Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 01.11.2007
Aktenzeichen: 2 Ws 600/07
Rechtsgebiete: StGB, GG


Vorschriften:

StGB § 2
StGB § 56f
GG Art. 103 Abs. 2
1. Nach § 56f Abs. 1 S. 2 StGB in Verbindung mit S. 1 Nr. 1 StGB in der Fassung des 2. Justizmodernisierungsgesetzes vom 22. Dezember 2006 kann die Strafaussetzung zur Bewährung auch widerrufen werden, wenn die Tat bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung in einem einbezogenen Urteil und der Rechtskraft der Entscheidung über die Gesamtstrafe begangen wurde.

2. Auf Altfälle, in denen der Gesamtstrafenbeschluss vor der Gesetzesänderung rechtskräftig wurde, ist die Neuregelung wegen des Rückwirkungsverbotes des Art. 103 Abs. 2 GG in seiner einfachgesetzlichen Ausprägung des § 2 Abs. 1 und 3 StGB nicht anwendbar (Bestätigung von OLG Saarbrücken, Beschluss vom 6. August 2007 - 1 Ws 124/07 -).


KAMMERGERICHT Beschluß

Geschäftsnummer: 2 Ws 600/07 1 AR 1249/07

In der Strafsache

wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln

hat der 2. (ehemals 5.) Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 1. November 2007 beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 16. August 2007 aufgehoben.

Der Antrag der Staatsanwaltschaft vom 13. Februar 2007, die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Gesamtstrafenbeschluß des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 25. Juni 2003 zu widerrufen, wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen hat die Landeskasse Berlin zu tragen.

Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin verurteilte den Beschwerdeführer am 12. August 2002 (rechtskräftig seit 20. August 2002) wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, deren Vollstreckung es auf die Dauer von drei Jahren zur Bewährung aussetzte. Gleichzeitig gab es ihm auf, 1000 Euro an das Deutsche Aussätzigen-Hilfswerk e.V. zu zahlen. Mit Beschluß vom 25. Juni 2003 (rechtskräftig seit 22. Juli 2003) bildete dasselbe Gericht unter anderem unter Einbeziehung der Strafe aus der vorgenannten Verurteilung nachträglich eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung es auf die Dauer von vier Jahren zur Bewährung aussetzte. In der Zeit von Februar 2003 bis zum 2. Juni 2003 war der Beschwerdeführer erneut straffällig geworden. Deshalb verurteilte das Landgericht Berlin ihn am 20. Februar 2006 (rechtskräftig seit 12. Mai 2006) wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Kokain), wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Geldfälschung und wegen Geldfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren. Im Hinblick auf diese Verurteilung widerrief die Strafvollstreckungskammer mit dem angefochtenen Beschluß auf Antrag der Staatsanwaltschaft Berlin die dem Beschwerdeführer gewährte Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Gesamtstrafenbeschluß des Amtsgerichts Tiergarten vom 25. Juni 2003. Die zulässige sofortige Beschwerde (§ 453 Abs. 2 Satz 3 StPO) des Verurteilten hat Erfolg.

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat zu dem Rechtsmittel wie folgt Stellung genommen:

"Der Widerruf gemäß § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass der Verurteilte in der Bewährungszeit eine Straftat begeht. Daran fehlt es hier. Zwar ist der Verurteilte im Frühjahr 2003 - und damit während des Laufes der ihm durch Urteil des Amtsgerichts Tiergarten auferlegten Bewährungsfrist erneut - in erheblicher Weise straffällig geworden, was dazu führte, dass er wegen der neuen Straftaten vom Landgericht Berlin zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt wurde, aber dieser Umstand vermag gleichwohl den Widerruf der erst im Sommer 2003 mit dem Gesamtstrafenbeschluss vom 25. Juni 2003 neu gewährten Strafaussetzung nicht zu rechtfertigen.

