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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 13.11.2008
Aktenzeichen: 2 Ws 564/08
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 44
StPO § 45
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
KAMMERGERICHT Beschluß

Geschäftsnummer: 1 AR 1540/08 - 2 Ws 564/08

In der Strafsache

wegen Verletzung der Unterhaltspflicht

hat der 2. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 13. November 2008 beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Landgerichts Berlin vom 8. Juli 2008 aufgehoben.

Dem Verurteilten wird die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 13. März 2008, mit dem die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen wurde, gewährt.

Die Landeskasse Berlin hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschwerdeführer dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt der Verurteilte selbst.

Gründe:

Das Amtsgericht Freising verurteilte den Beschwerdeführer am 5. April 2007 wegen Verletzung der Unterhaltspflicht in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, deren Vollstreckung es auf die Dauer von drei Jahren zur Bewährung aussetzte. Gleichzeitig wies es ihn an, dem Gericht jeden Wohnungswechsel unaufgefordert mitzuteilen und seinen Unterhaltspflichten gegenüber seinen Kindern unaufgefordert nachzukommen, sowie zumindest 50 Euro monatlich an die jeweilige Mutter der beiden Kinder zu zahlen. Dieser Verpflichtung kam der Verurteilte trotz gerichtlicher Mahnung nicht nach. Am 25. April 2007 übertrug das Amtsgericht Freising dem für den Berliner Wohnsitz des Verurteilten zuständigen Gericht die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung beziehen. Vom Amtsgericht Tiergarten am 23. August 2007 angeordnete Hausermittlungen ergaben, daß der Beschwerdeführer unter seiner bekannten Anschrift gemeldet war, sich dort allerdings selten aufhielt, da er außerhalb Berlins arbeitete. Ladungen zum Anhörungstermin erreichten den Verurteilten nicht. Die Zustellungsurkunden kamen jeweils mit dem Vermerk "Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln" zurück. Auch unter der bei der Staatsanwaltschaft Landshut bekannten Anschrift -----straße --- konnte der Beschwerdeführer nicht ermittelt werden. Das Amtsgericht Tiergarten veranlaßte lediglich Nachfragen bei dem Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten nach der Meldeanschrift sowie bei den Müttern, ob Zahlungen erfolgt seien. Nachdem beide Mütter mitgeteilt hatten, keine Zahlungen erhalten zu haben, widerrief das Amtsgericht Tiergarten mit Beschluß vom 13. März 2008 die dem Beschwerdeführer gewährte Strafaussetzung zur Bewährung, weil er gröblich und beharrlich gegen die ihm erteilte Auflage verstoßen habe. Mit Beschluß vom selben Tag ordnete es ohne weitere Ermittlungen die öffentliche Zustellung des Widerrufsbeschlusses an. In der Zeit vom 14. März 2008 bis zum 1. April 2008 wurde die Benachrichtigung über die öffentliche Zustellung an die Gerichtstafel geheftet. Unter 20. März 2008 wurde der Staatsanwaltschaft Landshut in einem anderen Vollstreckungsverfahren die Arbeitsstelle des Beschwerdeführers bekannt. Sie fertigte hierüber einen Vermerk an, der am 2. April 2008 bei dem Amtsgericht Tiergarten einging. Am 10. Juni 2008 meldete sich der Verurteilte bei der Staatsanwaltschaft Landshut und wurde über den Sachverhalt unterrichtet. Deshalb beantragte er am 13. Juni 2008 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten vom 13. März 2008. Er macht geltend, daß er unter seiner Meldeanschrift in der ---straße --- zusammen mit seinem Bruder wohne und keine Zustellungen oder Ladungen erhalten habe. Allerdings seien mehrfach Briefkästen aufgebrochen und Namensschilder entfernt worden. Mit dem angefochtenen Beschluß verwarf das Landgericht den Wiedereinsetzungsantrag und die sofortige Beschwerde als unzulässig. Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit der sofortigen Beschwerde.

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat zu dem Rechtsmittel wie folgt Stellung genommen:

"Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 46 Abs. 3 StPO zulässig, insbesondere rechtzeitig erhoben.

Der sofortigen Beschwerde kann auch der Erfolg nicht versagt werden.

Mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand muss der Betroffene vorbringen und glaubhaft machen, dass er ohne Verschulden gehindert war, eine Frist einzuhalten (§§ 44, 45 StPO).

Soweit der Beschwerdeführer hier u. a. vorträgt, dass die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung nicht vorgelegen hätten, liegt darin nicht das Vorbringen, schuldlos eine Frist versäumt zu haben, sondern die Behauptung, die Frist habe nicht zu laufen begonnen, was nach der Rechtsprechung des Kammergerichts in der Regel nicht genügt, um einen Wiedereinsetzungsantrag zu begründen, sondern nur Gegenstand eines Rechtsmittels wie der Revision oder der sofortigen Beschwerde sein kann (vgl. KG, NStZ-RR 2006, 208 ff.).

