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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 04.12.2006
Aktenzeichen: 12 U 84/06
Rechtsgebiete: StVO, ZPO


Vorschriften:

StVO § 9 Abs. 5
StVO § 9 Abs. 1
StVO § 9 Abs. 2
StVO § 9 Abs. 3
StVO § 9 Abs. 4
ZPO § 522 Abs. 2 Satz 1
ZPO § 522 Abs. 2 Satz 2
ZPO § 513 Abs. 1
ZPO § 546
ZPO § 529 ZPO
Zu den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung. Im Hinblick auf die dem Abbiegenden gemäß § 9 Abs. 5 StVO abverlangte äußerste und gegenüber den Absätzen 1 bis 4 nochmals erhöhte Sorgfaltspflicht, trägt der in ein Grundstück Abbiegende die Gefahr nahezu allein; deshalb spricht der Anscheinsbeweis gegen den Abbiegenden, der allein haftet, wenn er dem anderen einen Fahrfehler nicht nachweist. Der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden wird nicht allein durch den bloßen Zusammenstoß mit dem Vorausfahrenden begründet; er ist vielmehr nur dann anwendbar, wenn bei den Fahrzeugen jedenfalls eine Teilüberdeckung von Heck und Front vorliegt; das ist nicht der Fall, wenn die rechte Seitentür der Fahrerkabine des nachfolgenden Lkw und das linke hintere Seitenteil des angehängten Bauaufzuges beschädigt wurden.
Kammergericht

Beschluss

Geschäftsnummer: 12 U 84/06

In dem Rechtsstreit

hat der 12. Zivilsenat des Kammergerichts durch den Vorsitzenden Richter am Kammergericht Grieß, den Richter am Kammergericht Dr. Wimmer und die Richterin am Kammergericht Zillmann am 4. Dezember 2006 beschlossen:

Tenor:

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.

2. Der Berufungskläger erhält gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO Gelegenheit, hierzu binnen zwei Wochen Stellung zu nehmen.

Gründe:

Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg, die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern keine Entscheidung des Berufungsgerichts, § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO.

Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.

Beides ist nicht der Fall.

Das Landgericht ist in dem angegriffenen Urteil zu Recht davon ausgegangen, dass die Klage unbegründet ist, weil der Kläger für den streitgegenständlichen Verkehrsunfall allein haftet.

1. Dabei ist das Landgericht zutreffend davon ausgegangen, dass gegen den Kläger der Beweis des ersten Anscheins spricht, dass er den Verkehrsunfall wegen eines Verstoßes gegen die sich aus § 9 Abs. 5 StVO ergebenden Sorgfaltspflichten des in ein Grundstück Abbiegenden verursacht hat.

2. Soweit der Kläger mit der Berufung die Beweiswürdigung des Landgerichts insoweit angreift, als er meint, das Landgericht hätte unter zugrunde legen der Aussagen der Zeugen Hnnn , Knnnn und Bnn zu dem Ergebnis kommen müssen, der Zusammenstoß der Fahrzeuge habe sich auf dem rechten und nicht dem mittleren Fahrstreifen ereignet, folgt der Senat dem nicht.

a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen. Dies ist nicht der Fall, wenn das Gericht des ersten Rechtszuges sich bei der Tatsachenfeststellung an die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO gehalten hat und das Berufungsgericht keinen Anlass sieht, vom Ergebnis der Beweiswürdigung abzuweichen (Senat, Urteil vom 11. März 2004 - 12 U 285/02 - DAR 2004, 387 = VRS 106, 443 = KGR 2004, 282 = NZV 2004, 632).

Zweifel an der Richtigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen im Sinne des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO liegen nicht vor, wenn zwar der Berufungskläger die Beweiswürdigung des Gerichts des ersten Rechtszuges angreift, dieses sich aber an die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO gehalten hat und das Berufungsgericht keinen Anlass sieht, von dieser Beweiswürdigung im Ergebnis abzuweichen (Senat, Urteil vom 8. Januar 2004 - 12 U 184/02 -KGR 2004, 269).

§ 286 ZPO fordert den Richter auf, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Das bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze, an Erfahrungssätze sowie ausnahmsweise an gesetzliche Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf. So darf er beispielsweise einer Partei mehr glauben als einem beeideten Zeugen oder trotz mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil einer Beweisbehauptung feststellen (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 25. Aufl., § 286 Rn 13; Senat, Urteil vom 24. Januar 2002 - 12 U 4324/00 - NZV 2004, 355).

Das Gericht ist andererseits aber auch verpflichtet, den ihm gewährten Freiraum auszuschöpfen und alle Erkenntnisquellen der Beweiswürdigung(Parteivortrag, Prozessverhalten, Ergebnis der Beweisaufnahme, Erfahrungssätze sowie beigezogene Akten und Unterlagen) im Rahmen einer Gesamtschau zu würdigen; die unvollständige Beweiswürdigung verstößt gegen § 286 ZPO (BGH NJW 1998, 3197, 3198). Ferner sind die leitenden Gründe und wesentlichen Gesichtspunkte für die Überzeugungsbildung nachvollziehbar im Urteil darzustellen (BGH NJW 1991, 1894).

b) An die dargelegten Grundsätze der freien Beweiswürdigung hat sich das Landgericht in dem angegriffenen Urteil gehalten. Es ist nach Auffassung des Senats zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger nicht bewiesen hat, dass sich der Unfall (nur) auf dem rechten Fahrstreifen ereignet hat, ohne, dass der an das Fahrzeug des Klägers angehängte Bauaufzug über den rechten Fahrstreifen hinaus in den mittleren Fahrstreifen hineingeragt hätte.

