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Gericht: Kammergericht Berlin
Urteil verkündet am 20.01.2005
Aktenzeichen: 20 U 401/01
Rechtsgebiete: BGB
Vorschriften:
BGB § 823 Abs. 1 | |
BGB § 831 Abs. 1 | |
BGB § 847 Abs. 1 |
Kammergericht Im Namen des Volkes
Geschäftsnummer: 20 U 401/01
verkündet am : 20.01.2005
hat der 20. Zivilsenat des Kammergerichtsauf die mündliche Verhandlung vom 20. Januar 2005 durch seine Richter Budde, Baldszuhn und Balschun für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 4.12.2001 verkündete Urteil der Zivilkammer 13 des Landgerichts Berlin geändert und wie folgt neu gefasst:
1. Der Beklagte wird verurteilt, an dieKlägerin 50.000,00 EUR nebst 4 % Zinsen seit dem 20.8.1999 zu zahlen. 2. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen und weiteren immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 6. 8. 1998 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages zuzüglich 10 % abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages zuzüglich 10 % Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes, das 50.000,00 EUR nicht unterschreiten sollte sowie die Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich sämtlicher materieller und weiterer immaterieller Schäden aus dem Unfallgeschehen am 6.8.1998 anlässlich einer stationären Behandlung wegen einer Hirnblutung. Hilfsweise verlangt sie in II. Instanz auch die Zahlung von 214.243,35 EUR sowie die Feststellung der Ersatzpflicht sämtlicher weiterer materieller und immaterieller Schäden.
Die Klägerin sollte am 6.8.1998 in die Rehabilitationsklinik Knnn verlegt werden. In der Nacht zuvor konnte sie nicht schlafen und war sehr unruhig. Ihr Bett wurde auf den Flur gefahren, weil sie immer wieder über das Gitter steigen wollte. Gegen 6.45 Uhr wurde sie vom Frühdienst wieder in ihr Zimmer gefahren und frisch gemacht. Da sie wieder unruhig wurde und über das Gitter steigen wollte, wurde sie angezogen, in einen Rollstuhl gesetzt und mit einem Bauchtuch angebunden. Der Rollstuhl mit der Klägerin wurde zwischen 7.05 Uhr und 7.15 Uhr vor die Stationskanzel der Station 46 gestellt. Die Klägerin saß in einem faltbaren Leichtgewichtsrollstuhl "Servomobil Standardrollstuhl" des Herstellers nnn Pnn GmbH, der im Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenkassen unter Nr. 18.50.02.0065 gelistet ist. Die Fußstützen waren heruntergeklappt, die Bremsen eingestellt und technische Mängel nicht erkennbar. Die Träger bzw. Standleiste der Fußstützen dienten als Kippschutz. Ein zusätzlicher Kippschutz war nicht vorhanden. Bei einem vom Klinikpersonal vorgenommenen Selbstversuch ist ein Kippen des Stuhles trotz raumgreifender und plötzlicher Bewegungen nicht gelungen. Gegen 7.45 Uhr wollte die Klägerin aufstehen und fiel mit dem Rollstuhl um. Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens erster Instanz, der dort gestellten Anträge und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Das Landgericht hat durch am 4.12.2001 verkündetes Urteil die Klage abgewiesen. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.
Die Klägerin macht mit der rechtzeitigen Berufung geltend, dass das Landgericht rechtsfehlerhaft Wertungen des Sachverständigen hinsichtlich der Sorgfaltswidrigkeit ihrer Fixierung auf dem Rollstuhl übernommen habe, ohne selbst zu entscheiden, ob das Verhalten des Pflegepersonals eine vertragliche Pflichtverletzung oder unerlaubte Handlung darstelle. Auf Grund der Vorerkrankung und des Selbstgefährdungsrisikos hätte ihr eine Betreuungsperson zur Verfügung gestellt werden müssen. Personalmangel oder Organisationsschwierigkeiten könnten den Beklagten nicht entlasten. Auch der Sachverständige Prof. Dr. Snnnn habe in seinem Gutachten vom 30.4.2001 festgestellt, dass die Sitzwache die geeignete Maßnahme gewesen sei. Seine weiteren Ausführungen, dass eine Sitzwache die Unfallgefahr höchstens reduziere, seien nicht nachvollziehbar.
