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Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 29.05.2008
Aktenzeichen: 2 AR 20/08
Rechtsgebiete: ZPO
Vorschriften:
ZPO § 29c Abs. 1 Satz 2 | |
ZPO § 281 Abs. 2 Satz 4 |
2) Zur ausnahmsweisen Verweisung der Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO wegen richterlicher Willkür.
Kammergericht Beschluss
Geschäftsnummer: 2 AR 20/08
In Sachen
hat der 2. Zivilsenat des Kammergerichts am 29. Mai 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Kammergericht Dr. Hawickhorst und die Richter am Kammergericht Dittrich und Dr. Glaßer
beschlossen:
Tenor:
Das Landgericht Waldshut-Tiengen wird als das örtlich zuständige Gericht bestimmt.
Gründe:
I.
Das Landgericht Berlin und das Landgericht Waldshut-Tiengen streiten über die örtliche Zuständigkeit für ein Verfahren, in welchem die Klägerin - ein geschlossener Immobilienfonds - die Beklagte - die (Mit-)Erbin eines zwischenzeitlich verstorbenen Fondsanlegers - auf Erfüllung von Nachschusspflichten in Anspruch nimmt. Der Fonds hat seinen Sitz in Berlin; die Beklagte hat ihren Wohnsitz, ebenso wie der Erblasser, in G (Baden-Württemberg). Die Klage wurde vor dem Landgericht Berlin erhoben. Zu den Voraussetzungen des Vorliegens eines Haustürgeschäftes im Sinne von § 29c Abs. 1 ZPO, § 312 BGB trug die Klägerin, auch nach gerichtlicher Auflage, nicht konkret vor. Die Klägerin hat in etwa 170 Parallelsachen ebenfalls Nachschusspflichten gegenüber Fondsanlegern vor dem Landgericht Berlin geltend gemacht. Mit mehrseitig begründetem Beschluss vom 18. Februar 2008 erklärte sich das Landgericht Berlin nach Anhörung der Parteien und auf Antrag beider Parteien für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das Landgericht Waldshut-Tiengen. Es ist der Auffassung, das Landgericht Waldshut-Tiengen sei gemäß § 29c Abs. 1 Satz 2 ZPO ausschließlich örtlich zuständig. Mit Beschluss vom 17. März 2008 lehnte das Landgericht Waldshut-Tiengen die Übernahme des Rechtsstreits ab. Es ist der Auffassung, das Landgericht Berlin sei gemäß § 22 ZPO zuständig; § 29c Abs. 1 Satz 2 ZPO greife nicht ein.
II.
1.
Das Kammergericht ist gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO zur Bestimmung des zuständigen Gerichtes berufen, nachdem sich die Landgerichte Berlin und Waldshut-Tiengen mit nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen für örtlich unzuständig erklärt haben.
2.
Das Landgericht Waldshut-Tiengen ist jedenfalls wegen der gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bindenden Wirkung des Verweisungsbeschlusses des Landgerichts Berlin örtlich zuständig.
a)
Nach § 281 Abs. 2 Satz 3 ZPO bewirkt der Verweisungsbeschluss im Grundsatz bindend die Unzuständigkeit des verweisenden Gerichtes und die Zuständigkeit des Gerichtes, an das verwiesen wird. Jedoch ist anerkannt, dass die Bindungswirkung ausnahmsweise dann entfällt, wenn die Verweisung auf Willkür beruht (vgl. nur BGH, NJW 2003, 3201 [3201]; Greger in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 281 Rdnr. 17 m.w.N.). Dabei ist Willkür nicht allein deshalb anzunehmen, weil die Frage der Zuständigkeit - aus Sicht des nach § 36 Abs. 1 ZPO zur Entscheidung berufenen, höheren Gerichtes oder aus Sicht der herrschenden Meinung in der Rechtsprechung - unzutreffend beantwortet wurde. Die Grenze zwischen der fehlerhaften, gleichwohl aber bindenden Entscheidung, und der willkürlichen Entscheidung ist allerdings u.a. dann überschritten, wenn das verweisende Gericht eine Norm, die seine Zuständigkeit begründet, zwar in den Entscheidungsgründen erörtert, die Verneinung des Eingreifens der Norm aber völlig unvertretbar ist.
