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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Urteil verkündet am 23.09.2004
Aktenzeichen: 20 U 108/03
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 286
ZPO § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
Das Gericht darf von der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens jedenfalls dann nicht absehen, wenn das im Ermittlungsverfahren eingeholte Gutachten nicht alle entscheidungserheblichen Fragen klärt.
Kammergericht Im Namen des Volkes

Geschäftsnummer: 20 U 108/03

verkündet am: 23. September 2004

In dem Rechtsstreit

hat der 20. Zivilsenat des Kammergerichts auf die mündliche Verhandlung vom 23. September 2004 durch seine Richter Budde, Baldszuhn und Balschun für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 24.2.2003 verkündete Urteil der Zivilkammer 6 des Landgerichts Berlin aufgehoben und der Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Landgericht vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I. Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Zahlung eines angemessenen, mindestens 18.000,00 EUR betragenden Schmerzensgeldes wegen der Folgen einer zur Durchführung einer Bandscheibenoperation am 27.4.1999 erfolgten Narkose mit Isofluran.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens erster Instanz, der dort gestellten Anträge und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Das Landgericht hat durch am 24.2.2003 verkündetes Urteil die Klage abgewiesen. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.

Die Klägerin macht mit der rechtzeitigen Berufung unter Bezugnahme auf ihr erstinstanzliches Vorbringen geltend, dass das Landgericht die Beweisaufnahme nicht im notwendigen, angebotenen und möglichen Umfang durchgeführt habe und daher zu einer für sie nachteiligen Entscheidung gekommen sei.

Zu Unrecht habe das Landgericht festgestellt, dass die Hepatitis nicht mit Sicherheit auf die Isofluran-Narkose zurückzuführen sei, denn es habe sich dabei völlig unkritisch auf ein im Rahmen eines Strafverfahrens eingeholtes Gutachten gestützt, das eine andere Zielrichtung, ausgehend von der Klärung strafrechtlicher Schuld, verfolge. Das Landgericht habe auch nicht gewürdigt, dass der rechtsmedizinische Sachverständige es nach Durchsicht der Fachliteratur durchaus für möglich gehalten habe, dass die Narkose mit Isofluran für die Veränderung verantwortlich sein könne, wenn es auch nicht mit der erforderlichen Sicherheit beweisbar sei. Außerdem habe er die Stellungnahme eines Praktikers, eines Pharmakologen oder eines Anästhesisten angeregt. Das Landgericht habe im Übrigen nicht beachtet, dass die behandelnden Ärzte eine medikamentös toxische Leberschädigung diagnostiziert hätten.

Aus den vorgenannten Gründen hätte das Landgericht den angebotenen Beweis eines Sachverständigengutachtens erheben müssen.

Zu Unrecht sei das Landgericht auch davon ausgegangen, dass eine weitergehende Informationspflicht hinsichtlich einer möglichen medikamentösen Hepatitiserkrankung nicht bestanden habe. Sie habe lediglich gewusst, dass eine Hepatitiserkrankung durch Viren in Körperflüssigkeiten übertragen werden könne und dieses Risiko für sich ausgeschlossen. Der Narkosearzt hätte wissen müssen, dass durch das Narkosemittel eine Hepatitis hervorgerufen werden könne und sie entsprechend aufklären müssen. Sie hätte in diesem Fall die Möglichkeit einer örtlichen Betäubung genutzt, da sie wegen anderer Beschwerden regelmäßig Medikamente einnehmen müsse. Die entsprechende Beschwerdelinderung könne nun nach Eintritt der Hepatitiserkrankung nicht mehr erfolgen. Der seither erfolgte alternative Einsatz von Naturpräparaten lindere die Beschwerden nur teilweise.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des am 24.2.2003 verkündeten Urteils des Landgerichts Berlin - 6 O 186/02 - den Beklagten zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 5 % Zinsen über dem Basiszins der EZB ab Klagezustellung zu zahlen;