Ein stundenlanges unbewegliches Sitzen auf dem Krankenhausflur vor dem leeren Schwesterndienstzimmer ohne Betreuungsperson bis zu ihrer Verlegung in die Reha-Klinik sei ihr jedenfalls nicht zumutbar gewesen. Auch sei ihr Ehemann am Morgen des Unfalltages nicht von der Notwendigkeit der Betreuung benachrichtigt worden; dieser hätte sich um sie gekümmert (unstreitig).
Das Landgericht habe auch verkannt, dass der verwendete Faltrollstuhl nicht geeignet gewesen sei, eine unruhige Person darin gefahrlos zu fixieren, weil er bei Aufstehversuchen zum Kippen neige. Ein psychiatrischer Sachverständiger könne solche rein technischen Fragestellungen nicht klären.
Der Feststellungsantrag sei entgegen der Ansicht des Landgerichts zulässig, weil der Schaden noch nicht endgültig bezifferbar sei.
Hinsichtlich des bezifferten Hilfsantrages mache sie Kosten für die Reha-Maßnahmen, für häusliche Krankenpflege, Haushaltshilfe, Betreuungskosten durch den Ehemann, Gesundheitsaufwendungen, Spezialtransporte etc. geltend.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Berlin vom 4.12.2001 - 13 O 307/99
1. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, das jedoch einen Betrag in Höhe von 50.000,00 EUR nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit nicht unterschreiten sollte,
2. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, sämtliche materiellen und weiteren immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 6.8.1998 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen;
hilfsweise
1. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 214.243,35 EUR sowie ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, das jedoch einen Betrag in Höhe von 50.000,00 EUR nicht unterschreiten sollte,
2. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 6.8.1998 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass nach den vorliegenden Gutachten seinen Mitarbeitern kein Vorwurf gemacht werden könne, weil die eingeleiteten Maßnahmen angemessen und von gebührender Sorgfalt geprägt gewesen seien. Neben der Anbringung eines Bauchtuches sei die Klägerin auch vor die Kanzel gefahren worden, wo sich fortlaufend Pflegepersonal befinde, das unruhige Patienten überwachen könne.
Die Fixierung in einem Bett sei nicht angemessen gewesen, zumal die Klägerin nur zeitweise unruhig gewesen sei. Eine Sitzwache hätte die Unruhe der Klägerin möglicherweise noch gesteigert und die Unfallgefahr gesteigert.
Der Unfall sei gemäß § 539 Abs.1 Nr. 17a RVO in die gesetzliche Unfallversicherung einbezogen. Der Sturz mit einem zum Klinikinventar gehörenden Rollstuhl sei ein Unfall durch eine dem Krankenhaus eigentümliche Gefahrenquelle. Nicht aber stehe der Unfall mit einer ärztlichen oder pflegerischen Leistung in Zusammenhang, denn die Klägerin habe unstreitig nach Abschluss ihrer stationären Behandlung in dem Rollstuhl darauf gewartet, von einem externen Krankenwagen abgeholt zu werden. Die Beförderung sei für den frühen Morgen vorgesehen gewesen. Die Umgurtung mit einem Bauchtuch habe ihrer Sicherheit dienen sollen, ähnlich wie ein Sicherheitsgurt.
Aber selbst wenn von einer unfallmäßigen Schädigung in Folge ärztlicher oder pflegerischer Fehlleistungen auszugehen sei, greife nicht die für Fälle des " voll beherrschbaren Gefahrenbereichs" geltende Beweislastumkehr hinsichtlich des objektiven Pflichtverstoßes und des Verschuldens, weil die Entscheidung, die Klägerin vorübergehend in den Rollstuhl mit umgelegtem Bauchtuch vor die Kanzel zu setzen, dem genuinen Gebiet ärztlicher und pflegerischer Berufstätigkeit entstamme.
Die Benutzung eines Rollstuhls unterliege nicht der Verrichtungssicherheit des Pflegepersonals, sondern es komme allein auf die Rollstuhlfähigkeit der Klägerin an. Diese sei gegeben gewesen, denn die Klägerin habe schon zuvor beanstandungsfrei längere Zeit in einem Rollstuhl gesessen. Es bedürfe besonderer Sachkunde darüber, auf welche Weise und auf Grund welcher Einwirkung der Rollstuhl zum Kippen gebracht worden sei bzw. gebracht werden könne; daher sei ein Sachverständigengutachten auf dem Gebiet des Medizinproduktwesens einzuholen. Rollstühle der verwendeten Art hätten bereits seit Jahrzehnten in der Abteilung Verwendung gefunden, ohne dass es zu Unfällen gekommen wäre. Im Übrigen hätten in der Kanzel eine Ärztin und fünf Krankenschwestern verkehrt, die die Klägerin hätten beobachten können.
