Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Urteil verkündet am 15.03.2004
Aktenzeichen: 12 U 333/02
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB a.F. § 847
ZPO § 287
Für die Bemessung des Schmerzensgeldes ist bei Verwertung von früheren Gerichtsentscheidungen als Bezugsgrößen auch die zwischenzeitlich eingetretene Geldentwertung zu berücksichtigen.
Kammergericht Im Namen des Volkes

Geschäftsnummer: 12 U 333/02

verkündet am: 15.03.2004

In dem Rechtsstreit

hat der 12. Zivilsenat des Kammergerichts auf die mündliche Verhandlung vom 15. März 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Kammergericht Grieß und die Richter am Kammergericht Spiegel und Dr. Wimmer

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 14. Oktober 2002 verkündete Teilurteil des Landgerichts Berlin - 24 O 238/02 - abgeändert:

Die Beklagte zu 3) wird verurteilt, an die Klägerin ein weiteres Schmerzensgeld von insgesamt 10.000 EUR nebst 4 % Zinsen seit dem 17. Juni 2002 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte zu 3) hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist weitgehend begründet. Der Klägerin steht über das außergerichtlich von der Beklagten zu 1) gezahlte Schmerzensgeld in Höhe von 40.000,- DM (= 20.451,68 EUR) nicht nur der vom Landgericht zuerkannte Betrag von weiteren 5.000,- EUR zu, sondern ein weiterer Betrag von insgesamt 10.000,- EUR. Das Landgericht hat bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu Unrecht zu Lasten der Klägerin bei der Heranziehung von Vergleichsentscheidungen nicht nur die Geldentwertung außer acht gelassen, sondern auch fälschlich angenommen, der Genugtuungsaspekt spiele nach der Verurteilung der Beklagten zu 3) wegen fahrlässiger Körperverletzung für das Schmerzensgeld keine Rolle mehr. Die Berücksichtigung beider Umstände führt - in Abänderung des angefochtenen Urteils - zu einer weitergehenden Verurteilung der Beklagten zu 3).

A. Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann eine Berufung nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.

Prüfungsgegenstand des Berufungsgerichts ist nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zunächst die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts und die darauf gestützte Rechtsanwendung. Darüber hinaus neu vorgetragene Tatsachen darf das Berufungsgericht seiner Entscheidung nur zugrundelegen, wenn ihre Berücksichtigung zulässig ist (§ 529 Abs. 1 Nr. 2 ZPO).

B. Im vorliegenden Fall liegen diese Voraussetzungen vor, denn das Landgericht hat die bei Bemessung des Schadensersatzes zu beachtenden Faktoren nicht hinreichend berücksichtigt; die gebotene Beachtung der Geldentwertung und der Genugtuungsfunktion rechtfertigen ein höheres Schmerzensgeld (weitere 10.000,- EUR), § 847 BGB a.F., § 287 ZPO).

I. Der rechtliche Ausgangspunkt des Landgerichts für die Bemessung von Schmerzensgeld nach § 847 BGB a.F. ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Die auf Seite 9 des Urteils dargelegten Grundsätze entsprechen der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. etwa KGR 2003, 140).

1) Hinzuzufügen ist freilich, dass bei der Bemessung der Schmerzensgeldhöhe die besondere Natur des Schmerzensgeldanspruchs zu berücksichtigen ist. Dieser ist vom Gesetzgeber lediglich formal als Schadensersatzanspruch ausgestaltet, seinem Inhalt nach aber jedenfalls nicht ein solcher der üblichen, d.h. auf den Ausgleich von Vermögensschäden zugeschnittenen Art. Immaterielle Schäden betreffen gerade nicht in Geld meßbare Güter. Daher lassen sie sich niemals in Geld ausdrücken und kaum in Geld ausgleichen. Die Eigenart des Schmerzensgeldanspruchs hat zur Folge, dass dessen Höhe nicht auf Heller und Pfennig bestimmbar und für jedermann nachvollziehbar begründbar ist.

Auch deswegen eröffnet der in § 847 Abs. 1 Satz 1 BGB vorgeschriebene Maßstab der Billigkeit dem Richter einen Spielraum, den er durch eine Einordnung des Streitfalls in die Skala der von ihm in anderen Fällen zugesprochenen Schmerzensgelder ausfüllen muss (vgl. Senat, VerkMitt 1996 Nr. 60, S. 44; VersR 1999, 504, 506 = NZV 1999, 329, 330).

2) Ferner ist die Höhe des zugesprochenen Schmerzensgeldes aus älteren Vergleichsentscheidungen nur dann aussagekräftig, wenn die Geldentwertung seit Erlass dieser Entscheidungen berücksichtigt wird (Senat, KGR 2002, 98; vgl. etwa die Übersicht zur Entwicklung der Verbraucherpreise in Palandt/Brudermüller, 63. Auflage 2004, § 1376 BGB, Rn. 30).

Im Übrigen ist zu beachten, dass eine Bindung an derartige Entscheidungen nach Art eines Präjudizes schon deshalb nicht besteht, weil eine völlige Identität der erlittenen Verletzungen und Verletzungsfolgen praktisch nie bestehen wird. Stets werden Unterschiede nach verletzter Person, Art der Verletzungen und Dauerfolgen sowie der Behandlungen bleiben.

Das Ziel, auch im Bereich des Schmerzensgeldes Gleiches gleich zu behandeln, ist damit immer nur annäherungsweise erreichbar. Die herangezogenen Entscheidungen können mithin nur einer groben Klassifizierung der Beeinträchtigungen dienen.

