer fahrlässigen Sorgfaltspflichtverletzung des Zeugen Tnn Nnnnn auszugehen. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob die Beklagten ihre Unfallschilderung beweisen konnten.

2. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass sich bereits aus der Aussage des Zeugen Nnnnn ergibt, dass dieser in schwerwiegender Weise gegen die ihm aus § 14 Absatz 1 StVO obliegenden Sorgfaltspflichten verstoßen hat. Herrscht Fahrverkehr auf der Fahrbahnseite des haltenden oder parkenden Kfz, so gehört es nämlich zur Gefahrenminderungspflicht des nach links hin Aussteigenden, dass er die Tür nicht länger als unbedingt nötig offen lässt und sich auch nicht länger als unbedingt nötig auf der Fahrbahn aufhält (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Auflage, § 14 StVO Rdnr. 6). Der Zeuge Nnnnn wäre deshalb verpflichtet gewesen, seine rechts neben dem Fahrersitz befindliche Tasche entweder sofort beim Aussteigen mitzunehmen oder sich diese nach dem Aussteigen von der Beifahrerseite des Fahrzeugs zu holen. Selbst wenn es der Klägerin gelungen wäre, das von ihr behauptete Fehlverhalten der Beklagten zu 1) zu beweisen, so würde dieses Verhalten des Zeugen Nnnnn eine Haftungsverteilung von 3/4 zu 1/4 zu Lasten der Klägerin rechtfertigen.

3. Im Übrigen hat die Sache keine grundsätzliche Bedeutung, und eine Entscheidung des Senats zur Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist nicht erforderlich.

Es wird daher angeregt, die Fortführung der Berufung zu überdenken.

Ende der Entscheidung

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