Gegen die Bewertung der öffentlichen Zustellung als wirksam, kann sich der Beschwerdeführer hier aber nur durch das Vorbringen wehren, das Landgericht habe ihm zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt, da die Entscheidung im Übrigen gemäß § 310 Abs. 2 StPO mit der weiteren Beschwerde nicht anfechtbar ist.

Eine Ausnahme bestünde nach § 310 Abs. 1 StPO nur, wenn die Entscheidung unmittelbar die Verhaftung oder die einstweilige Unterbringung in einem noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren berühren würde (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 15 f.), was bei einem Bewährungswiderruf, der ein rechtskräftig abgeschlossenes Erkenntnisverfahren voraussetzt, aber nicht der Fall ist.

Das Kammergericht hat jedoch entschieden, dass es in diesem Fall der vom Grundgesetz gewährleistete effektive Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG gebietet, das Vorbringen gleichwohl im Wiedereinsetzungsverfahren zu prüfen (vgl. KG, NStZ-RR 2006, 208 ff.).

Der Beschwerdeführer ist gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde in den vorigen Stand wiedereinzusetzen, da die öffentliche Zustellung des Widerrufsbeschlusses durch das Amtsgericht Tiergarten in Berlin unwirksam war, obwohl es grundsätzlich möglich ist, auch einen Widerrufsbeschluss öffentlich zuzustellen (vgl. OLG Düsseldorf , NStZ 2003, 167 f.; Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., § 453c, Rdnr. 11 m. w. N.).

Wenn ein Verurteilter die öffentliche Zustellung dadurch veranlasst, dass er sich unauffindbar macht, handelt er schuldhaft, (vgl. BGHSt 26, 127) so dass er in diesem Fall - nach wirksamer öffentlicher Zustellung - in der Regel keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalten kann (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., § 44, Rdnr. 14 m. w. N.).

Das gilt vor allem dann, wenn ihm auferlegt worden war, jeden Wohnungswechsel anzuzeigen (vgl. OLG Hamm, NStZ-RR 2004, 46 f.; OLG Düsseldorf, NStZ 2003, 167 f.), was in dem vorliegenden Verfahren auf den Beschwerdeführer aber schon deshalb nicht zutrifft, weil er seinen Wohnsitz in der -----str. --- in ---- Berlin gar nicht aufgegeben hat.

Diese Rechtsprechung betrifft allerdings ohnedies nur die Frage, ob der Verurteilte die öffentliche Zustellung verschuldet hat und sagt noch nichts darüber aus, ob die öffentliche Zustellung wirksam war, da die Voraussetzungen des § 40 Abs. 1 StPO nicht an das Verschulden anknüpfen, sondern objektive Anforderungen an die Gerichte stellen, bevor sie diese Zustellungsart anordnen dürfen (vgl. KG, NStZ-RR 2006, 208 ff.).

Die öffentliche Zustellung bewirkt nämlich - anders als jede andere Zustellungsart - nur die Fiktion einer Bekanntgabe, ohne dass für den Betroffenen die Möglichkeit besteht, von der Entscheidung tatsächlich Kenntnis zu nehmen und ist daher im Hinblick auf Art. Art. 19 Abs. 4 GG, 103 Abs. 1 GG eng auszulegen (vgl. BVerfG, NStZ-RR 2005, 206 f., KG, NStZ-RR 2006, 208 ff.).

Die öffentliche Zustellung ist als ultima ratio nur dann zulässig, wenn alle Versuche gescheitert sind, den unbekannten Aufenthaltsort des Empfängers zu ermitteln, wobei hinsichtlich des Ausmaßes der Nachforschungen, die das Gericht vorzunehmen hat, ein strenger Maßstab anzulegen ist (vgl. BVerfG, NStZ-RR 2005, 206 f.), weil andernfalls sowohl das Prozessgrundrecht des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG als auch die vom Grundgesetz gewährleistete Effektivität des Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG beeinträchtigt wären (vgl. BVerfG, a. a. O. ; KG, NStZ-RR 2006, 208 ff.).

Jeder sich bietende Anhaltspunkt für die Ermittlung des Aufenthalts muss genutzt werden, um das Schriftstück gemäß § 37 Abs. 1 StPO i. V. m. §§ 166 ff. ZPO in einer Weise an den Betroffenen zuzustellen, die ihm die Gelegenheit zu seiner Kenntnisnahme verschafft (vgl. KG, NStZ-RR 2006, 208 ff.; BayObLG, NJW 84, 812).

Diese Grundsätze gelten nach der Rechtsprechung des Kammergerichts für jede öffentliche Zustellung, soweit sie nicht unter die Sondervorschriften der Absätze 2 und 3 des § 40 Abs. 3 StPO fallen, durch die der Gesetzgeber an die bereits einmal veranlasste Ladung zur Hauptverhandlung eine Erleichterung geknüpft (§ 40 Abs. 2 StPO) bzw. dem Berufungsführer verfahrensspezifische Mitwirkungspflichten auferlegt hat (§ 40 Abs. 3 StPO), die indes nach dem Wortlaut der Vorschrift für einen unter Bewährung stehenden Verurteilten nicht gelten (vgl. KG, NStZ-RR 2006, 208 ff.)..

