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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 06.03.2007
Aktenzeichen: 2/5 Ws 246/06 REHA
Rechtsgebiete: StrRehaG


Vorschriften:

StrRehaG § 1 Abs. 1
StrRehaG § 2 Abs. 1
StrRehaG § 2 Abs. 2
Nur die Einweisungen in den "Geschlossenen Jugendwerkhof (GJWH) Torgau" waren unabhängig von den Gründen für die Anordnung regelmäßig mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar. Der Beschluß des Senats vom 15. Dezember 2004 - 5 Ws 169/04 REHA - (ZOV 2005, 289 = NJ 2005, 469) läßt sich auch dann nicht auf einen der anderen Jugendwerkhöfe der ehemaligen DDR übertragen, wenn die tatsächlichen Unterbringungsverhältnisse denen in Torgau gleichkommen.
KAMMERGERICHT Beschluß

Geschäftsnummer: 2/5 Ws 246/06 REHA

In der Rehabilitierungssache betreffend

hat der 2. (ehemals 5.) Strafsenat - Beschwerdesenat für Rehabilitierungssachen - des Kammergerichts in Berlin am 6. März 2007 beschlossen:

Tenor:

Der Antrag des Betroffenen, ihm für seine Beschwerde gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin - Rehabilitierungskammer - vom 20. Februar 2006 Prozeßkostenhilfe unter Beiordnung des Rechtsanwalts J... K..., ...straße 107a, zu gewähren, wird abgelehnt.

Die Beschwerde des Betroffenen gegen den vorbezeichneten Beschluß wird verworfen.

Kosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben. Notwendige Auslagen werden nicht erstattet (§ 14 Abs. 1, Abs. 4 StrRehaG, § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Gründe:

Der Betroffene begehrt die strafrechtliche Rehabilitierung im Hinblick auf seine Einweisung in den Jugendwerkhof Gerswalde-Suckow (nicht: Geerswalde-Sukow) in der Uckermark in der Zeit vom 15. April 1975 bis zum 30. November 1976, wo er nach einem Fluchtversuch in die "geschlossene Abteilung für Schwererziehbare" dieses Jugendwerkhofs eingeliefert worden sei. Seinem Vorbringen zufolge sei das (wahrscheinlich, vgl. S. 2 des Schriftsatzes vom 3. Juni 2005) von dem Ministerium für Volksbildung, Abteilung Jugendhilfe, Sektor Heimerziehung der ehemaligen DDR angeordnet worden, das seinen Sitz in Berlin (Ost) hatte. Die Einweisungs- und Verfahrensakten sind unauffindbar geblieben. Wegen des weiteren antragsbegründenden Vorbringens verweist der Senat auf die Darstellung in dem angefochtenen Beschluß. Die Rehabilitierungskammer des Landgerichts Berlin hat den Antrag abgelehnt. Die Beschwerde (§ 13 Abs. 1 StrRehaG), hat ebenso wie sein Antrag auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe für das Rechtsmittel keinen Erfolg.

I. Prozeßkostenhilfe wird im Rehabilitierungsverfahren unter denselben Voraussetzungen gewährt wie im Verfahren nach der ZPO (§ 7 Abs. 4 Satz 4 StrRehaG). Der Antrag war abzulehnen, weil die Beschwerde aus den nachfolgend unter II. aufgeführten Gründen keine Aussicht auf Erfolg bietet (§ 114 Satz 1 ZPO).

Das Prozeßkostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern den Zugang dazu ermöglichen; daher darf die Rechtsverfolgung oder -verteidigung nicht in das Prozeßkostenhilfeverfahren vorverlagert werden (vgl. Senat, Beschluß vom 22. März 2006 - 5 Ws 70/06 Vollz -; Fischer in Musielak, ZPO 4. Auflage, § 114 Rdn. 20). Insbesondere ist die Durchentscheidung schwieriger und ungeklärter Rechtsfragen im Prozeßkostenhilfeverfahren wegen der damit verbundenen Benachteiligung unbemittelter Rechtsschutzsuchender verfassungsrechtlich unzulässig (vgl. BVerfG NJW 2000, 1936, 1937). Gleichwohl war vorliegend die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren nicht geboten. Denn die Rechtslage ist eindeutig, und die Beschwerde wirft keine Rechtsfrage auf, die eine Klärung erforderte.

