Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Urteil verkündet am 11.10.1999
Aktenzeichen: 12 U 2814/98
Rechtsgebiete: StVG, BGB, PflVG, ZPO


Vorschriften:

StVG § 7 Abs. 1
StVG § 7 Abs. 2
StVG § 17 Abs. 1
BGB § 823
PflVG § 3 Nr. 1
PflVG § 2
ZPO § 286
ZPO § 543 Abs. 1
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713
ZPO § 543 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
KAMMERGERICHT Im Namen des Volkes

Geschäftsnummer: 12 U 2814/98 19.0. 329/97 LG Berlin

In dem Rechtsstreit

Verkündet am: 11. Oktober 1999

Franke, Justizsekretärin

hat der 12. Zivilsenat des Kammergerichts auf die mündliche Verhandlung vom 11. Oktober 1999 durch den Vorsitzenden Richter am Kammergericht Hartig, den Richter am Landgericht Hinze sowie Richter am Kammergericht Grieß für

Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das am 13. März 1998 verkündete Urteil der Zivilkammer 19 des Landgerichts Berlin wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Wert der Beschwer übersteigt 60.000,00 DM nicht.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg, weil das Urteil des Landgerichts im Ergebnis richtig ist und das Vorbringen im Berufungsverfahren ein anderes Ergebnis nicht rechtfertigt.

1. Entgegen der Auffassung der Beklagten steht der Klägerin gegen sie nach dem Ergebnis der vor dem Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme ein Anspruch auf Schadensersatz aus dem Verkehrsunfall vom 29. Dezember 1996 gegen 12.15 Uhr auf der Bundesautobahn A 10, Richtung Autobahndreieck Drewitz, in Höhe des Kilometers 68,5 bis 70 zu (§§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 StVG, § 823 BGB, § 3 Nr. 1, 2 PflVG).

Denn die Klägerin hat die Richtigkeit des von ihr behaupteten Unfallhergangs bewiesen. Sie hat insbesondere den Beweis dafür erbracht, dass der Versicherungsnehmer der Beklagten mit seinem Pkw T B-N 1 unmittelbar vor dem auf dem linken Fahrstreifen herannahenden Fahrzeug der Klägerin den mittleren Fahrstreifen nach links gewechselt hat, so dass der Geschäftsführer der Klägerin mit deren M B S 3 T B-H 9 ins Schlingern geriet, in der weiteren Folge der linke hintere Reifen platzte, wodurch der Mercedes mit der linken Leitplanke kollidierte, sich um seine eigene Achse drehte und schließlich auf einem Feld rechts neben der Autobahn zum Stehen kam.

Dies hat zur Folge, dass eine Haftung der Beklagten wegen eines sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsels (§ 7 Abs. 5 StVO) gegeben ist.

a) Der Umstand, dass es zu keiner Berührung zwischen dem von dem Geschäftsführer der Klägerin geführten Pkw Mercedes und dem Pkw Toyota des Versicherungsnehmers der Beklagten gekommen ist, bevor der Mercedes beschädigt wurde, steht einer Haftung der Beklagten aus § 7 Abs. 1 StVG, § 823 BGB, § 3 Nr. 1, 2 PflVG, grundsätzlich nicht entgegen; denn erforderlich ist zunächst lediglich, dass der Schaden "bei dem Betrieb" eines Kraftfahrzeuges - hier des bei der Beklagten versicherten Pkw - entstanden ist. Ob diese Voraussetzung gegeben ist, hängt auch nicht davon ab, ob sich der Fahrer des Fahrzeuges verkehrswidrig verhalten hat (BGH NJW 1972, 1808 = DAR 1972, 332 = VRS 43, 331 = VersR 1972,1074; BGH NJW 1988,2802 = DAR 1988,269).

