Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 08.06.2006
Aktenzeichen: 15 W 31/06
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 42 Abs. 2
ZPO § 318
ZPO § 572 Abs. 1 S. 2
1. Die Besorgnis der Befangenheit im Sinne von § 42 Abs. 2 ZPO ist begründet, wenn richterliche Entscheidungen sich so weit von den anerkannten rechtlichen - insbesondere verfassungsrechtlichen - Grundsätzen entfernen, dass sie aus Sicht der Parteien nicht mehr verständlich sind und dadurch den Eindruck einer willkürlichen Einstellung des Richters erwecken

2. Die unter Verstoß gegen §§ 318, 572 Abs. 1 S. 2 ZPO erfolgte nachträgliche Abänderung der Kostenentscheidung eines Urteils durch den erkennenden Richter ist objektiv willkürlich und begründet die Besorgnis der Befangenheit.


Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 15 W 31/06

In dem Rechtsstreit

hat der 15. Zivilsenat des Kammergerichts durch Präsidentin des Kammergerichts Nöhre, den Richter am Kammergericht Dr. Vossler und die Richterin am Amtsgericht Selting am 8. Juni 2006 beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 27. März 2006 - nnnnnn - aufgehoben und das Ablehnungsgesuch des Klägers vom 15. Februar 2006 gegen den Vorsitzenden Richter am Landgericht Gnnn für begründet erklärt.

Gründe:

I.

Der Kläger nimmt die beklagte Notarin wegen einer behaupteten Amtspflichtsverletzung auf Schadensersatz in Anspruch. Nach einer Streitverkündung durch den Kläger ist die Nebenintervenientin dem Rechtsstreit beigetreten, ohne zunächst mitzuteilen, welche Partei mit dem Beitritt unterstützt werden soll. In der mündlichen Verhandlung, auf die das Urteil ergangen ist, hat sich die Nebenintervenientin dem Klageabweisungsantrag der Beklagten angeschlossen. Mit Urteil vom 23.11.2005 hat das Landgericht durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht Gnnn die Klage abgewiesen. In dem Urteil werden die Kosten des Rechtsstreits dem Kläger auferlegt, hiervon ausgenommen sind aber die Kosten der Nebenintervention, welche durch die Streithelferin selbst getragen werden sollten. Zur Begründung wird in den Entscheidungsgründen ausgeführt, dass ungeachtet des Umstands, dass sich die Nebenintervenientin dem Klageabweisungsantrag der Beklagten angeschlossen habe, von einem Beitritt der Streithelferin auf Seiten des Klägers auszugehen sei, da ihr dieser den Streit verkündet habe.

Die Streithelferin hat gegen die Kostenentscheidung des Urteils u. a. ein von ihr als Beschwerde bezeichnetes Rechtsmittel beim Landgericht Berlin eingelegt. Dieser Beschwerde hat der abgelehnte Richter mit Beschluss vom 31.01.2006 abgeholfen und die Kostenentscheidung des verkündeten Urteils dahin abgeändert, dass die Kosten der Streithelferin ebenfalls vom Kläger zu tragen sind. Zur Zulässigkeit der Beschwerde wird in dem Beschluss folgender Satz ausgeführt: "Die Beschwerde ist analog §§ 91a Abs. II, 99 Abs. II ZPO zulässig (Zöller-Herget, ZPO, 25 Auflage, Rdnr. 9 zu § 101 ZPO)." Es folgt eine kurze Begründung, weshalb die Kosten der Nebenintervention - entgegen den Ausführungen in den Entscheidungsgründen des verkündeten Urteils - doch von dem Kläger zu tragen seien.

Nach Bekanntgabe dieser Entscheidung hat der Kläger hiergegen seinerseits Beschwerde erhoben, die Fortführung des Verfahrens nach § 321a ZPO beantragt und den erkennenden Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Den Befangenheitsantrag hat das Landgericht mit Beschluss vom 27.03.2006, der dem Kläger am 05.04.2006 zugestellt worden ist, zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, dass das Ablehnungsverfahren nicht dazu diene, richterliche Rechtsauffassungen einer Überprüfung zu unterziehen. Im Übrigen könne auch nicht von einer willkürlichen Entscheidung ausgegangen werden, da sich der abgelehnte Richter in dem Abhilfebeschluss vom 31.01.2006 mit der Zulässigkeit der Beschwerde auseinandergesetzt habe. Gegen den das Ablehnungsersuchen zurückweisenden Beschluss wendet sich der Kläger mit seiner am 13.04.2006 eingegangenen Beschwerde, der das Landgericht nicht abgeholfen hat.

II.