b)
Die genannten Voraussetzungen für die Annahme von Willkür sind vorliegend nicht gegeben.
aa) Das Landgericht Berlin hat das Eingreifen des § 29c Abs. 1 Satz ZPO eingehend in den Gründen seines Verweisungsbeschlusses erörtert, ohne dass diese Erörterung etwa als unbeachtliche Scheinbegründung, die einen Akt richterlicher Willkür lediglich verbal bemäntelt, anzusehen wäre. Denn die Erörterung des Landgerichts Berlin folgt in ihrer Argumentationsstruktur anerkannten Regeln, setzt sich mit der Kernfrage, die sich bei Anwendung des § 29c Abs. 1 ZPO vorliegend stellte - nämlich der Frage, ob das Vorliegen einer Haustürsituation ggf. unter Zuhilfenahme von tatsächlichen Vermutungen zu bejahen war -, auseinander und legt auch ihrem Umfang nach eine ernsthafte Auseinandersetzung des Gerichts mit der Problematik nahe.
bb) Die Bejahung des § 29c Abs. 1 Satz ZPO mit der Folge der Verneinung einer sich etwaig aus §§ 22, 28 oder 29 ZPO ergebenden Zuständigkeit des Landgerichts Berlin war zumindest nicht völlig unvertretbar.
(1.) So ist im Ausgangspunkt - wie beide Landgerichte nicht verkennen - die Zuständigkeitsprüfung gemäß § 29c Abs. 1 Satz 2 ZPO von Amts wegen vorzunehmen, und zwar auf Grundlage des Sachvortrages des Klägers (Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2003, § 29c Rdnr. 14; Vollkommer in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 29c Rdnr. 9; allg. M.), der gerichtsbekannten Tatsachen (Roth in Stein/Jonas, a.a.O.) und des Sachvortrages des Beklagten, soweit dieser vom Kläger nicht bestritten wurde. Für letzteres spricht, dass gemäß § 138 Abs. 3 ZPO das Nichtbestreiten dem zustimmenden bzw. eigenen Sachvortrag der nichtbestreitenden Partei generell gleich steht und dass kein Grund dafür ersichtlich ist, warum im Rahmen der Prüfung der Zuständigkeitsnorm des § 29c Abs. 1 ZPO Abweichendes gelten sollte.
(2.) Auf dieser Grundlage ist vorliegend - wie beide Landgerichte wiederum zutreffend erkennen - nicht ohne weiteres anzunehmen, dass eine Haustürsituation vorlag, namentlich, dass der Erblasser mündlich im Bereich seiner Privatwohnung über den Fondsbeitritt verhandelt hat und diese Situation zumindest mitursächlich für den letztlich erklärten Beitritt war (§ 312 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB). Denn zum einen wird von keiner Parteien behauptet, dass in der Privatwohnung des Erblassers eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat. Zum anderen lassen die insofern relevanten Indizien - d.h. der Umstand, dass der Erblasser seiner Beitrittserklärung in seiner Wohnsitzgemeinde unterzeichnet hat, der Umstand, dass die Klägerin den Erblasser auf sein Widerrufsrecht gemäß § 312 BGB hingewiesen hat, der Umstand, dass in einer Reihe von Parallelverfahren die dortigen Beklagten substanziiert, unter Beweisantritt und wohl unbestritten eine Haustürsituation behauptet haben, und der Umstand, dass es zum Jahresende 1997 in der Wohnsitzgemeinde des Erblassers, G , ein Gespräch gegeben habe, bei dem Vertreter der Sparkasse B zu Zwecken der Steuerersparnis die Beteiligung an der Klägerin anboten (unbestrittener Vortrag der Beklagten im Schriftsatz vom 21. Mai 2007, Seite 4; Bl. 165 d.A.) - keinen zwingenden Schluss auf eine solche Verhandlung zu.