II. 1. a) Es ist obergerichtlich geklärt, daß es sich bei Einweisungen in einen Jugendwerkhof durch die Jugendgerichte, den Jugendhilfeausschuß, den Rat des Kreises oder das Ministerium für Volksbildung um behördliche Entscheidungen im Sinne des § 2 StrRehaG handelt, die einer Rehabilitierung grundsätzlich zugänglich sind. Denn mit der Einweisung in einen Jugendwerkhof ist eine Freiheitsentziehung im weiteren Sinne angeordnet worden (vgl. OLG Naumburg OLG-NL 1996, 70-71 = NJ 1996, 157 = VIZ 1996, 303; Senat ZOV 2005, 289 = NJ 2005, 469; VIZ 1997, 663; Beschluß vom 27. Mai 2003 - 5 Ws 102/03 REHA -).

b) Das Landgericht hat auch seine Zuständigkeit im Ergebnis zu Recht angenommen. Zwar ist es sehr zweifelhaft, daß die Vermutung des Antragstellers zutrifft, die Einweisung des Betroffenen sei vom Ministerium für Volksbildung angeordnet worden. Wie unter II. 1 ausgeführt, wies nicht nur das Ministerium für Volksbildung die Jugendlichen in die aufgrund von § 2 Abs. 1 Nr. 3 der Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe vom 22. April 1965 (GBl. DDR II 1965, 368) errichteten Jugendwerkhöfe ein. Das ist dem Senat aus der Befassung mit Jugendwerkhöfen betreffenden Rehabilitierungssachen bekannt und folgt auch aus § 5 Abs. 3 in Verbindung mit § 4 der vorbezeichneten Anordnung, in denen die Jugendwerkhöfe den Räten der Bezirke unterstellt sind und auch die Entlassung den örtlichen Organen der Jugendhilfe zugewiesen ist. Die bei dem Ministerium für Volksbildung ressortierende Zentralstelle für Spezialheime der Jugendhilfe hatte übergeordnete Aufgaben (§ 3 Abs. 2, § 5 Abs. 1). Diese Sonderzuständigkeit, auch die Aufnahme im Einzelfall anzuordnen, hatte sich das Ministerium in § 2 Abs. 3 Satz 4 ausschließlich für den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau vorbehalten (vgl. Senat ZOV 2005, 289 = NJ 2005, 469). Unmittelbar zuständig war sie für diesen sowie für Aufnahmeheime (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 und Sonderheime (§ 2 Abs. 1 Nr. 4). Die den Antragsteller betreffende Anordnung, ihn nicht in Torgau, sondern in einem in der Uckermark gelegenen Jugendwerkhof unterzubringen, kann daher entgegen der Antragsschrift (S. 3, 5) nicht vom Ministerium herrühren. Da der Betroffene indes in Berlin wohnte und "das Jugendamt" ihn in den Werkhof eingewiesen habe (vgl. Gutachten Dr. Straube, S. 5), ist es sehr wahrscheinlich, daß eine Berliner Behörde diese Entscheidung getroffen hat. Auch die Einweisung in die "geschlossene Abteilung für Schwererziehbare" muß nicht vom Ministerium herrühren, da sie nicht den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau betraf. Die Zuständigkeit dürfte eher beim für Gerswalde zuständigen Bezirk gelegen haben. Eine nähere Aufklärung ist nicht möglich, da Akten nicht zur Verfügung stehen. Da aber ein Gerichtsstand zur Verfügung stehen muß, ist es richtig, von der wahrscheinlichsten Möglichkeit auszugehen. Das ist die Einweisung durch eine örtliche Berliner Behörde.

c) Es ist anerkannten Rechts, daß die Unterbringung eines Jugendlichen in einem Jugendwerkhof der ehemaligen DDR in der Regel keine rehabilitierungsfähige Freiheitsentziehung im Sinne der StrRehaG §§ 1 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 , 2 Abs. 1 S. 2 darstellt, wenn nicht erkennbar ist, daß die Einweisung im Einzelfall sachfremden Zwecken gedient hat (vgl. OLG Naumburg aaO; Senat VIZ 1997, 663). Eine Ausnahme hat der Senat ausschließlich für den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau angenommen, weil diesem unter den Jugendwerkhöfen eine Sonderstellung als außerordentliches Disziplinierungsmittel zukam (vgl. Senat ZOV 2005, 289 = NJ 2005, 469).

2. Die Beschwerde versucht, die Entscheidung des Senats zum Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau auf den Jugendwerkhof Gerswalde-Suckow anzuwenden, indem sie tatsächliche Umstände behauptet, die in der Verletzung der Menschenrechte denen in Torgau nicht nachgestanden hätten. In diesem Zusammenhang wirft sie der Rehabilitierungskammer vor, sie habe den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt, weil sie nicht weiter nach Akten gesucht und keine - aus dem Internet (www.jugendwerkhof.info) erkennbaren Zeugen gehört habe. Diese Angriffe gehen fehl.

a) Weitere Ermittlungen zu der Frage, ob sich der Betroffene überhaupt in dem Jugendwerkhof Gerswalde-Suckow befunden hat, brauchte die Kammer nicht anzustellen, da sie diesen Teil des Vorbringens aufgrund eines 1985 über den Betroffenen erstellten psychiatrischen Gutachtens ohnehin als glaubhaft gemacht ansah. Im Beschwerdeverfahren hat der Verfahrensbevollmächtigte eine Bestätigung des mittlerweile vom Jugendhilfeverbund in der Uckermark geführten Jugendheims Gerswalde nachgereicht, aus der sich ergibt, daß sich der Betroffene dort in der fraglichen Zeit aufgehalten hat, Akten aber nicht mehr vorhanden sind.