Kommt es jedoch überhaupt nicht zu einer Berührung zwischen dem Geschädigten und dem Kraftfahrzeug des Unfallgegners, so rechtfertigt die bloße Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeuges an der Unfallstelle nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Senats noch nicht die Annahme, der Unfall sei bei dem Betrieb des Kraftfahrzeuges entstanden. Vielmehr ist erforderlich, dass die Fahrweise oder eine von dem Betrieb dieses Fahrzeuges typischerweise ausgehende Gefahr zu dem Entstehen des Unfalls ursächlich beigetragen hat (BGH a.a.O.; Senat, VersR 1979, 234; VerkMitt 1983, 31; VerkMitt 1988, 50; VerkMitt 1997, 3 = VersR 1997, 1281; VerkMitt 1998, 66 = VersR 1998, 778). Hierfür ist ein bestimmtes Verhalten des in Anspruch Genommenen erforderlich, das bei objektiver Betrachtungsweise geeignet ist, auf den Fahrer des Unfallwagens einzuwirken; es kommt darauf an, ob in einer konkreten Situation die Gegenwart des Fahrzeuges vom Lenker des unfallgeschädigten Wagens als gefährlich empfunden werden durfte (BGH VersR 1969, 58; NJW 1988, 2802).

Das Haftungsmerkmal "bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges" im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG ist entsprechend dem Schutzzweck der Norm weit auszulegen (vgl. zuletzt BGH NJW 1990, 2885 f. m. w. N.; Senat VerkMitt 1991, 2 Nr. 2); so wird ein Unfall, der sich infolge einer Abwehr- und Ausweichreaktion ereignet hat, selbst dann dem Betrieb des Kraftfahrzeuges zugerechnet, das die Reaktion ausgelöst hat, wenn diese objektiv nicht erforderlich war (vgl. BGH NJW 1973, 44) NJW 1988, 2802); stets ist aber aufgrund einer insoweit gebotenen wertenden Betrachtung des Schadensgeschehens (so zuletzt BGH NJW 1990, 2885 f.) die Feststellung erforderlich, dass die Reaktion des geschädigten Verkehrsteilnehmers - aus seiner Sicht des konkreten Verkehrsgeschehens vor dem Unfall - subjektiv vertretbar erscheint; es müssen also Anhaltspunkte dafür festgestellt werden, dass das Verhalten des in Anspruch Genommenen dem Geschädigten subjektiv zur Befürchtung hätte Anlass geben können, es werde ohne seine Reaktion zu einer Kollision mit dem anderen Verkehrsteilnehmer kommen (vgl. BGH VersR 1969, 58; Senat, VerkMitt 1998, 66 = VersR 1998, 778).

Bejaht wurde die Zurechenbarkeit u. a. in Fällen, in denen ein Kraftfahrzeug wegen des plötzlichen und riskanten Fahrstreifenwechsels eines anderen Kraftfahrzeuges infolge einer Ausweichbewegung nicht gegen dieses Fahrzeug, sondern gegen ein anderes Hindernis gerät (vgl. BGH NJW 1971, 2030; Senat, VerkMitt 1988, 50; VerkMitt 1991, 2).

Stets hat der Geschädigte den erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Betrieb des Kraftfahrzeuges und dem Schaden darzulegen und zu beweisen (BGH DAR 1976, 246; VersR 1976, 927, NJW 1981, 570; Senat, VerkMitt 1998, 66 = VersR 1998, 778). Dieser Beweis ist naturgemäß oft schwierig, wenn eine Berührung nicht stattgefunden hat; auch in derartigen Fällen gehen jedoch etwaige Zweifel an der Ursächlichkeit für den Unfall zu Lasten des Geschädigten (BGH VersR 1969, 58; DAR 1976, 246; st. Rechtspr. des Senats, vgl. a.a.O.).

b) Entgegen der Auffassung der Beklagten steht aufgrund der vor dem Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme fest (§ 286 ZPO), dass ihr Versicherungsnehmer F G unmittelbar vor dem auf dem linken Fahrstreifen der BAB 10 schnell herannahenden Fahrzeug der Klägerin den von ihm mit einer Geschwindigkeit von etwa 100 bis 110 km/h befahrenen mittleren Fahrstreifen der Autobahn nach links wechselte, um ein vor ihm fahrendes Fahrzeug zu überholen, und dabei etwa 1/3 des linken Fahrstreifens befuhr.

Das Landgericht hat die Angaben des Beifahrers des Geschäftsführers der Klägerin, des Erziehers M W, für glaubhaft gehalten und diese Einschätzung hinreichend begründet. Der Senat folgt dieser zutreffenden Auffassung, §§ 286, 543 Abs. 1 ZPO.