hilfsweise das Verfahren unter Aufhebung des Urteils an das Landgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass eine Aufklärungspflicht hinsichtlich einer medikamentösen Hepatitis nicht bestehe, weil ein Zusammenhang zwischen einer Isofluran-Narkose und Leberfunktionsstörungen lediglich in Fallberichten einiger Spezialveröffentlichungen diskutiert werde. Außerdem sei die Klägerin über das Risiko sehr seltener Infektionen mit Hepatitisviren sowie anderer schwerwiegender Schädigungen aufmerksam gemacht worden. Über die Ursache des Risikos einer Hepatitiserkrankung sei nicht aufzuklären. Angesichts des offenbarten Risikospektrums und der Bedeutung der genannten Risiken für die allgemeine Lebensführung sei es nicht plausibel, wenn die Klägerin behaupte, sie habe sich bei einem Hinweis auf eine mögliche - weniger schwerwiegende - Arzneimittelhepatitis in einem Entscheidungskonflikt befunden. Ein anderes Narkoseverfahren sei auch nicht möglich gewesen.

Das Landgericht habe auch nicht festgestellt, dass bei der Klägerin überhaupt eine medikamentös-toxische Leberschädigung vorgelegen habe; es habe sich insoweit auch nur um eine Verdachtsdiagnose gehandelt.

Entgegen der Auffassung der Klägerin seien Rechtsmediziner für die Kausalitätsbegutachtung besonders qualifiziert. Da die Sachverständigen die Krankenakte und die einschlägige Literatur ausgewertet hätten, könne das Gutachten eines Anästhesiologen oder eines Pharmakologen keine zusätzlichen Erkenntnisse liefern. Ein Zusammenhang zwischen der Isofluran-Narkose und der Veränderung der Leberfunktionswerte sei danach nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachweisbar. Das Landgericht habe zu Recht die Voraussetzungen des § 286 ZPO als nicht erfüllt angesehen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Die Akten der Staatsanwaltschaft Berlin 54 Js 242/00 liegen dem Senat vor.

II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 511 ff. ZPO) und insofern begründet, als das Verfahren unter Aufhebung des Urteils an das Landgericht zurückzuverweisen ist, weil es unter einem wesentlichen Mangel leidet, der die Anwendung des § 538 Abs.2 Satz 1 Nr.1 ZPO rechtfertigt, denn es ist eine weitere umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich.

Das Landgericht hat den Antrag der Klägerin auf Einholung eines Sachverständigengutachtens übergangen und seiner Entscheidung lediglich das im Ermittlungsverfahren erhobene Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. med. Dr. h. c. nnnnnnn und Dr. med. nnnnnnn zugrunde gelegt.

Der Richter kann zwar von der Erhebung eines Sachverständigengutachtens im Rechtsstreit ausnahmsweise absehen, wenn ein früher erstattetes Gutachten über dieselbe Beweisfrage vorliegt. Reichen die Ausführungen in diesem Gutachten aber nicht aus, um die von der Partei dazu aufgeworfenen - entscheidungserheblichen - Fragen zu klären, ist ein Sachverständiger hinzuzuziehen ( BGH, Urteil vom 6. Juni 2000 - VI ZR 98/99 -, NJW 2000, 3072; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl., E Rdnr. 10). Es kommt auch nicht darauf an, ob die Behauptung einer Partei in der urkundenbeweislich herangezogenen Begutachtung eine Stütze findet oder nicht (BGH a. a. O.).

