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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Urteil verkündet am 15.12.2003
Aktenzeichen: 20 U 105/02
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 531 II Nr. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Kammergericht Im Namen des Volkes

Geschäftsnummer: 20 U 105/02

In dem Rechtsstreit

verkündet am: 15.12.2003

hat der 20. Zivilsenat des Kammergerichts durch seine Richter Budde, Balschun und Baldszuhn auf die mündliche Verhandlung vom 15.12.2003 für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das am 4.4.2002 verkündete Urteil der Zivilkammer 9 des Landgerichts Berlin wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages zuzüglich 10% abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages zuzüglich 10% leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Klägerin verlangt von der Beklagten Schmerzensgeld und begehrt die Feststellung der Schadensersatzverpflichtung der Beklagten, weil diese sie zum Zweck der Heilung eines Epilepsieleidens operiert, aber über Chancen und Risiken der Operation ungenügend aufgeklärt habe und die Operation, was unstreitig ist, eine halbseitige Lähmung sowie Gesichtsfeldeinschränkungen bewirkte.

Wegen des Parteivorbringens erster Instanz und wegen der dort gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Das Landgericht hat der Klage im wesentlichen stattgegeben. Es hat lediglich den Feststellungsanspruch auf die Zeit ab 6.3.1995 beschränkt und hat die Feststellungsklage für die Zeit von 6/94 bis 5.3.1995 abgewiesen. Wegen der Begründung wird auf den Inhalt der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.

Die Klägerin hat die teilweise Klageabweisung hingenommen. Die Beklagte wendet sich gegen ihre Verurteilung mit der Berufung. Sie trägt weiter vor:

Die Klägerin hätte in jedem Fall in die Operation eingewilligt. Die Aufklärung der Klägerin durch den Zeugen ... am 13.4.1994 sei nicht zu früh erfolgt, weil Aufklärung und Einwilligungserklärung am Anfang einer ausgedehnten Untersuchungsserie gestanden hatten. Die Aufklärung sei durch die fortgesetzten Untersuchungsmaßnahmen immer wieder aufgefrischt und bestärkt worden.

Die Klägerin sei auch über die Chancen einer Operation aufgeklärt worden, denn diese Chancen seien es ja gewesen, welche die Klägerin dazu veranlaßt haben, über ein Jahr auf die Operation hinzuarbeiten. Die Frage nach einer zureichenden Risikoaufklärung müsse gegenüber der Aufklärung über die Chancen im Vordergrund stehen.

Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, der Zeuge ... welcher bei der Verhandlung zugegen war, habe die Klägerin auch über die Chancen einer Operation aufgeklärt, und zwar dahin, daß diese Chancen bei bis zu 85% liegen, und hat sich in der mündlichen Verhandlung auf diesen Zeugen berufen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil insoweit zu ändern als die Klage nicht abgewiesen worden ist, und die Klage abzuweisen, soweit sie Erfolg hatte.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend und trägt weiter vor.

Wegen der übrigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und auf den Inhalt der von ihnen im Original oder in Kopie vorgelegten Urkunden, insbesondere auf die Krankenunterlagen, Bezug genommen.

II.

Die Berufung mußte zurückgewiesen werden. Sie konnte keinen Erfolg haben. Das Landgericht hat die Beklagte zu Recht zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt und hat auch zu Recht die Schadensersatzverpflichtung der Beklagten aufgrund der bei der Klägerin am 9.3.1995 durchgeführten Operation festgestellt. Das Berufungsvorbringen der Beklagten ändert hieran nichts.

Das Landgericht hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß die Operation mangels hinreichender Aufklärung rechtswidrig war und daß die Beklagte deshalb zu den genannten Ersatzleistungen verpflichtet ist.

Daß und inwieweit der Patient über Chancen und Risiken einer Operation aufgeklärt worden ist, unterliegt der Behauptungs- und Beweislast des Arztes. Dieser hat nicht nur darzulegen, daß er den Patienten hinreichend aufgeklärt hat, sondern er hat dies auch zu beweisen, wobei der Beklagten einzuräumen ist, daß die Vernehmung des Arztes hierzu genügen kann, wenn dieser bekundet, wie er die Aufklärung in derartigen Fällen gestaltet, weil dies den Rückschluß darauf zulassen kann, daß er auch in dem zu entscheidenden Fall die Aufklärung in dieser Weise gestaltet und durchgeführt hat.

