Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 06.11.2008
Aktenzeichen: 2 AR 50/08
Rechtsgebiete: GVG


Vorschriften:

GVG § 97 Abs. 2 S. 1
GVG § 97 Abs. 2 S. 2
Eine amtswegige Verweisung von der Kammer für Handelssachen an die Zivilkammer gemäß § 97 Abs. 2 Satz 1 GVG kann auch auf der Grundlage ergehen, dass der Beklagte nicht in das Handelsregister eingetragen ist; § 97 Abs. 2 Satz 2 GVG schließt dies nicht aus (entgegen OLG Düsseldorf, NJW-RR 2001, 1220).
Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 2 AR 50/08

In dem Rechtsstreit

hat der 2. Zivilsenat des Kammergerichts am 6. November 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Kammergericht Dr. Hawickhorst und die Richter am Kammergericht Dittrich und Dr. Glaßer

beschlossen:

Tenor:

Die Zivilkammer 5 des Landgerichts Berlin wird als der funktionell zuständige Spruchkörper bestimmt.

Gründe:

I.

Die Zivilkammer 5 und die Kammer für Handelssachen 90 des Landgerichts Berlin streiten über die funktionelle Zuständigkeit für ein Verfahren, in dem die Klägerin einen Anspruch auf Kaufpreiszahlung geltend macht. In ihrer Klageschrift hatte sie beantragt, den Rechtsstreit vor der Kammer für Handelssachen zu verhandeln; dass der Beklagte im Handelsregister als Kaufmann eingetragen sei, trug sie nicht vor. Die Kammer für Handelssachen 90, bei der der Rechtsstreit zunächst geführt wurde, erklärte sich für funktionell unzuständig und verwies den Rechtsstreit von Amts wegen an die Zivilkammer. Die Zivilkammer 5, bei der der Rechtsstreit sodann geführt wurde, erklärte sich ebenfalls für funktionell unzuständig und legte die Sache dem Kammergericht zur Entscheidung über die Zuständigkeit vor.

II.

1.

Das Kammergericht ist nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO, der auf Streitigkeiten über die funktionelle Zuständigkeit zwischen einer Kammer für Handelssachen und einer Zivilkammer entsprechend anzuwenden ist (ebenso Senat, 2 AR 10/08, KGR 2008, 626 [626]; OLG Frankfurt, OLGR 2005, 257 [257]; OLG Celle OLGR 2004, 370 [370]; OLG Stuttgart, OLGR 2002, 455 [455]; OLG Braunschweig, OLGR 1995, 154 [154]; Gummer in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 102 GVG Rdnr. 3), zur Bestimmung des zuständigen Spruchkörpers berufen. Denn sowohl die Zivilkammer 5 als auch die Kammer für Handelssachen 90 haben sich mit nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen für funktionell unzuständig erklärt.

2.

Die Zivilkammer 5 ist gemäß §§ 94, 97 Abs. 2 GVG funktionell zuständig.

Denn die Kammer für Handelssachen 90 hat den Rechtsstreit im Ergebnis zu Recht gemäß § 97 Abs. 1 Satz 1 GVG an die Zivilkammer verweisen, nachdem der Rechtsstreit gemäß § 95 GVG keine Handelssache ist. Insbesondere sind die Voraussetzungen des hier allein in Betracht kommenden § 95 Abs. 1 Nr. 1 GVG nicht gegeben, weil der Beklagte nicht als Kaufmann in das Handelsregister eingetragen ist. Von der Nichteintragung ist deshalb auszugehen, weil die Parteien und insbesondere die hierfür darlegungspflichtige Klägerin einen Eintrag nicht vorgetragen haben. Im Übrigen hat der Senat vorsorglich - obgleich er im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 GVG nicht zur Amtsermittlung verpflichtet ist - das elektronische Handelsregister des Amtsgerichts Charlottenburg abgefragt und dabei festgestellt, dass der Beklagte dort nicht als Kaufmann eingetragen ist.

Die fehlende Handelsregistereintragung ist nicht etwa gemäß § 97 Abs. 2 Satz 2 GVG außer Betracht zu lassen (ebenso OLG Nürnberg, NJW-RR 2000, 568 [568]; OLG Hamburg, TranspR 1999, 127 [128]; Kissel/Mayer, GVG, 5. Aufl. 2008, § 97 Rdnr. 7 a.E.; Zimmermann in Münchener Kommentar zur ZPO, 3. Aufl. 2008, § 97 GVG Rdnr. 10; Wittschier in Musielak, ZPO, 6. Aufl. 2008, § 97 GVG Rdnr. 4 a.E.; Hartmann in Baumbach, ZPO, 66. Aufl. 2008, § 97 GVG Rdnr. 6; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 29. Aufl. 2008, § 97 GVG Rdnr. 4 a.E.; dagegen jedoch: OLG Düsseldorf, NJW-RR 2001, 1220 [1221]; Gummer in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 97 GVG Rdnr. 4; noch offen gelassen: Senat, Beschluss vom 21. Juni 2006, 2 AR 31/06).