(3.) Soweit das Landgericht Berlin weiter meint, es reiche zur Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 29c Abs. 1 Satz 2 ZPO allerdings aus, wenn der o.g. Grundlage (Ziff. [1.]) eine tatsächliche Vermutung für das Vorliegen einer Haustürsituation zu entnehmen sei und der Kläger dieser Vermutung nicht substanziiert entgegen trete, ist dies vertretbar. Denn die Zulässigkeit der Zuhilfenahme von ungeschriebenen Beweiserleichterungen, wie z.B. tatsächliche Vermutungen, Anscheinsbeweise, Erfahrungssätze u.ä., bei der Subsumtion eines bestimmten Sachverhaltes unter eine Norm ist vielfach anerkannt (vgl. Greger in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, vor § 284 Rdnr. 25 ff.) und es ist im Fall des § 29c Abs. 1 Satz 2 ZPO keine gesetzliche Anordnung ersichtlich, die den Einsatz einer solchen Beweiserleichterung ausschlösse. Im Gegenteil kann sogar zu Gunsten der Anwendbarkeit von Beweiserleichterungen bei § 29c ZPO ins Feld geführt werden, dass in Rechtsprechung und Literatur eine "weite Auslegung" dieser Vorschrift zur Verbesserung des prozessualen Rechtsschutzes des Verbrauchers vertreten wird (so BGH NJW 2003, 1190 [1190], m.w.N.; Vollkommer in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 29c Rdnr. 1). Im Übrigen hat die Auffassung, wonach die Prüfung des § 29c ZPO auf der Grundlage des vom Kläger vorgetragenen oder nicht bestrittenen Sachverhaltes stattzufinden hat (s.o., Ziff. [1.]), die problematische Folge, dass, je nachdem, ob die Klage durch den Unternehmer oder den Verbraucher erhoben wird, die Zuständigkeit gemäß § 29c ZPO in aller Regel zu verneinen oder zu bejahen sein dürfte. Dieses Ergebnis steht in einem Spannungsverhältnis zu dem offenbaren Grundanliegen des § 29c ZPO, welches darin besteht, den Verbraucher zuständigkeitsrechtlich gegenüber dem Unternehmer zu begünstigen und dies ohne Einschränkung auch dann, wenn sich der Unternehmer in der Klägerrolle befindet. Letzteres ist dem Umstand zu entnehmen, dass in Fällen, in denen die Klage durch den Unternehmer erhoben wird, der nach § 29 Abs. 1 ZPO am Wohnsitz des Verbrauchers eröffnete Gerichtsstand nicht nur eine zusätzliche Alternative zu anderen Gerichtsständen ist (§§ 29 Abs. 1 Satz 1, 35 ZPO), sondern alle anderen Gerichtsstände ausschließt (§ 29c Abs. 1 Satz 2 ZPO). Es ist daher zumindest bedenkenswert, in Fällen, in denen sich - wie vorliegend - der Unternehmer in der Klägerrolle befindet, dem Gedanken des Verbraucherschutzes durch den Einsatz einer Beweiserleichterung Rechnung zu tragen. Schließlich spricht für das Gewähren einer Beweiserleichterung im vorliegenden Einzelfall, dass die Beklagte das etwaige Verbrauchergeschäft nicht selbst abgeschlossen hat, sondern lediglich Erbin des Fondszeichners ist, und die Zeichnung vor über 10 Jahren stattgefunden hat. Es kann daher von der Beklagten nur in Maßen verlangt werden, substanziiert zu den Umständen der Zeichnung vorzutragen, was dann ggf. - nach Ausbleiben eines (substanziiertem) Bestreitens durch die Klägerin - Gegenstand der Prüfung gemäß § 29c Abs. 1 ZPO sein könnte.