Wie die Strafvollstreckungskammer in diesem Zusammenhang zutreffend ausgeführt hat, führt die nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe zu einer maßgeblichen Änderung in vollstreckungsrechtlicher Hinsicht. Denn die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe läßt das ursprüngliche Erkenntnis entfallen, und nur das neue bildet die Grundlage der Vollstreckung (vgl. Senat, Beschluss vom 13. März 2003 - 5 Ws 90/03 - m. w. N.; OLG Hamm StV 1998, 212; OLG Stuttgart MDR 1992, 1067, 1068). Die Bewährungszeit beginnt damit ebenfalls neu und ist wiederum gesondert festzusetzen. Das damit einhergehende kriminalpolitisch bedenkliche Ergebnis, dass - nach der bis zum 31. Dezember 2006 geltenden Rechtslage - die zwischen erster Strafaussetzung und Gesamtstrafenbildung begangenen Straftaten nicht (mehr) zum Widerruf führen konnten, mußte hingenommen werden (vgl. OLG Hamm aaO), weil der Gesetzgeber dem Vorschlag, die Widerrufsmöglichkeit auf diesen Fall zu erstrecken, ausdrücklich nicht gefolgt war (vgl. OLG Stuttgart a.a.O.).

Indes hat der Gesetzgeber mit dem 2. Justizmodernisierungsgesetz vom 22. Dezember 2006 den Bedenken inzwischen Rechnung getragen und mit der Neufassung des § 56 f Abs. 2 Satz 2 StGB ausdrücklich die entsprechende Anwendung des Absatzes 1 Nr. 1 der Vorschrift auch auf solche Fälle angeordnet, in denen - wie im vorliegenden Verfahren - weitere Straftaten in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung in einem einbezogenen Urteil und der Rechtskraft der Entscheidung über die Gesamtstrafe begangen worden sind.

Entgegen der im angefochtenen Beschluss ausführlich dargelegten Begründung kommt gleichwohl die Anwendung des § 56 f Abs. 1 Satz 2 StGB n. F. im vorliegenden Fall nicht Betracht. Ihr steht - was die Strafvollstreckungskammer im Grundsatz zutreffend erörtert - das sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebende Rückwirkungsverbot, hier in seiner einfachgesetzlichen Ausprägung in § 2 Abs. 1 und 3 StGB, entgegen. Danach bestimmen sich die Strafe und ihre Nebenfolge nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. Wird das Gesetz nach der Tat geändert, so ist bei der Entscheidung das mildeste Gesetz anzuwenden. Dass die hier geschaffene Neuregelung eine Strafbarkeit der Taten nicht neu begründet, steht zwar außer Frage, aber dabei ist zu berücksichtigen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 109, 133, 167 m.w.N.) der Anwendungsbereich des absoluten Rückwirkungsverbots über den Wortlaut hinaus geht und damit alle staatlichen Maßnahmen umfaßt, die "eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient" (vgl. Saarländisches OLG Saarbrücken, Beschluss vom 6. August 2007 nicht - 1 Ws 127/07 -, JURIS sondern richtig - 1 Ws 124/07 -).

Demzufolge stehen § 2 Abs. 1 und 3 StGB der rückwirkenden Anwendung einer Neuregelung immer dann entgegen, wenn nicht nur reines Verfahrensrecht betroffen ist, sondern es sich - zumindest auch - um eine strafrechtliche Regelung mit materiell-rechtlichem Charakter handelt (vgl. Tröndle-Fischer, StGB 54. Auflage, § 2 Rdnr. 6; Schönke-Schröder/Eser, StGB 27. Auflage, § 2 Rdnr. 3 ff:, LK-Gribbohm, StGB 11. Auflage, § 2 Rdnr. 5 ff.). Einen solchen - zumindest teilweise - materiell-rechtlichen Gehalt weisen nach herrschender Meinung auch die Vorschriften auf, die die Strafaussetzung zur Bewährung und deren Widerruf betreffen, und die hier im Ergebnis zu der - mindestens entsprechenden - Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB zwingen (vgl. Tröndle-Fischer, a. a. O., § 2 Rdnr. 4).