II. Die Anwendung dieser Grundsätze rechtfertigt eine Verurteilung zur Zahlung weiteren Schmerzensgeldes.

1) Das Landgericht hat sich bei der Bemessung des Schmerzensgeldrahmens (§ 847 BGB a.F., § 287 ZPO) auf zutreffend ausgewählte Vergleichsentscheidungen gestützt.

a) Die auf Seite 7 ff. des angefochtenen Urteils dargelegten Verletzungen, Unfallfolgen sowie die im Tatbestand beschriebene Behandlungen (dort Seite 3 und 4) sind zwischen den Parteien unstreitig.

Danach erlitt die am 6. September 1967 geborene Klägerin bei dem Unfall am 3. Mai 1999 eine bicondyläre Schienbeinkopftrümmerfraktur rechts. Sie wurde während dreier stationärer Krankenhausaufenthalte von insgesamt 33 Tagen (3. Mai bis 26. Mai 1999; 8. Februar bis 12. Februar 2000 und 20. November bis 23. November 2000) fünf Mal operiert, wobei sie - teilweise narkosebedingt - an postoperativen Beschwerden litt. Sieben Monate lang war sie vollständig arbeitsunfähig.

Infolge der Operationen sind am Ober- und Unterschenkel der Klägerin umfängliche Narben verblieben. Sie kann das rechte Kniegelenk nur noch eingeschränkt strecken und beugen; das Knie ist mittelgradig instabil geblieben. Die Muskeln haben sich im Bereich des rechten Ober- und Unterschenkels zurückgebildet. Das rechte Bein ist um 2 cm verkürzt. Der Grad ihrer Schwerbehinderung sowie der Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt 40 %. Mit einer frühzeitigen Entwicklung einer posttraumatischen Arthrose mit entsprechender schmerzhafter Belastung des rechten Beines und Notwendigkeit prothetischer Versorgung ist zu rechnen; radiologische Veränderungen sind bereits feststellbar.

b) Insgesamt betreffen die vom Landgericht herangezogenen Urteile vergleichbare Unfallfolgen. Den Unterschieden zu Lasten der Klägerin, die die Beklagten in der Berufungserwiderung für jedes einzelne dieser Urteile aufzeigen und die sich vielfach auf die Dauer der stationären Behandlung beziehen, stehen jeweils andere Gesichtspunkte gegenüber, die zu Gunsten der Klägerin dafür sprechen, die Entscheidungen als in etwa maßgebend anzusehen. Insbesondere ist hervorzuheben, dass sich die Klägerin zwar zusammengerechnet kürzer in stationärer Behandlung befand als einige der Verletzten aus den Vergleichsurteilen. Dafür haben sich ihre mehreren stationären Aufenthalten mit Operationen, die zum Teil weitere Beschwerden nach sich gezogen haben, über einen Zeitraum von mehr als eineinhalb Jahren verteilt, mit entsprechender Belastung.

c) Die von der Klägerin in der Berufungsbegründung genannten weitergehenden Entscheidungen dagegen betreffen Fälle mit durchweg schwereren Verletzungen. Teils haben die dortigen Verletzten umfangreichere, auch mehrfache, Verletzungen erlitten, teils waren die dargestellten Folgen gravierender (auch mit prothetischer Versorgung). Der Senat teilt die Vorstellung der Klägerin nicht, ihr Schmerzensgeld habe sich der Höhe nach an den dort zugesprochenen Beträgen zu orientieren.

2) Das Landgericht hat jedoch die Geldwertentwicklung seit Erlass der zum Vergleich herangezogenen Entscheidungen außer acht gelassen hat. Diese Entwicklung rechtfertigt einen spürbaren Zuschlag zu den seinerzeit festgesetzten Schmerzensgeldbeträgen.

Insoweit ergibt sich zu den angepassten Schmerzensgeldbeträgen der Vergleichsentscheidungen folgendes Bild (berechnet mit dem Programm zu Hacks/Ring/Böhm, Schmerzensgeldbeträge, 22. Auflage 2004):

 Gericht:Originalbetrag (DM):Indexanpassung (DM):
LG Darmstadt vom 20.1.198840.000,0054.212,00
LG Deggendorf vom 8.5.199140.000,0050.917,00
LG Koblenz vom 13.3.198540.000,0055.362,00
LG Konstanz vom 22.3.199540.000,0044.440,00
OLG Düsseldorf vom 8.12.198640.000,0055.431,00
OLG Koblenz vom 6.12.199945.000,0047.617,00
LG Koblenz vom 1.7.198750.000,0069.116,00
OLG Köln vom 20.5.199250.000,0060.590,00

3) Die auf Seite 10 der Entscheidungsgründe ausgeführte Auffassung des Landgerichts, wegen der rechtskräftigen Verurteilung der Beklagten zu 3) sei für die Berücksichtigung der Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes kein Raum mehr, trifft nicht zu. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass sich die strafrechtliche Verurteilung des Täters auf die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes grundsätzlich nicht auswirkt (BGH, VersR 1996, 382). Der Senat folgt dieser Auffassung. Die gebotenen Berücksichtigung des Genugtuungsinteresses führt daher zu einer weiteren Erhöhung des Schmerzensgeldes.

4) Insgesamt ist nach alledem zusätzlich zu den erhaltenen 40.000,- DM ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe 10.000,- EUR als "billige Entschädigung" i.S.d. § 847 BGB a.F. zum Ausgleich der immateriellen Schäden gerechtfertigt, die die Klägerin durch den Unfall vom 3. Mai 1999 erlitten hat.

C. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO).

D. Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 2, 708 Nr. 10, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO.



Ende der Entscheidung

Zurück