1. Die sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 46 Abs. 2, 567 ff. ZPO zulässig, insbesondere ist das Rechtsmittel gemäß § 569 Abs. 1 und 2 ZPO form- und fristgerecht erhoben. Ferner ist auch das für die Beschwerde notwendige Rechtsschutzinteresse zu bejahen. Zwar geht der Senat mit der wohl herrschenden Meinung in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass mit dem vollständigen Abschluss der Instanz unter Mitwirkung des abgelehnten Richters das Rechtsschutzinteresse für ein Ablehnungsersuchen und damit auch für eine Beschwerde jedenfalls dann entfällt, wenn gegen die Entscheidung in der Hauptsache ebenfalls ein Rechtsmittel statthaft ist (Beschluss vom 25.04.2004 - 15 W 73/04, KGR Berlin 2004, 554; Beschluss vom 05.11.2004 - 15 W 105/04, MDR 2005, 890 jeweils mit weiteren Nachweisen). Allerdings gilt dies nur dann, wenn der abgelehnte Richter in der gleichen Instanz nicht noch einmal mit der gleichen Sache befasst werden kann. Dies ist vorliegend schon deshalb nicht der Fall, weil noch eine Entscheidung über die vom Kläger erhobene Anhörungsrüge nach § 321a ZPO zu treffen ist, für die der abgelehnte Richter ebenfalls zuständig wäre.

2. Darüber hinaus hat das Rechtsmittel auch in der Sache Erfolg. Das Landgericht hat das Ablehnungsgesuch gegen den Vorsitzenden Richter am Landgericht Gnnn mit einer im Ergebnis nicht tragfähigen Begründung zurückgewiesen. Das Ersuchen des Klägers ist zulässig, insbesondere entspricht es den in §§ 43, 44 ZPO genannten Form- und Fristerfordernissen Da darüber hinaus auch hinreichende Gründe im Sinne von § 42 Abs. 2 ZPO vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten Richters zur rechtfertigen, war das Ablehnungsersuchen auf die Beschwerde des Beklagten für begründet zu erklären.

Die Besorgnis der Befangenheit im Sinne des § 42 Abs. 2 ZPO ist zu bejahen, wenn aus der Sicht des Ablehnenden die Unparteilichkeit des Richters nicht mehr gewährleistet erscheint. Für diese Besorgnis müssen Gründe vorliegen, die objektiv, d.h. bei vernünftiger Betrachtung vom Standpunkt des Ablehnenden geeignet sind, Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters zu wecken. Für die Frage, welche Gründe es rechtfertigen, an der gebotenen Objektivität des Richters zu zweifeln, kann nur ein objektiver Maßstab gelten (KG, MDR 2001, 107 f.). Nicht erforderlich ist hingegen, dass der Richter tatsächlich befangen ist; ebenso unerheblich ist es, ob er sich für befangen hält. Entscheidend ist allein, ob aus Sicht des Ablehnenden genügend objektive Gründe vorliegen, die aus Sicht einer ruhig und vernünftig denkenden Partei Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Juli 2004 - 15 W 80/04; Zöller/Vollkommer, ZPO, 25. Aufl., § 42 Rdnr. 9 m. w. N.).

Nach allgemeiner Auffassung kann die Ablehnung - wie das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausführt - grundsätzlich nicht erfolgreich auf die Verfahrensweise oder die Rechtsauffassung eines Richters gestützt werden. Denn im Ablehnungsverfahren geht es allein um die Parteilichkeit des Richters und nicht um die Richtigkeit seiner Handlungen und Entscheidungen, deren Überprüfung allein den Rechtsmittelgerichten vorbehalten ist. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist indessen dann geboten, wenn die Gestaltung des Verfahrens oder die Entscheidungen des Richters sich so weit von den anerkannten rechtlichen - insbesondere verfassungsrechtlichen - Grundsätzen entfernen, dass sie aus Sicht der Partei nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar erscheinen und dadurch den Eindruck einer willkürlichen oder doch jedenfalls sachfremden Einstellung des Richters erwecken. (KGR Berlin, 2005, 140, OLGR Schleswig 2006, 55; Zöller/Vollkommer, a. a. O., § 42 Rdnr. 9, 24, 28 m. w. N.).