Besteht neben konkreten, individuellen Ermittlungsanhalten, denen ausnahmslos nachzugehen ist (vgl. BverfG, a. a. O.), die allgemeine Vermutung, dass sonstige Anfragen Erfolg versprechen, so sind diese auch durchzuführen (vgl. KG, NStZ-RR 2006, 208 ff.).

Nach der Rechtsprechung des Kammergerichts setzt im Bereich der Berliner Gerichte eine öffentliche Zustellung in einem Verfahren, in dem die zuzustellende Entscheidung - wie hier - einen tief greifenden Grundrechtseingriff zur Folge haben kann, in der Regel Nachfragen bei dem Landesamt für Bürger und Ordnungsaufgaben (LABO), den Verfahrensregistern des Amtsgerichts Tiergarten, der Staatsanwaltschaft Berlin, der Amtsanwaltschaft Berlin und der Berliner Kriminalpolizei voraus (vgl. KG, NStZ-RR 2006, 208 ff.).

Geringere Anforderungen an die Nachforschungspflicht könnten nach der Rechtsprechung des Kammergerichts nur dann gebilligt werden, wenn die zuzustellende Entscheidung keine oder nur theoretische rechtliche Nachteile für den Empfänger, wie etwa ein Beschluss über einen Straferlass, mit sich bringen würde (vgl. KG, NStZ-RR 2006, 208 ff.).

Die hier durchgeführten LABO-Abfragen vom 22. August und 6. November 2007 sowie 12. Februar 2008 führten allesamt zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer nach wie vor in der --------str. --- in ---- Berlin wohnhaft ist.

Aufgrund dieser Erkenntnisse hätte sich das Amtsgericht Tiergarten aber nicht auf die Vermerke der Postzusteller vom 2. November 2007, der Adressat sei "unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln" bzw. 14. Februar 2008, der Empfänger sei "unbekant verzogen" verlassen dürfen, sondern - auch aufgrund des zwischenzeitlich eingetretenen Zeitablaufs - erneut Hausermittlungen veranlassen müssen, zumal schon der am 20. August 2007 erstellte Vermerk des Postzustellers "unbekannt verzogen" durch eine am 28. September 2007 durchgeführte Hausermittlung nicht bestätigt worden war.

Da das Amtsgericht Tiergarten diese Nachforschungen unterlassen und auch keine Anfragen bei den Verfahrensregistern des Amtsgerichts Tiergarten, der Staatsanwaltschaft Berlin, der Amtsanwaltschaft Berlin und der Berliner Kriminalpolizei durchgeführt hat, waren die Maßnahmen zur Erforschung des Aufenthaltsorts des Beschwerdeführers nicht ausreichend, zumal eine weitere Hausermittlung in dem Vollstreckungsverfahren der Amtsanwaltschaft Berlin (3023 PLs 3998/06 Ve Vrs) vom 18. Dezember 2007 ergeben hatte, dass sich der Beschwerdeführer zwar selten in der ----str. ---- in ---- Berlin aufhält, aber dort nach wie vor eine Wohnung unterhält.

Der Senat ist gemäß § 310 Abs. 2 StPO zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Widerruf der Strafaussetzung nicht zuständig.

Vielmehr obliegt diese Entscheidung im weiteren Verfahrensgang dem Landgericht Berlin, nachdem dem Beschwerdeführer die begehrte Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist zu gewähren ist."

Diese Ausführungen treffen zu. Der Senat schließt sich ihnen an und bemerkt ergänzend, daß das Landgericht bei der nunmehr erforderlichen Bearbeitung der zulässigen sofortigen Beschwerde gegen den Widerruf zu einer Entscheidung in der Sache nicht befugt ist. Denn der Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten muß aufgehoben und die Sache zurückverwiesen werden, weil das Amtsgericht den Beschwerdeführer nicht nach § 453 Abs. 1 Satz 3 StPO mündlich angehört hat. Nach dem Regelungsgehalt dieser Vorschrift ist die mündliche Anhörung entgegen dem Wortlaut der Bestimmung zwingend, wenn sie weitere Aufklärung verspricht und schwerwiegende Gründe nicht entgegenstehen. Ein Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift durch das erstinstanzliche Gericht zwingt zur Aufhebung der Widerrufsentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 199; Schleswig- Holsteinisches OLG SchlHA 2003, 194; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2003, 272; Senat, Beschluß vom 30. Juli 2004 - 5 Ws 388/04 -). So liegen die Dinge hier. Denn im Falle einer mündlichen Anhörung hätte der Verurteilte seine Arbeits- und Einkommensverhältnisse darlegen können. Ohne Kenntnis von der finanziellen Situation des Beschwerdeführers kann nicht beurteilt werden, ob er zahlungsfähig war und schuldhaft (vgl. Senat, Beschluß vom 12. Mai 2004 - 5 Ws 119/04 -)keinen Unterhalt geleistet hat.

Die Kostenentscheidung bezüglich der Wiedereinsetzung folgt aus § 473 Abs. 7 StPO. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Landeskasse, weil kein anderer dafür haftet. Die Auslagenentscheidung folgt aus einer analogen Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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