Hilfsweise für den Fall, dass er andernfalls beweisfällig bliebe, räume er ein, dass sich die Klägerin um 7.45 Uhr plötzlich erhoben, extrem gestreckt, das Bauchtuch gedehnt, Übergewicht bekommen habe und seitlich mit dem Rollstuhl gestürzt sei.
Da die Klägerin rehabilitationsfähig gewesen sei, sei sie auch nicht mehr ständig beaufsichtigungspflichtig gewesen. Auch der Sachverständige Prof. Dr. Snnnn habe in seinem Gutachten vom 30.4.2001 die Einschätzung der Krankenschwester und ihr Handeln unter den obwaltenden Umständen " angemessen und von gebührender Sorgfalt geprägt" gesehen. Ein heftiger Unruheschub sei nicht zu erwarten gewesen. Eine zusätzliche Sitzwache hätte am Morgen auch organisatorisch nicht mehr angefordert werden können. Sie hätte auch eine Steigerung der Unruhe und von Angstzuständen hervorrufen können. Der Ehemann habe unstreitig ohnehin sein Erscheinen für den Morgen zugesagt.
Die geltend gemachten immateriellen und materiellen Schäden seien nicht eingetreten. Die Klägerin sei bereits vor dem Unfallereignis ein schwerstkranker Mensch gewesen und hätte der Betreuung bedurft.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Die Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin - 61 Js 2682/98 - liegen dem Senat vor. Der Senat hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 23.10.2003 durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das medizinische Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Wnnnn Bnn vom 5.8.2004 verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 511 ff. ZPO a.F.) und begründet.
1. Der Klägerin steht der geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch nach §§ 823 Abs.1, 831 Abs.1, 847 Abs.1 BGB in Höhe von 50.000,00 EUR zu.
Zu Unrecht meint das Landgericht, dass ein pflichtwidriges Verhalten des Pflegepersonals, das wegen seiner Stellung als Erfüllungs- und Verrichtungsgehilfen des Beklagten auch diesem zuzurechnen wäre, nicht feststellbar ist.
Zwar ist den Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen Prof. Dr. Snnnn in seinem Gutachten vom 30.4.2001 zu entnehmen, dass die Klägerin in der Woche vor dem 6.8.1998 "rollstuhlfähig" gewesen ist und trotz bestehender Unruhezustände regelmäßig allein auf Stühlen oder im Rollstuhl gesessen hat, ohne dass es zu irgendwelchen Komplikationen gekommen wäre. Die Klägerin war jedoch in der Nacht zum 6.8.1998 verstärkt unruhig und wollte immer wieder entgegen den Anordnungen des Pflegepersonals das Bett verlassen, wobei sie sogar versuchte, über das Bettgitter zu klettern. Das Pflegepersonal half der Klägerin dann beim Waschen und Anziehen und stellte sie mit einem Bauchtuch in dem Rollstuhl angebunden vor die Stationskanzel, wo sie auf den Transport in die Reha-Klinik warten sollte. Der Sachverständige Prof. Dr. Snnnn folgert aus diesen Maßnahmen des Pflegepersonals, dass von den Pflegekräften eine besondere Gefährdung der Klägerin vor dem Unfallereignis gesehen wurde und ihr durch das Anlegen des Bauchtuchs das selbstständige, sie selbst gefährdende Aufstehen erschwert werden sollte. Nach seiner Beurteilung hat das Pflegepersonal die Verfassung der Klägerin und damit ihre besondere Gefährdung richtig eingeschätzt. Soweit der Sachverständige jedoch ausführt, das Pflegepersonal habe sich mit der gebührenden Sorgfalt für die getroffenen Sicherungsmaßnahmen entschieden, kann dem nicht gefolgt werden, weil eine solche Feststellung voraussetzt, dass der verwendete Rollstuhl zur Sicherung einer unruhigen Patientin mit einem Bauchtuch technisch geeignet ist. Eine solche Prüfung hat der Sachverständige nicht vorgenommen. Der Sachverständige Prof. Dr. Snnnn hat dazu in seinem für das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren erstatteten Gutachten vom 29.2.2000 ausgeführt, dass dafür gesorgt werden muss, dass der Patient bei bestehender Unruhe aus der sitzenden Position nicht herausfallen kann. Insofern müsse dafür gesorgt werden, dass die entsprechende Sitzgelegenheit, ggfs. bei zusätzlicher fachgerechter Fixierung, standfest und umstürzsicher ist.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ( BGH, Urteil vom 18.12.1990 - Az. VI ZR 169/90 - NJW 1991, 1540; Urteil vom 25.6.1991 - Az. VI ZR 320/90 - NJW 1991, 2960) muss in einer Klinik ein Sturz des Patienten bei Bewegungs- und Transportmaßnahmen ausgeschlossen werden; diese Aufgabe ist Bestandteil des Behandlungsvertrages und damit Teil der Verpflichtung des Krankenhausträgers zu sachgerechter pflegerischer Betreuung. Sie obliegt dem Krankenhausträger und dem Pflegepersonal auf Grund ihrer Garantenstellung für die übernommene Behandlungsaufgabe auch im Rahmen des Deliktsrechts. Dass es sich bei dem Setzen der Klägerin in einen Rollstuhl um eine Transportmaßnahme gehandelt hat, kann wohl angesichts der bevorstehenden Verlegung nicht ernsthaft bezweifelt werden, auch wenn die Klägerin längere Zeit auf dem Flur wartete.