3. Die Voraussetzungen eines solchen Ausnahmefalls sieht der Senat im vorliegenden Fall als erfüllt an. Durch seinen Beschluss vom 31.01.2006 hat sich der abgelehnte Richter objektiv über die Grenzen des § 318 ZPO hinweg gesetzt. Das in der genannten Vorschrift normierte Abänderungsverbot hat eine lange rechtsstaatliche Tradition und gehört zum Kernbestand der überlieferten Prozessgrundsätze. Mit der Verkündung eines Urteils wird die vom Gericht getroffene Entscheidung des Rechtsstreits existent und nach außen wirksam. Die Autorität, auf die die Gerichte bei der Erfüllung ihrer Aufgaben angewiesen sind, und das Vertrauen, das die Bürger der Rechtsprechung entgegen bringen, verlangen, dass die abschließende Entscheidung eines Gerichts einen definitiven Charakter besitzt und allenfalls durch eine Rechtsmittelinstanz aufgehoben oder geändert werden kann (MünchKomm/Musielak, 2. Aufl., § 318 Rdnr. 1). Das Abänderungsverbot des § 318 ZPO gilt unbestrittenermaßen für alle Teile des Urteilsausspruchs einschließlich der Kostenentscheidung. Soweit die Kostenentscheidung entgegen § 99 Abs. 1 ZPO ausnahmsweise isoliert mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar ist, bliebt dem erkennenden Richter gemäß § 572 Abs. 1 Satz 2 ZPO eine Abhilfe dennoch ausdrücklich verboten (vgl. Musielak/Ball, ZPO, 4. Aufl., § 572 Rdnr. 10).

Die Nichtbeachtung des Abänderungsverbots durch den abgelehnten Richter stellt sich - entgegen der Auffassung des Landgerichts - als objektiv willkürliche Entscheidung dar. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Richterspruch willkürlich, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich (vgl. BVerfGE 4, 1 [7] = NJW 1954, 1153; BVerfGE 80, 48 [51] = NJW 1989, 1917; st. Rspr.). Fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung hingegen nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird (vgl. etwa BVerfGE 62, 189 [192] = NJW 1983, 809; BVerfGE 83, 82 [85 ff.] = NJW 1991, 157; BVerfGE 86, 59 [62 ff.] = NJW 1992, 1675). Von willkürlicher Missdeutung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt (BVerfG, NJW 1993, 996 [997]).

Der Abhilfebeschluss vom 31.01.2006 erfüllt die Voraussetzungen einer objektiv willkürlichen Entscheidung in dem oben genannten Sinne. Dies folgt freilich nicht in erster Linie aus dem - in der angefochtenen Entscheidung des Landgerichts ausführlich erörterten - Umstand, dass der abgelehnte Richter eine isolierte Beschwerde gegen die in dem verkündeten Urteil enthaltene Kostenentscheidung mit Hinweis auf eine ersichtlich nicht einschlägige Kommentarstelle für zulässig gehalten hat. Wenngleich darauf hinzuweisen ist, dass das Bundesverfassungsgericht in ähnlichen Konstellationen bereits einen Verstoß gegen das Willkürverbot angenommen hat (vgl. etwa BVerfG, NJW 1995, 2911). Ausschlaggebend ist vielmehr, dass der abgelehnte Richter die Entscheidung über die Beschwerde nicht dem Rechtsmittelgericht überlassen hat, sondern sich für berechtigt hielt, das von ihm verkündete Urteil selbst abzuändern. Für diesen Verstoß gegen das in §§ 318 und 572 Abs. 1 Satz 2 ZPO normierte Abänderungsverbot fehlt im Nichtabhilfebeschluss jeder Ansatz einer Begründung.

Soweit das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung darauf hinweist, es sei nicht erkennbar, dass der abgelehnte Richter seine Kompetenzen bewusst zum Nachteil des Klägers missbraucht habe, um eine als falsch erkannte Entscheidung nachträglich zu korrigieren, mag dies zutreffen. Allerdings ist ein bewusster Gesetzesverstoß auch gar nicht erforderlich, um die Besorgnis der Befangenheit im Sinne des § 42 Abs. 2 ZPO zu rechtfertigen. Wie bereits ausgeführt gilt insoweit ebenso wie für das verfassungsrechtliche Willkürverbot ein objektiver Maßstab. Schuldhaftes oder gar vorsätzliches Handeln des Richters ist deshalb nicht erforderlich. Es genügt vielmehr, wenn bei vernünftiger Betrachtung vom Standpunkt der ablehnenden Partei Gründe vorliegen, die an der Unvoreingenommenheit des Richters zweifeln lassen, was nach Auffassung des Senats vorliegend unter Berücksichtigung aller Umstände nicht ausgeschlossen werden kann.

Eine Kostenentscheidung hatte der Senat nicht zu treffen. Gerichtskosten sind nicht angefallen, da die Beschwerde nicht verworfen oder zurückgewiesen wurde (Nr. 1811 KV-GKG). Die außergerichtlichen Kosten der erfolgreichen Beschwerde gelten als Kosten des Rechtsstreits, über die erst mit Abschluss des Verfahrens zu entscheiden ist (vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 27 Aufl., Rdnr. 9; Stein/Jonas/Bork, ZPO, 22. Aufl., § 46 Rdnr. 10).



Ende der Entscheidung

Zurück