(4.) Soweit das Landgericht Berlin hieran anschließend feststellt, dass aus der o.g. Grundlage (Ziff. [1.]) eine tatsächliche Vermutung im o.g. Sinne (Ziff. [3.]) abzuleiten sei, ist dies zwar zweifelhaft, jedoch nicht völlig unvertretbar. Denn es dürfte in vielen Fällen so sein, dass die Zeichnung des Fondsbeitrittes unmittelbar im Anschluss an eine Beratungsgespräch vor Ort erfolgt (betr. den Umstand, dass der Erblasser seiner Beitrittserklärung in seiner Wohnsitzgemeinde unterzeichnet hat). Auch wird es ein Unternehmer schon im eigenen Interesse zumeist vermeiden, seine Kunden auf Widerrufsrechte hinzuweisen, wenn diese in Wahrheit gar nicht bestehen (betr. den Umstand, dass die Klägerin den Erblasser auf sein Widerrufsrecht gemäß § 312 BGB hingewiesen hat). Zudem gibt die Vortragslage in den Parallelverfahren zu erkennen, dass der Klägerin der Vertrieb der Fondsanteile in Form von Haustürgeschäften nicht grundsätzlich fern lag (betr. den Umstand, dass in einer Reihe von Parallelvertrafen die dortigen Beklagten substanziiert, unter Beweisantritt und wohl unbestritten eine Haustürsituation behauptet haben). Schließlich spricht für das Bejahen der Vermutung der Umstand, dass es zum Jahresende 1997 ein Gespräch mit dem Erblasser über die Beteiligung "in G " gegeben habe (s.o.). Denn G ist eine vergleichsweise kleine, gut 2.000 Einwohner zählende Gemeinde, die wenig anderweitige Gelegenheiten als die Privatwohnung des Erblassers für eine Anlageberatung geboten haben dürfte. So befindet sich in G zumindest heute - soweit dem Senat durch allgemein zugängliche Informationsquellen bekannt - kein Geschäftssitz eines Steuerberaters oder Rechtsanwalts.
(5.) Nicht entscheidungserheblich war die in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Frage, ob das Eingreifen von § 29c Abs. 1 ZPO i.V.m. § 312 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB ausgeschlossen ist, wenn die mündliche Verhandlung auf einer vorhergehende Bestellung des Verbrauchers im Sinne von § 312 Abs. 3 BGB erfolgte (verneinend: OLG Frankfurt, OLGR 2005, 568, wohl in st. Rspr.; OLG Köln, OLGR 2005, 553; LG Traunstein, RuS 2005, 135; LG Landshut, NJW 2003, 1197; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2003, § 29c Rdnr. 5; Vollkommer in Zöller, 26. Aufl. 2007, § 29c Rdnr. 4; Heinrich in Musielak, ZPO, 4. Aufl. 2005, § 29c Rdnr. 6. Hingegen a.A.: OLG München, VersR 2006, 1517; LG Berlin, VersR 2005, 1259. Uneindeutig, ohne das Problem zu erörtern: BGH NJW 2003, 1190). Denn keine Partei hat vorgetragen, dass der Erblasser die finanzierende Bank oder das Vermittlungsunternehmen zu einem Beratungsgespräch in seine Privatwohnung bestellt habe.
c)
Der Senat verkennt nicht, dass es im Interesse einer möglichst effizient arbeitenden Justiz und einer möglichst effizienten Prozessvertretung der Klägerin unbefriedigend ist, wenn auf Grund des § 29c Abs. 1 Satz 2 ZPO die Zuständigkeit für 170 Parallelsachen auf eine Vielzahl von Gerichten im gesamten Bundesgebiet verteilt wird, anstelle die Zuständigkeit bei einem Gericht zu bündeln. Jedoch muss der Senat auch feststellen, dass der Gesetzgeber in § 29c ZPO diesem Interesse eine untergeordnete Bedeutung zugewiesen hat gegenüber dem Interesse des Verbrauchers an einem möglichst wohnsitznahem Gerichtsstand. Zudem hatte es die Klägerin selbst weitgehend in der Hand, durch geeigneten konkreten Vortrag zum Zustandekommen des Beitrittsvertrages die einheitliche Berliner Zuständigkeit herbeizuführen.
Ende der Entscheidung
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