Die erstinstanzliche Beweisaufnahme mußte zu dem Ergebnis führen, daß weder der Zeuge ... noch der Zeuge ... die Klägerin hinreichend aufgeklärt hat.

Bereits die Aufklärung durch den Zeugen ... war unzureichend. Es kommt hierbei nicht darauf an, ob zwischen dem Zeitpunkt des Aufklärungsgespräches am 13.4.1994 und dem Zeitpunkt der Operation am 9.3.1995 ein Zeitraum von nahezu einem Jahr verstrichen ist. Es mag sein, daß die Klägerin angesichts der fortlaufenden Untersuchungen, die sich schließlich zum Entschluß für die Operation hinneigten, Art, Umfang und Bedeutung der operationsbedingten Risiken noch in ihrer Erinnerung haben mußte und daß diese Risiken ihr noch zum Zeitpunkt der Operation gegenwärtig waren. Immerhin hat der Zeuge ... bekundet, die Klägerin auf Risiken hingewiesen zu haben, die darin bestanden, daß die Klägerin mit einer Möglichkeit von etwa 1% eine halbseitige Lähmung erleiden könnte, und daß eine Gesichtsfeldeinschränkung eintreten könnte, die in der Krankengeschichte als Hemianopsie bezeichnet ist und deren Risikowahrscheinlichkeit dort mit 20% angegeben ist.

Ob die Inzidenz einer Hemiparese, wie die Klägerin unter Hinweis auf das Gutachten ... vom 31.5.1999 dagegen vorträgt, stattdessen 4% transient (d.h. vorübergehend) oder 2% permanent (d.h. verbleibend) beträgt (GA Seite 15 aE), kann dahinstehen. Darauf kommt es nicht an, weil der Patient nicht nur über die Risiken einer Operation aufzuklären ist, sondern auch gleichzeitig und mit der gleichen Intensität, und vor allem nicht nur sekundär, wie die Beklagte meint, über die Chancen, die aus präoperativer Sicht bestehen, um das Leiden der Klägerin, nämlich die präoperativ bestehenden Epilepsieanfälle, zu beenden oder wenigstens nach Umfang und/oder Sequenz zu mindern.

Dementsprechend hat der Zeuge ... einleuchtend ausgesagt, daß er seinen Aufzeichnungen entnehmen kann, daß die Klägerin mit dem Willen zu der Beklagten gekommen ist, ihre Epilepsie zu verlieren, weil diese doch erhebliche Beinträchtigungen für ihr Leben mit sich brachte (Sitzungsniederschrift vom 14.3.2002, Seite 2 aE, 3 aA).

In diesem Zusammenhang genügt es nicht, der Klägerin nur die Risiken vor Augen zu halten, die eine Operation mit sich bringen kann. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die Risikoaufklärung nicht in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr war die Klägerin in die Lage zu versetzen, sich für oder gegen die geplante Operation zu entscheiden. Für eine solche Entscheidung bedurfte die Klägerin grundsätzlich zweier Informationsebenen, die ihr die Beklagte wenigstens den Grundzügen nach zu vermitteln hatte: Einmal war dies die Aufklärung über Risiken der Operation; zum anderen, und nicht zuletzt, betraf dies die Frage, welche Heilungschancen die Klägerin überhaupt haben konnte, wenn sie sich einer solchen Operation unterzog. Die Klägerin konnte sich doch nur dann aufgrund ihres freien Willensentschlusses für oder gegen eine Operation entscheiden, wenn sie nicht nur das Risiko der geplanten Operation erkannte, sondern wenn sie auch, wenigstens in Grundzügen, darüber unterrichtet wurde, welche Chancen die geplante Operation bot, um die ihr präoperativ bestehende Epilepsie zu heilen oder wenigstens nach Zeit und/oder Umfang zu lindern. Es genügt dagegen keinesfalls, daß zwar die möglichen Nachteile dieser Operation geschildert wurden, daß aber nicht ansatzweise erwähnt wurde, ob überhaupt und mit welcher Wahrscheinlichkeit die Operation erfolgreich sein würde. Im vorliegenden Fall hätte es einer Aufklärung darüber bedurft, welche Chancen die Operation bringen konnte, und zwar sowohl im Hinblick auf eine vollständige Heilung der Epilepsiekrankheit der Klägerin einerseits, als auch die Erörterung einer unvollständigen, aber zumindest teilweisen Heilung von Anfällen hinsichtlich Art, Ausmaß und Zeitdauer.