Der von der Beklagten auf Seite 1 f. ihrer Berufungsbegründung angesprochene Vermerk in der polizeilichen Unfallaufnahme über die angebliche Äußerung des F G nach dem Unfall ("Ich war nur ein Stück über die Leitlinie, bin mir keiner Schuld bewußt. Ich wollte andere Fahrzeuge überholen", BA Bl. 3) hat das Landgericht - zutreffend - nur als einen von mehreren Anhaltspunkten dafür gewertet, dass die Aussage des Zeugen W glaubhaft ist.

Insoweit kommt es nicht entscheidend auf den Einwand der Beklagten an, es treffe nicht zu, dass die Ehefrau des Versicherungsnehmers nach dem Unfall gegenüber dem Polizeibeamten J B gesagt habe "Ich war nur ein Stück über die Leitlinie":

Denn der Inhalt der Aussage des Zeugen W ist auch vor dem Hintergrund des übrigen Akteninhalts glaubhaft; so paßt sie zu dem Vorbringen der Beklagten (vgl. Schriftsatz vom 25. August 1997, Bl. 21 ff.), dass F G das vor ihm fahrende Fahrzeug habe überholen wollen und deswegen nach links gelenkt habe, jedenfalls bis an die linke Mittellinie seines Fahrstreifens heran.

Die Beklagte greift im Berufungsverfahren auch nicht die Richtigkeit der Angabe des Polizeibeamten J B vor dem Landgericht (Bl. 85) an, die Ehefrau des Versicherungsnehmers habe ihm gegenüber bestätigt, dass ihr Ehemann "die Spur habe wechseln wollen".

Der Feststellung dieser im ersten Rechtszug unstreitigen Absicht stehen auch nicht die Angaben der Rentnerin G G als Zeugin vor dem Landgericht (Bl. 96) entgegen; danach soll sich kein Fahrzeug vor dem Toyota ihres Ehemannes befunden haben und das von hinten sich schnell nähernde Fahrzeug soll "uns etwas zur Seite gedrängt" haben; ferner soll ihr Ehemann nicht die Absicht gehabt haben zu überholen und soll den mittleren Fahrstreifen nicht verlassen haben; die Zeugin will auch nicht mit einem Polizisten gesprochen haben.

Diese Angaben sind zum Teil in sich widersprüchlich; denn wenn der Ehemann der Zeugin den von ihm geführten Pkw nicht in den linken Fahrstreifen hineinbewegt haben soll, kann er auch nicht von dem diesen Fahrstreifen benutzenden Fahrzeug der Klägerin zur Seite gedrängt worden sein.

Auch das Landgericht ist zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, insgesamt seien die Aussagen der Zeugin G nicht glaubhaft; dies könne mit dem Fehlen verläßlicher Erinnerung erklärt werden; denn neben der erwähnten Widersprüchlichkeit stehen die Angaben der Zeugin im Gegensatz zu dem eigenen schriftsätzlichen Vorbringen der Beklagten zur Überholabsicht und zum Fahrverhalten des Ehemannes der Zeugin; sie stehen ferner im Gegensatz zu den Angaben des Polizeibeamten B als Zeugen sowie im Gegensatz zu den Angaben des Zeugen W und auch im Gegensatz zu den - ebenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung verwertbaren - Erklärungen des Geschäftsführers der Klägerin als Fahrer ihres Fahrzeuges vor dem Landgericht.

Auch nach dessen Erklärung (Bl. 46) ist der Versicherungsnehmer der Beklagten vom mittleren in den linken Fahrstreifen der Autobahn hinübergewechselt, als er - der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges - vielleicht noch 5 bis 6 m entfernt gewesen ist, so dass er nach links habe ausweichen müssen.