Für diese Auffassung spricht zum einen der Wortlaut des § 97 Abs. 2 Satz 2 GVG (ebenso OLG Nürnberg, a.a.O.; OLG Hamburg, a.a.O.). Denn dieser ordnet nur die Unbeachtlichkeit des Fehlens der Eigenschaft als "Kaufmann" an. Ausweislich des Wortlauts von § 95 Abs. 1 Nr. 1 GVG ist dabei die Eigenschaft des Kaufmannes von der Eintragung im Handelsregister zu unterscheiden. Diese Unterscheidung wird bestätigt durch die Regelung in §§ 1, 2 Satz 1 HGB, wonach die Handelsregistereintragung keine Voraussetzung für die Bejahung der Kaufmannseigenschaft ist. Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass der Kaufmannsbegriff in § 97 Abs. 2 Satz 2 GVG anders auszulegen ist als in § 95 Abs. 1 Nr. 1 GVG und §§ 1, 2 Satz 1 HGB sind nicht ersichtlich. Der gegenteiligen Auffassung des OLG Düsseldorf (a.a.O.; zustimmend Gummer in Zöller, a.a.O.), wonach "die Handelsregistereintragung lediglich ein ... den Kaufmannsbegriff umschreibendes Element ist", kann der Senat daher nicht folgen.

Für die hier vertretene Auffassung spricht zum anderen der Sinn und Zweck des § 97 Abs. 2 Satz 2 GVG. Denn dieser ist es, Schwierigkeiten bei der Feststellung der Kaufmannseigenschaft zu vermeiden (ebenso OLG Hamburg, TranspR 1999, 127 [128]).

Die Vermeidung von Feststellungsschwierigkeiten ist deshalb ein gesetzliches Anliegen, weil das Verweisungsverfahren gemäß §§ 97 ff. GVG eine im Wesentlichen nur vorbereitende Funktion für die Klärung der eigentlich inmitten des Rechtsstreites stehenden, sachlich-rechtlichen Fragen hat und es daher angemessen ist, das Verweisungsverfahren einfach und zügig ablaufen zu lassen. Letzteres gibt das Gesetz auch in den Regelungen über die Unanfechtbarkeit und die Bindungswirkung von Verweisungsentscheidungen (§ 102 Satz 1 und 2 GVG) zu erkennen. Das hiergegen gerichtete Argument des OLG Düsseldorf, wonach es in dem amtswegigen Verweisungsverfahren nach § 97 Abs. 2 GVG naturgemäß keinen Streit der Parteien über die Kaufmannseigenschaft geben könne, verfängt in zweifacher Hinsicht nicht. Zum einen deshalb, weil auch dann, wenn der Beklagte - etwa aus Zweckmäßigkeitsgründen - keinen Verweisungsantrag nach § 97 Abs. 1 GVG stellt, gleichwohl Streit zwischen den Parteien über die Kaufmannseigenschaft bestehen kann, weil etwa die Beantwortung sachlich-rechtlicher Fragen von der Kaufmannseigenschaft des Beklagten abhängt. Zum anderen verfängt das genannte Gegenargument deshalb nicht, weil auch dann, wenn die Parteien nicht über die Kaufmannseigenschaft streiten, gleichwohl das Gericht in dem amtswegigen Verweisungsverfahren nach § 97 Abs. 2 GVG die Kaufmannseigenschaft rechtlich und - ggf. durch die Erteilung von Auflagen an die Parteien - tatsächlich klären muss.

Der o.g. Sinn und Zweck der Vorschrift greift nicht bei der Frage der Handelsregistereintragung Platz (ebenso Zimmermann in Münchener Kommentar zur ZPO, a.a.O.). Denn Feststellungsschwierigkeiten können nur im Hinblick auf die Frage entstehen, ob der Beklagte Kaufmann im Sinne von § 1 HGB ist; ob der Beklagte in das Handelsregister eingetragen ist, lässt sich in aller Regel - zumal in Zeiten der elektronischen Handelsregisterabfrage - mit großer Leichtigkeit klären.