Diesen an eine Aufklärung zu stellenden Mindestanforderungen genügt die Aufklärung durch den Zeugen ... nicht ansatzweise. Welche Chance die Operation haben würde, wurde der Klägerin nicht erklärt. Aus den Bekundungen des Zeugen ergibt sich lediglich, daß er die Klägerin über Risiken der Operation aufgeklärt hat. Welche Chance eine Operation hat, ist dort nicht einmal angedeutet Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, daß sich die Klägerin in der Hoffnung wiegte, daß eine Operation ihr Epilepsieleiden wenigstens mit überwiegender Wahrscheinlichkeit beenden würde. Das war aber bereits präoperativ nicht so zu prognostizieren. Denn der Gutachter ... hat unter Hinweis auf einschlägige Literatur ausgeführt, daß eine wahrscheinlich bleibende Anfallsfreiheit nur in 65% der operierten Temporallappen-Epilepsien eintritt (GA Seite 12 Abs. 2). Dann bedurfte es umso mehr einer eingehenden Auseinandersetzung mit dieser Erfolgswahrscheinlichkeit und auch einer Aufklärung der Klägerin dahingehend, daß sie eine vollständige Anfallsfreiheit nur mit einer solchen Wahrscheinlichkeit erwarten konnte. Nur wenn sie so aufgeklärt worden wäre, hätte sie die Möglichkeit gehabt, sich unter eingehender Abwägung der Risiken und Chancen für oder gegen eine Operation zu entscheiden. Die Berufungsbegründung der Beklagten ist deshalb unverständlich, soweit sie sich darauf bezieht, daß die Wirksamkeit einer Aufklärung deshalb in Zweifel gezogen werde, weil der Patient unzureichend über die Chancen aufgeklärt worden sei. Jedem Laien muß sich aufdrängen, daß er eine Operation doch nur über sich ergehen läßt, wenn dies einen Erfolg prognostiziert, und das Maß dieses Erfolges kann nicht unbedeutend sein, und ist es keinesfalls, wenn eine Anfallsfreiheit mit nur 65% prognostiziert werden kann, wohingegen eine Halbseitenlähmung nebst Gesichtsfeldeinschränkung in wenigstens (zugunsten der Beklagten erwähnt) 1% bzw. 20% der Fälle eintritt. Das bedeutet immerhin, daß in einem von hundert Fällen eine Halbseitenlähmung aufgetreten ist, was angesichts der schwerwiegenden Folgen und noch dazu im Alter der Klägerin aus der Sicht der Ärzte der Beklagten von Bedeutung sein mußte.

Die erforderliche Aufklärung über die Erfolgsaussichten der geplanten Operation erfolgten auch nicht durch den Zeugen ... Dieser hat lediglich bekundet, die Klägerin über Risiken aufgeklärt zu haben. Das ist aber gleichfalls unzureichend, weil die Klägerin selbst einen Tag vor der Operation nicht wußte, welche Chancen diese hatte. Auch aufgrund dieser "Aufklärung" konnte sie nicht wirksam in die Operation einwilligen.

Mit diesen Anforderungen an Umfang und Inhalt der gebotenen Aufklärung befindet sich der Senat in Übereinstimmung mit der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung, die auch in der Literatur ihre Stütze finden. Danach muß dem Patienten eine selbstbestimmte Entscheidung ermöglicht werden. Diese bedarf einer Grundlage, die aus sämtlichen Umständen gebildet wird, die für die konkrete Nutzen/Risiko-Abwägung erforderlich sind (statt aller: Münchner Kommentar, BGB, 4. Auflage, § 823 Rdnr. 700). Die Aufklärung muß so sein, dem Patienten eine informierte Entscheidung darüber zu ermöglichen, ob und gegebenenfalls inwieweit er Körper und Gesundheit aufs Spiel setzt, um die Heilungschance wahrzunehmen. Die Information des Patienten darf sich nicht auf das Risikopotential des Eingriffs beschränken. Nur wenn der Patient auch den Nutzen des Eingriffs und die Wahrscheinlichkeit seiner Realisierung einschätzen kann, ist er in der Lage, Nutzen und Risiken gegeneinander abzuwägen (Münchner Kommentar aaO, Rdnr. 706).