Die Frage, ob der Versicherungsnehmer der Beklagten tatsächlich in den linken Fahrstreifen hineingefahren ist oder - wie die Beklagten selbst auf Seite 2 ihres Schriftsatzes vom 25. August 1997 (Bl. 22) vorgetragen haben - in Überholabsicht innerhalb seines Fahrstreifens von rechts an den linken Rand herangefahren ist, ist letztlich unerheblich; denn auch ein Verkehrsteilnehmer, der im mittleren Fahrstreifen bei gleichzeitiger Betätigung des linken Fahrtrichtungsanzeigers in Überholabsicht nach links lenkt, gibt einem mit höherer Geschwindigkeit auf dem linken Fahrstreifen herannahenden Fahrzeugführer - jedenfalls subjektiv - Anlass zu der Befürchtung, es werde zu einer Kollision kommen, wenn er nicht seinerseits so weit wie möglich nach links ausweicht.

c) Entgegen der Auffassung der Beklagten ist mit dem Landgericht im Ergebnis davon auszugehen, dass das Platzen des linken Hinterreifens am Fahrzeug der Klägerin dem Fahrverhalten des Versicherungsnehmers der Beklagten zuzurechnen ist, welches ursächlich für das Ausweichen des klägerischen Fahrzeuges nach links, dessen Schlingern und dessen Befahren des scharfkantigen Mittelstreifens war.

aa) Denn dafür spricht aufgrund des örtlichen und zeitlichen Zusammenhangs des Reifenplatzens mit dem Ausweichen des klägerischen Fahrzeuges der Beweis des ersten Anscheins.

Mit Hilfe des Anscheinsbeweises kann bei typischen Geschehensabläufen aufgrund eines bestimmten Erfolges eine bestimmte Ursache als bewiesen angesehen werden; der Anscheinsbeweis setzt voraus, dass ein Tatbestand feststeht, bei dem die behauptete Verursachung typischerweise gegeben ist, beruht also auf einer Auswertung von Wahrscheinlichkeiten, die aufgrund der Lebenserfahrung anzunehmen sind (BGH VersR 1986, 343, 344; VersR 1991, 195; NJW-RR 1988, 789, 799). Der Anscheinsbeweis ist dagegen nicht anwendbar, wenn individuell geprägte Verhaltensweisen zu beurteilen sind (vgl. Senat VerkMitt 1996 76 = NZV 1996,490).

bb) Im Streitfall geht es nicht um Schäden aufgrund von individuellen Willensentschlüssen. Vielmehr entspricht es der Lebenserfahrung, dass bei der heutigen Reifenqualität ein fast fabrikneuer Reifen (die Laufleistung des klägerischen Fahrzeuges betrug im Unfallzeitpunkt 2.425 km) nicht ohne besonderen Grund platzt.

Es ist jedoch unstreitig, dass der Mercedes der Klägerin von der Fahrbahn nach links auf den Mittelstreifenbereich auswich, der nach der Aussage des Polizeibeamten B (Bl. 86) "mit einem scharfkantigen Bordstein abgegrenzt" ist. Der Polizeibeamte hat ferner angegeben: "Wenn man dagegen fährt, geht unweigerlich etwas kaputt".

Es entspricht der Lebenserfahrung, dass Reifen aufgrund einer Berührung mit scharfkantigen Fahrbahnteilen oder Fahrbahnbegrenzungen beschädigt werden, so dass das von dem Versicherungsnehmer der Beklagten veranlaßte Ausweichmanöver des Geschäftsführers der Klägerin ursächlich für den Reifenplatzer war; unerheblich ist insoweit, dass die Insassen des klägerischen Fahrzeuges die Auswirkungen des Reifenschadens erst spürten, als sie bereits am Fahrzeug des Versicherungsnehmers der Beklagten vorbei waren.

Der Hinweis der Beklagten auf Seite 2 der Berufungsbegründung, bei einem Ausweichen des klägerischen Fahrzeuges nach links gegen den Bordstein wäre zu erwarten gewesen, dass dann der linke Vorderreifen zuerst hätte platzen müssen, überzeugt nicht; denn unstreitig ist das Fahrzeug der Klägerin beim Passieren des Toyota "ins Schlingern" geraten, so dass auch eine ausschließliche Berührung des linken Hinterreifens mit dem scharfkantigen Bordstein plausibel ist.

Ebenso entspricht es der Lebenserfahrung, dass aufgrund einer Querbeschleunigung des Fahrzeuges ein Reifen "von der Felge gedrückt" wird, wie es der von der Klägerin mit der Schadensbegutachtung beauftragte Sachverständige D H auf Seite 3 seines Gutachtens vom 10. Januar 1997 festgestellt hat. Der Umstand, dass das Schlingern eines Fahrzeuges eine auf die Reifen wirkende Querbeschleunigung zur Folge hat, bedarf keiner näheren Begründung. Dasselbe gilt für den Umstand, dass der während einer Querbeschleunigung erfolgende Anstoß eines Reifens gegen eine scharfe Kante zu einem Reifenschaden führt.

Nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises steht also fest, dass das vom Versicherungsnehmer der Beklagten veranlaßte Schlingern des Mercedes der Klägerin, also letztlich das Fahrverhalten des Versicherungsnehmers der Beklagten, ursächlich für den Reifenplatzer war.

Diesen Anscheinsbeweis hat die Beklagte nicht erschüttert; denn sie legt keine andere Ursache des Reifenplatzers im einzelnen hinreichend als ebenso wahrscheinlich dar.

cc) Auch der Einwand der Beklagten, der Reifen wäre nicht geplatzt, wenn der Geschäftsführer der Klägerin nicht mit 200 bis 210 km/h, sondern lediglich mit 130 km/h gefahren wäre, verhilft der Berufung nicht zum Erfolg.

Denn im Gegensatz zur Auffassung des Landgerichts, welches seine entsprechenden Feststellungen nicht nachvollziehbar aus der Beweisaufnahme ableitet, vermag der Senat nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen, dass der Geschäftsführer der Klägerin das Fahrzeug des Versicherungsnehmers der Beklagten tatsächlich mit 200 bis 210 km/h überholt hat.

Aus den Angaben des Polizeibeamten B vor dem Landgericht lässt sich eine derartige Feststellung nicht ableiten; denn der Zeuge hat zwar zunächst erklärt: "Ich bin mir ganz sicher, dass Herr P mir vor Ort seine gefahrene Geschwindigkeit mit 200 km/h angegeben hat" (Bl. 85).

Der Zeuge B hat diese Angabe am Schluß seiner Vernehmung jedoch eingeschränkt und erklärt: "Ob diese Geschwindigkeit zur Zeit des Unfalls oder davor gefahren wurde, weiß ich nicht. Ob Herr P vor Ort angegeben hat, er habe sich ausrollen lassen wollen, weiß ich nicht mehr. Insoweit müsste ich mich auf mein Protokoll beziehen. Wenn ich über die Anhörung der Betroffenen die Angabe des Herrn P dahin aufgenommen habe, dass er angegeben hat, er habe sich reinrollen lassen wollen, so ist diese, wie auch die weiteren, mir zur Kenntnis gegebenen Angaben, richtig. Daran kann ich mich heute nicht mehr genau erinnern" (Bl. 86).

In dem Protokoll der Unfallaufnahme heißt es als Äußerung des Geschäftsführers der Klägerin: "Ich hatte ungefähr 210 km/h drauf und wollte mich reinrollen lassen. Das Fahrzeug hatte ich im Griff, bis auf einmal der Reifen platzte".

Dieser Vermerk schließt nicht aus, dass der Geschäftsführer der Klägerin seine zuvor gefahrene Geschwindigkeit beim Passieren des Toyota nicht mehr eingehalten hat; es kann aus den Angaben des Zeugen B und dem Protokoll der Unfallaufnahme nicht sicher festgestellt werden, dass der Geschäftsführer der Klägerin schneller gefahren ist als er selbst in seiner Anhörung vor dem Landgericht zunächst angegeben hat, nämlich etwa 160 km/h, da er zuvor in Erwartung einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h vom Gas gegangen ist und den Wagen hat ausrollen lassen. Das Ausrollen ist auch vom Zeugen W bestätigt worden. Da der Geschäftsführer der Klägerin vor dem Landgericht im weiteren Verlauf seiner Erklärung angegeben hat: "Nach den Papieren betrug die Höchstgeschwindigkeit meines Pkw 207 km/h. Ich habe mich vor Ort mit einem Polizeibeamten unterhalten. Ich habe ihm gegenüber keine Angaben über meine gefahrene Geschwindigkeit gemacht. Er hat mich zwar danach gefragt, aber ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht wisse. Ich kann auch heute noch nicht sagen, wie schnell ich an der Unfallstelle war, weil ich da nicht auf den Tacho geschaut habe...", kann auch eine Geschwindigkeit von 160 km/h nicht sicher festgestellt werden.

d) Ein Mitverschulden (§ 254 BGB) der Klägerin an der Schadensentstehung folgt nicht aus dem Umstand, dass ihr Geschäftsführer zum Unfallzeitptunkt die Autobahnrichtgeschwindigkeit von 130 km/h (Verordnung über eine allgemeine Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen und ähnlichen Straßen vom 21. November 1978 BGBl. 11824) Überschritten hat.