b) Wegen des Grundes der Einweisung mußte die Kammer ebenfalls nichts mehr ermitteln. Denn der Verfahrensbevollmächtigte hatte diesen in dem das Verfahren einleitenden Antrag (S. 3) selbst vorgetragen: Danach wurde der Betroffene wegen "Arbeitsbummelei" und wegen "strafbarer Handlungen" untergebracht.

c) Die Auffassung, die Einweisung in einen beliebigen der 54 (vgl. die Aufstellung auf der Website www.jugendwerkhof.info/suche.jugendwerkhof.php) Jugendwerkhöfe der ehemaligen DDR sei auch dann ohne Ansehen des Einweisungsgrundes als rechtsstaatswidrig anzusehen, wenn die tatsächlichen Unterbringungsverhältnisse denen in Torgau gleichkämen, geht fehl. Die von der Beschwerde verlangte Aufklärung durch die Vernehmung in Gerswalde-Suckow untergebrachter anderer Jugendlichen ist nicht geboten, da sie zur Entscheidung des Falles nichts beitragen könnte.

Der Beschluß des Senats vom 15. Dezember 2004 - 5 Ws 169/04 REHA - (ZOV 2005, 289 = NJ 2005, 469) ist keineswegs nur darauf gestützt, daß jeder Untergebrachte dort menschenunwürdig behandelt worden ist - also auf eine rein tatsächliche Betrachtungsweise, wie es die Generalstaatsanwaltschaft und ihr folgend das Landgericht mit der Formulierung, der Entscheidung des Senats liege eine "Behauptung" zugrunde, anzunehmen scheinen. Dieser Umstand allein könnte auch nicht das Verdikt des Systemunrechts begründen, das dazu geführt hat, daß der Senat die Einweisung in diesen - und keinen anderen - Werkhof unter die rechtsstaatswidrigen Maßnahmen nach § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG eingeordnet hat. Menschenrechtswidrige Gewaltakte kamen ausweislich der neueren Forschung in Deutschland nicht nur in Jugendheimen der DDR vor; rechtsstaatswidrig waren sie dadurch noch nicht.

Vielmehr gründet sich die Sonderstellung Torgaus, die schon aus seiner in § 2 Abs. 3 der Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe gewählten exklusiven Stellung hervorgeht, auf seine Eigenschaft, dem staatlichen Plan zufolge allen anderen 53 Jugendwerkhöfen (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 der vorbezeichneten Anordnung) als übergeordnete Disziplinareinrichtung für diejenigen Jugendlichen zu dienen, die sich der Anpassung an das System verweigert hatten (§ 2 Abs. 3 Satz 1). Ausschließlich dieser Werkhof trug die Bezeichnung "Geschlossener Jugendwerkhof" (GJWH). Nur für ihn hatte sich das Ministerium für Volksbildung die Zuweisungsentscheidung vorbehalten (§ 2 Abs. 3 Satz 4). Ein irgendwie geartetes Verfahren, in dem der Jugendliche - auch nur minimale - Rechte geltend machen konnte, fehlte. Die Überführung nach Torgau geschah ohne seine und seiner Eltern vorherige Benachrichtigung in einer Art "Nacht- und Nebel-Aktion" (BA S. 11, 17 des vorbezeichneten Beschlusses). Die Unterbringung begann - unabhängig von dem Verhalten des Jugendlichen - stets mit einem dreitägigen Isolierungsarrest (BA S. 12). Hingegen hatte die Isolierung im Arrest in anderen Werkhöfen immer einen konkreten disziplinarischen Anlaß; vor ihrer Anordnung war "stets sorgfältig zu überlegen, welche Wirkung und Reaktion diese Maßnahme beim Minderjährigen auslösen wird" (Anordnung über die zeitweilige Isolierung von Minderjährigen aus disziplinarischen Gründen in den Spezialheimen der Jugendhilfe vom 1. Dezember 1967). Wegen der gewollt besonderen Härte und Menschenverachtung der "Erziehung" (BA S. 12 ff., 15) war der Aufenthalt ausschließlich in Torgau von vornherein auf sechs Monate begrenzt (§ 2 Abs. 3 Satz 3 der Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe).

Bezeichnend für den Sonderstatus ist es auch, daß nur diese Einrichtung am 3. November 1989 kurz vor der "Wende" kurzerhand aufgelöst wurde und deren Insassen in die übrigen Jugendwerkhöfe, die zunächst bestehen blieben, zurückgeführt wurden. Gerade das Ineinandergreifen völliger rechtlicher und tatsächlicher Entmündigung des jungen Menschen in einer von den Machthabern gewollt als einsame Spitze der Jugenderziehungseinrichtungen konzipierten Zwangsanstalt rechtfertigt die fallunabhängige Bewertung der Einweisung in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau als Systemunrecht.

III. Die Entscheidung entspricht im Ergebnis dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Berlin.

Die Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen beruht auf § 14 Abs. 1, 4 StrRehaG, § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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