Für die hier vertretene Auffassung spricht ferner, dass § 97 Abs. 2 Satz 2 GVG nicht nur im Verhältnis zur Verweisungsvorschrift des § 97 Abs. 2 Satz 1 eine Ausnahmevorschrift darstellt, sondern auch die funktionelle Zuständigkeit eines Spruchkörpers - der Kammer für Handelssachen - perpetuiert, die im funktionellen Zuständigkeitsgefüge des Landgerichtes ihrerseits eine Ausnahme darstellt (für letzteres: OLG Hamburg, a.a.O.). Dieser besondere Ausnahmecharakter des § 97 Abs. 2 Satz 2 gebietet es, Zurückhaltung bei einer erweiternden Auslegung der Vorschrift walten zu lassen.

Schließlich spricht der mutmaßliche Wille des Gesetzgeber nicht gegen die hier vertretene Auffassung. Richtig ist zwar, dass die zum 1. Juli 1998 in Kraft getretene Novelle des § 95 Abs. 1 Nr. 1 GVG, mit der neben der Kaufmannseigenschaft zusätzlich auch der Handelsregistereintrag zur Tatbestandsvorausssetzung der Handelssachen gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 GVG wurde, nicht zugleich eine Veränderung an § 97 Abs. 2 Satz 2 GVG vornahm. Hieraus jedoch - mit dem OLG Düsseldorf (a.a.O.) - zu schlussfolgern, dass der historische Gesetzgeber die Erweiterung der Ausnahmeregelung des § 97 Abs. 2 Satz 2 GVG auf den dem § 95 Abs. 1 Nr. 1 GVG hinzugefügten Handelsregistereintrag schlicht vergessen habe, erscheint jedoch ebenso zweifelhaft, wie die unausgesprochene weitere These, dass die Gerichte berufen seien, das mutmaßliche gesetzgeberische Versäumnis durch einen Akt der Gesetzesauslegung gleichsam nachzuholen. Ersteres ist deshalb zweifelhaft, weil es auch gut möglich ist, dass sich der Gesetzgeber - aus den oben zum Sinn und Zweck des § 97 Abs. 2 Satz 2 GVG angestellten Überlegungen - mit Bedacht gegen eine Änderung des § 97 Abs. 2 Satz 2 GVG im Zuge der Novelle von 1998 entschieden hat. Zweiteres ist deshalb zweifelhaft, weil es im gewaltengeteilten Staatswesen grundsätzlich nicht Aufgabe einer bestimmten Staatsgewalt ist, etwaige Versäumnisse einer anderen Staatsgewalt zu korrigieren; die Korrektur bleibt Aufgabe der "säumigen" Staatsgewalt. Zudem dürfte dem Gesetzgeber die Problematik des Verständnisses von § 97 Abs. 2 Satz 2 GVG bekannt sein, da seit der Novelle von 1998 immerhin 10 Jahre verstrichen sind und seit 7 Jahren eine veröffentlichte Diskussion unter den Obergerichten besteht. Wenn der Gesetzgeber in dieser Situation weiterhin keine Veränderung an § 97 Abs. 2 Satz 2 GVG vornimmt, deutet das darauf hin, dass die Vorschrift in ihrer derzeitigen Fassung zumindest mittlerweile dem gesetzgeberischen Willen entspricht.

3.

Eine Vorlage der Sache an den Bundesgerichtshof wegen Abweichens von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts - hier des OLG Düsseldorf (a.a.O.) - war gemäß § 36 Abs. 3 ZPO nicht geboten. Denn nach Auffassung des Bundesgerichtshof kommt § 36 Abs. 3 ZPO nur dann zur Anwendung, wenn ein Fall des § 36 Abs. 2 ZPO vorliegt, d.h. wenn mit der vorzulegenden Zuständigkeitsentscheidung ein Streit zwischen Gerichten zweier verschiedener Oberlandesgerichtsbezirke entscheiden werden sollen; liegt diese Voraussetzung nicht vor, soll die Vorlage an den Bundesgerichtshof unzulässig sein (BGH, NJW 3214 [3215]; zustimmend u.a. OLG Düsseldorf, a.a.O.).

4.

Unerheblich ist nach alledem, dass die Verfahrensweise der Kammer für Handelssachen 90 möglicherweise - wofür einiges spricht (Verweisung aus anderen als den zunächst angekündigten Gründen; Nichtabwarten der dem Beklagten gesetzten Erklärungsfrist vor der Verweisung; Verneinung der Handelsgewerbebezogenheit des streitgegenständlichen Geschäftes aufgrund tatsächlicher Umstände, die von keiner Parteien vorgetragen wurden) - mutwillig war und keine Bindungswirkung nach § 102 Satz 2 GVG entfaltet.

Ende der Entscheidung

Zurück