Denn regelmäßig begründet die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit keinen Mitverschuldensvorwurf (BGHZ 117, 337 = NZV 1992, 229; KG VerkMitt 1985, 63); auch wenn überwiegend die Ansicht vertreten wird, die Berufung auf eine Unabwendbarkeit des Unfalls im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG sei in einem solchen Fall ausgeschlossen (BGH, a.a.O.; vgl. auch Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl. 1999, StVO § 3 Rdn. 55 c), ergibt sich daraus nicht ein Mitverschuldensvorwurf.

e) Entgegen der Auffassung der Beklagten muss sich die Klägerin auch nicht im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG eine erhöhte Betriebsgefahr ihres Kraftfahrzeuges wegen einer Geschwindigkeit von 200 bis 210 km/h mit einer Quote von 50 % anrechnen lassen.

Denn - wie bereits unter c) cc) ausgeführt - kann nicht sicher festgestellt werden, dass der Geschäftsführer der Klägerin schneller als möglicherweise 160 km/h gefahren ist, als er das Fahrzeug des Versicherungsnehmers der Beklagten passiert hat.

Zwar hat das OLG Köln (VersR 1992, 1366 f., mit ablehnender Anmerkung Reiff) im Falle eines durch sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsel geschädigten Kraftfahrers, der mit etwa 150 km/h auf der Überholspur herangenaht war, dessen Mithaftung zu 20 % aus Betriebsgefahr bejaht.

Diesem Ergebnis folgt der Senat jedoch nicht, der schon in seinem Urteil vom 7. Juli 1990 - 12 U 4191/89 - (VerkMitt 1990, 91 Nr. 118) entschieden hat, dass in derartigen Fällen (sorgfaltswidriger Fahrstreifenwechsel auf Autobahnen mit 70 bis 90 km/h; Überholer nähert sich mit etwa 150 km/h) eine Mithaftung des Überholers wegen erhöhter Betriebsgefahr im Verhältnis zu einem grob fahrlässigen Fahrstreifenwechsel ausscheidet.

Auch im vorliegenden Fall ist nicht bewiesen, wie lange vor dem Fahrstreifenwechsel nach links der Versicherungsnehmer der Beklagten den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hatte. Die Ehefrau des Versicherungsnehmers hat in ihrer Zeugenaussage sich insoweit nicht geäußert, sondern im Gegenteil - unglaubhaft - erklärt, ihr Ehemann habe überhaupt nicht überholen wollen.

Der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges hat angegeben, der Versicherungsnehmer der Beklagten sei plötzlich nach links in seinen Fahrstreifen gefahren und habe ihn als Überholer gar nicht wahrgenommen. Auch der Beifahrer im klägerischen Fahrzeug hat nicht bekunden können, der Versicherungsnehmer der Beklagten habe links geblinkt.

Da eine konkrete über 130 km/h liegende Geschwindigkeit des klägerischen Fahrzeuges nicht sicher festgestellt werden kann, kommt auch eine Mithaftung der Klägerin nicht in Betracht, da im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG nur feststehende oder erwiesene unfallursächliche Umstände angelastet werden können (vgl. Jagusch/Hentschel, a.a.O., StVG § 17 Rdn. 5,.21).

Die allenfalls geringfügig erhöhte Betriebsgefahr des Fahrzeuges der Klägerin tritt danach hinter dem grob sorgfaltswidrigen Beginn des Fahrstreifenwechsels des Versicherungsnehmers der Beklagten als der eigentlichen Unfallursache vollständig zurück (vgl. KG VerkMitt 1992, 28 Nr. 31; VerkMitt 1996, 21 Nr. 27), wobei der Fahrstreifenwechsel besonders gefährlich war, da er auf der Autobahn vorgenommen wurde, wo stets mit hohen Geschwindigkeiten zu rechnen ist.

3. Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713, 543 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

Zurück