Die Beklagte kann sich nicht darauf stützen, daß die Klägerin ohnehin in eine Operation eingewilligt hätte. Angesichts der Risiken einerseits und der genannten Erfolgschancen andererseits ist die Einlassung der Klägerin, sie hätte bei Kenntnis und Abwägung der Chancen und Risiken, wenn ihr auch erstere bekannt gewesen wären, nicht in die Operation eingewilligt, plausibel. Das gilt auch dann, wenn, wie die Beklagte entgegen dem Gutachten der Schlichtungsstelle erstmals in der Verhandlung vor dem Senat behauptet, die Heilungschancen hätten bei bis zu 85% gelegen, wobei die Einschränkung "bis zu" nicht ansatzweise quantifizierbar ist und nicht dargelegt ist, bei welchen Eigenheiten des Patienten, hier der Klägerin, sich evtl. geringere Erfolgschancen als die Maximalquote von 85% als prognostizierbar erwiesen hätten. Auch diese Formulierung ist für sich gesehen nichtssagend, denn das kann auch bedeuten, daß in bestimmten Fällen eine Erfolgschance von weitaus unter 85% festgestellt wurde.

Dem Beweisantrag der Beklagten war nicht zu entsprechen. Die Beklagte hat erstmals in der Berufungsverhandlung konkret dargelegt, daß der Zeuge die Klägerin entsprechend ihrer neuen Behauptung aufgeklärt habe, abgesehen davon, daß auch das, wie ausgeführt, nicht genügt hätte. Dieser neue Vortrag ist gemäß § 531 II Nr. 3 ZPO ausgeschlossen. Er hätte bereits in der ersten Instanz vorgebracht werden können, denn die Klägerin hatte bereits in der Klageschrift ausführlich bestritten, über den Grad der Erfolgschancen aufgeklärt worden zu sein (dort Seite 3, 4 und 5).

Dieser Rüge ist die Beklagte erstinstanzlich nicht nachgegangen. Mithin ist ihr neues Vorbringen nunmehr ausgeschlossen, weil die Beklagte nicht ansatzweise dargetan hat, daß die erstinstanzlich unterlassene konkrete Erwiderung auf diese umfassende Aufklärungsrüge nicht auf ihrer Nachlässigkeit beruht. Diesen Ausschlußtatbestand hätte sie im einzelnen darzulegen gehabt (vgl. Zöller, ZPO, 24. Auflage 2004, § 531 Rdnr. 34 aA). Ihre Erklärung, ihr Prozeßbevollmächtigter habe nicht alle Seiten der beglaubigten Abschrift der Klageschrift durch Fax vollständig erhalten, genügt hierzu nicht, wobei im übrigen das Fehlen einer Seite eine ausführliche Erwiderung auf die Aufklärungsrüge nicht verhindert hätte, denn diese findet sich immerhin in mindestens 3 Seiten der Klageschrift (s.o.), zumal weiterhin nicht dargelegt worden ist, welche Seite (nicht: Seiten) der Klageschrift dem Prozeßbevollmächtigten der Beklagten von ihr nicht übermittelt wurden. Das konnte im einzelnen auch in der mündlichen Verhandlung trotz eingehender Befragung nicht geklärt werden. Wem und mit welchem Anteil es zuzurechnen ist, daß u.U. infolge eines Übermittlungsversagens oder infolge schlichten Übersehens die ganz erhebliche Klageerwiderung zur Aufklärungsrüge nicht in das erstinstanzliche Prozeßgeschehen eingeführt wurde, bedarf hier aber keiner abschließenden Entscheidung.

Insgesamt ist der Schmerzensgeldbetrag, wie ihn das Landgericht zuerkannt hat, in Anbetracht aller Umstände angemessen, wobei insoweit auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen wird.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97 I, 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO, 543 n.F. ZPO.

Ende der Entscheidung

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