Das Gutachten im Ermittlungsverfahren ist lediglich zu den pauschalen Beweisfragen erstattet worden, ob bei der Narkose am 27.4.1999 die Regeln der ärztlichen Kunst eingehalten wurden und wenn nicht, ob die Arzneimittelhepatitis durch die Narkose am 27.4.1999 verursacht worden ist. Entscheidungserheblich ist im vorliegenden Fall aber zunächst die Beantwortung der Frage, ob im Zeitpunkt der Operation am 27.4.1999 die Arzneimittelhepatitis ein bekanntes, für die Isofluran-Narkose spezifisches Risiko darstellte, über das gesondert aufzuklären gewesen wäre. Dazu haben sich die Sachverständigen im Ermittlungsverfahren nicht geäußert, sondern nur einzelne Meinungen in der Literatur wiedergegeben, die sich jedoch lediglich auf die Jahre 1998, 1991, 1992 und 1987 beziehen. Sie weisen aber darauf hin, dass es in der Gebrauchs- und Fachinformation des Herstellers Hinweise gäbe, dass durch die Anwendung des Narkosemittels sehr selten Leberschäden (leichte Erhöhung der Leberenzymwerte bis hin zur letalen Lebernekrose) hervorgerufen werden können.

Das Gutachten klärt auch nicht die Frage, ob es eine echte Behandlungsalternative zur Isofluran-Narkose - wie die Klägerin behauptet - gegeben hätte, über die aufzuklären gewesen wäre.

Würde es sich bei der Arzneimittelhepatitis um ein spezifisches Risiko der Isofluran-Narkose handeln, wäre es möglicherweise unter Berücksichtigung der Schwere der Schadensfolge für die Lebensführung der Klägerin ein andersartiges oder schwerer wiegendes Risiko als die durch Viren ausgelöste Hepatitis, die wegen der unstreitig nicht in Betracht zu ziehenden Bluttransfusion unwahrscheinlich erschien. Auch diese Frage ist sachverständig beraten zu klären.

Auch hinsichtlich der beweiserheblichen Frage, ob die Hepatitis der Klägerin durch die Isofluran-Narkose verursacht wurde, ist das Gutachten aus dem Ermittlungsverfahren unbrauchbar, denn es stellt lediglich fest, dass es nach Durchsicht der Fachliteratur nicht "mit der erforderlichen Sicherheit beweisbar" sei, dass die Narkose mit Isofluran für die Veränderungen der Leberfunktionswerte verantwortlich sei. Dabei beziehen sich die Sachverständigen weder auf aktuelle Literatur (wegen des naturwissenschaftlicher Ursachenzusammenhang) noch auf solche zum Zeitpunkt der Narkose (wegen der zum damaligen Zeitpunkt erforderlichen Aufklärung). Außerdem legen sie nicht dar, von welcher erforderlichen Sicherheit sie für den Nachweis ausgehen. Es ist nicht erkennbar, ob die Sachverständigen den zivilrechtlichen Maßstab zu Grunde gelegt und berücksichtigt haben, dass es sich nicht um die überwiegende, wesentliche, richtungsgebende, unmittelbare oder alleinige Ursache handeln muss, sondern dass der bloße "Auslöser" im Sinne einer Mitursache in einem "Ursachenbündel" genügt (vgl. Geiß/Greiner, a. a. O., B Rdnr. 190 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes).

Im Übrigen ist anzuzweifeln, ob die Sachverständigen die erforderliche Sachkunde für die Beantwortung der entscheidungserheblichen Beweisfragen besitzen, denn ihnen fehlt als Rechtsmediziner die Erfahrung des Praktikers, wie ihrer Anregung, eine Stellungnahme eines Pharmakologen oder Anästhesisten einzuholen, zu entnehmen ist.

Danach durfte sich das Landgericht nicht mit der urkundenbeweislichen Verwertung des Gutachtens aus dem Ermittlungsverfahren begnügen, sondern musste schon dem Antrag der Klägerin auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Ursächlichkeit der Isofluran-Narkose für die behauptete Arzneimittelhepatitis nachgehen und im Übrigen von Amts wegen zu den entscheidungserheblichen Fragen sachverständigen Rat einholen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass das landgerichtliche Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht.

Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 7 EGZPO nicht zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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