Der Zeuge Hnnn hat hierzu angegeben, dass ein derartiges Hineinragen gar nicht möglich sei. Diese Angabe ist von dem Sachverständigen Wnnnn in seinem für das Gericht gefertigten Gutachten widerlegt worden. Dass der Zeuge Hnnn gesehen habe, dass der angehängte Bauaufzug tatsächlich mit keinem seiner Teile in den mittleren Fahrstreifen hineingeragt habe, ist seiner Aussage nicht zu entnehmen. Auf Seite 3 des Vernehmungsprotokolls vom 26.7.2004, Bl. 133 Bd. I der Akte, hat der Zeuge vielmehr lediglich angegeben, dass er meine, dass der Hänger nicht ausgeschwenkt sei.

Auch die Zeugen Knnnn und Bnn konnten keine gesicherten Angaben dazu machen. Der Zeuge Knnnnn hat zur Frage des Ausschwenkens des Hängers keine Aussage getroffen, Seite 2 des Vernehmungsprotokolls vom 20.10.2004, Bl. 152 Bd. I der Akten, der Zeuge Bnn hat hierzu auf Seite 5 des genannten Vernehmungsprotokolls sogar angegeben, dass es nach seiner Auffassung sein könne, dass der Hänger bei dem Abbiegevorgang in die Mittelspur hineingeragt habe bzw. er davon ausgehe, dies aber nicht gesehen habe.

Wenn das Landgericht unter Berücksichtigung dieser Zeugenaussagen davon ausgeht, dass es dem Kläger nicht gelungen sei zu beweisen, dass der Bauaufzug nicht in die mittlere Spur ausgeschert sei, so ist dies nicht zu beanstanden.

c) Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang aber auch noch auf Folgendes:

Der Sachverständige Wnnnn hat auf Seite 12 seines Gutachtens vom 29.11.2005, Bl. 12 Bd. II der Akten, ausgeführt:

"Nach beiden Schilderungen ist es somit nicht zu einer seitlichen Bewegung des Mercedes-Benz nach rechts zum klägerischen Bauaufzug hin gekommen. Aus fahrtechnischer Sicht kann es demnach nur durch ein Ausschwenken des hinteren Leiterteils des Bauaufzuges nach links infolge der Rechtsbogenfahrt des Gespanns beim Einbiegen auf das Tankstellengelände zu der seitlichen Annäherung gekommen sein."

Sofern sich der Beklagte zu 2) jedoch mit seinem Fahrzeug hinter dem klägerischen Fahrzeug befunden hatte, ist nicht ersichtlich, wie der Unfall durch ein Ausschwenken des Aufzuges hätte verursacht werden sollen.

Letztlich kommt es entscheidend jedoch darauf an, dass der Unfall unstreitig geschah, als der klägerische Fahrer in ein Grundstück abgebogen ist. Hierfür gelten folgende Grundsätze:

Im Hinblick auf die dem Abbiegenden gemäß § 9 Abs. 5 StVO abverlangte äußerste und gegenüber den Absätzen 1 bis 4 nochmals erhöhte Sorgfaltspflicht, trägt der in ein Grundstück Abbiegende die Gefahr nahezu allein (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 9 StVO, Rn 44.) Dabei muss die Sorgfalt den gesamten entgegenkommenden und nachfolgenden Verkehr einbeziehen, wofür der Abbiegende die Verantwortung praktisch allein trägt (vgl. Hentschel, aaO., Rn 52).

Deshalb spricht der Anscheinsbeweis gegen den Abbiegenden. Er haftet allein, wenn er dem anderen einen Fahrfehler nicht nachweist (siehe OLG Düsseldorf, Urteil vom 20. Februar 2006 - 1 U 137/05 -, NZV 2006, 415).

Dies ist dem Kläger auch unter Berücksichtigung der Aussagen der Zeugen Hnnn , Knnnn und Bnn nicht gelungen.

Auch spricht gegen den Beklagten zu 2) als Nachfolgenden seinerseits kein Anscheinsbeweis, da es sich vorliegend nicht um einen typischen Auffahrunfall handelt. Der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden wird nämlich nicht allein durch den bloßen Zusammenstoß mit dem Vorausfahrenden begründet (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 25.9.2003 - 12 U 34/02 -). Er kann vielmehr nur dann eingreifen, wenn bei den Fahrzeugen jedenfalls eine Teilüberdeckung von Heck und Front vorliegt (vgl. Senat, VM 1996 Nr.8; VM 2004 Nr.26), was hier bereits nicht der Fall ist, da bei dem streitgegenständlichen Zusammenstoß die rechte Seitentür der Fahrerkabine des von dem Beklagten zu 2) gefahrenen Lkw und das linke hintere Seitenteil des angehängten Bauaufzuges beschädigt wurden.

Zudem hat das Landgericht nach der erstinstanzlichen Beweisaufnahme festgestellt, dass der Kläger nicht bewiesen hat, dass der Beklagte zu 2) sich vor dem Unfall noch in derselben Fahrspur hinter dem klägerischen Fahrzeug befunden habe.

Nach alledem wird anheimgestellt, die weitere Durchführung der Berufung zu überdenken.



Ende der Entscheidung

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