Dem Rückwirkungsverbot unterliegt dabei nicht nur die tatbestandliche Neufassung eines Widerrufsgrundes sondern auch die Erweiterung der Widerrufsmöglichkeit in zeitlicher Hinsicht. Denn die Erweiterung der Berücksichtigungsfähigkeit einer Straftat in zeitlicher Hinsicht zeitigt vergleichbare materiell-rechtliche Wirkungen wie die Neueinführung eines Widerrufsgrundes. In beiden Fällen handelt es sich nicht lediglich um Maßnahmen der Strafvollstreckung, die die Strafbarkeit selbst unberührt lassen; vielmehr werden mittelbar Konsequenzen an ein strafbares Verhalten geknüpft (vgl. Saarländisches OLG Saarbrücken, a.a.O.).

Danach kann hier der von der Strafvollstreckungskammer beschlossene Widerruf keinen Bestand haben.

Die Neufassung des § 56f Abs. 1 S. 2 StGB führt zu einer entscheidenden Änderung in der Rechtsanwendung, mit der Folge dass auch in der zunächst bemessenen Zeit der Bewährung begangene Straftaten zur Verbüßung der Freiheitsstrafe führen, obwohl die Widerrufsmöglichkeit bereits mit dem Gesamtstrafenbeschluss rechtskräftig entfallen war. Denn die materielle Rechtskraft des Beschlusses über die Gesamtstrafe hat nicht nur mit Blick auf die vorher selbstständigen Einzelstrafen sondern auch mit Blick auf die Aussetzungsentscheidung eine Gestaltungs- und Beendigungswirkung nach sich gezogen; diese Entscheidung über die Rechtsfolgen führt zu der im Grundsatz bestehenden Unabänderlichkeit sowohl auf ihrer positiven als auch auf ihrer negativen Seite (vgl. Meyer-Goßner, StPO 50. Auflage, Einl. Rdnr. 169).

Durch die Anwendung der Neuregelung würde diese Gestaltungswirkung bezüglich der vor dem Beschluss begangenen Taten, auf die der Widerruf nach § 56f Abs. 1 Satz 2 StGB a.F. nicht mehr hätte gestützt werden können, was die Kammer zutreffend erkannt hat, zum Nachteil des Verurteilten abgeändert. Dabei ist es zwar einerseits zutreffend, dass sich der Verurteilte nach seiner Verurteilung darauf einzustellen hatte, sich bewähren zu müssen, jedoch konnte er sich andererseits auf die durch Gesamtstrafenbeschluss eingetretene Rechtslage verlassen, dass zwar für ihn die Zeit der Bewährung von neuem begann aber ein Widerruf auf die vor der Beschlussfassung begangenen Taten nicht mehr gestützt werde. Dass er Dispositionen im Hinblick auf die Rechtslage getroffen hatte oder keine bzw. eine unzutreffende Vorstellung in Bezug auf die Rechtsfolgen der Entscheidung hatte, ist unerheblich. Es änderte nichts daran, dass der gleichwohl auf solche Taten gestützte Widerruf in seiner (Rück-)Wirkung der Neufestsetzung einer Strafe - und damit dem direkten Anwendungsbereich des § 2 StGB - so nahe kommt, dass es mit dem hier zu beachtenden Rückwirkungsverbot unvereinbar wäre, § 56 f Abs. 1 Satz 2 StGB n.F. auf Gesamtstrafenbeschlüsse anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Januar 2007 erlassen wurden (vgl. Saarländisches OLG Saarbrücken, a.a.O.)."

Diese Ausführungen treffen zu. Der Senat schließt sich ihnen an.

Die Strafvollstreckungskammer wird nunmehr über den Straferlaß zu entscheiden haben.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

Zurück