Dem Vortrag der Klägerin, es habe sich um einen faltbaren Leichtgewichtsrollstuhl gehandelt, der für den hier ebenfalls verfolgten Verwendungszweck - Verhinderung selbstständigen Aufstehens der Klägerin - nicht geeignet gewesen sei, kann der Beklagte nicht mit einfachem Bestreiten entgegentreten, denn es handelt sich um einen Bereich, in dem allein der Beklagte die wesentlichen Tatsachen, wie Fabrikat, Bedienungsanleitung und zulässige Verwendungsmöglichkeiten, kennt ("sekundäre Behauptungslast", Zöller/Greger, ZPO, 25. Aufl. Vor § 284 Rdnr. 34 m. w. N.).
Es ist vielmehr auch Sache des Krankenhausträgers, darzulegen und zu nachzuweisen, dass der Vorfall nicht auf einem pflichtwidrigen Verhalten der Pflegekräfte beruht, weil es auch hinsichtlich der Frage der Geeignetheit eines Rollstuhls für die Unterbindung von selbstständigen Gehversuchen eines Patienten um Risiken aus dem Krankenhausbetrieb geht, die von dem Träger der Klinik und dem dort tätigen Personal voll beherrscht werden können (BGH a.a.O.) Der Beklagte hat jedoch nicht dargelegt, dass der für die Mobilisierung der Patienten vorgesehene Rollstuhl auch geeignet ist, unter Verwendung eines "Bauchtuches" eine unruhige Patientin gefahrlos am selbstständigen Aufstehen zu hindern. Aus der vorgelegten Bedienungsanleitung ergibt sich vielmehr, dass übermäßiges Beugen nach vorn und zu den Seiten zu vermeiden ist, da Kippgefahr bestehe. Zudem müssen beim Ein- und Aussteigen die Fußbretter nach oben geklappt und die Feststellbremse angezogen sein. Hier waren jedoch die Fußstützen ausgeklappt, als die Klägerin versuchte, aus dem Rollstuhl aufzustehen. Der Beklagte hat auch nicht dargelegt, dass die Feststellbremse angezogen war und dass die Klägerin von den Pflegekräften auf die Kippgefahr hingewiesen worden ist. Soweit nicht ersichtlich ist, aus welchen Gründen die Klägerin mit dem Rollstuhl gestürzt ist, geht auch dies zu Lasten des Beklagten. Der Beklagte hat insoweit nur vorgetragen, dass er hilfsweise einräume, dass sich die Klägerin um 7.45 Uhr plötzlich erhoben, extrem gestreckt, das Bauchtuch gedehnt, Übergewicht bekommen habe und seitlich mit dem Rollstuhl gestürzt sei. Diese Darstellung des Geschehensablaufs ist nicht überzeugend, da nicht denkbar ist, dass sich die Klägerin erst erhoben und dann gestreckt und das Bauchtuch gedehnt haben soll. Schon die Art des Bauchtuches und dessen Befestigung sind nicht dargelegt. Der Beklagte hat selbst mit seinem Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens auf dem Gebiet des Medizinproduktwesens zu der Frage, "auf welche Weise und auf Grund welcher Einwirkung der Rollstuhl zum Kippen gebracht worden sei bzw. gebracht werden könne" zu erkennen gegeben, dass ihm weder die Gründe noch der genaue Ablauf des Unfallgeschehens bekannt sind. Ein Sachverständigengutachten kann sich daher nur auf Vermutungen und Hypothesen stützen, nicht jedoch auf festgestellte Tatsachen.
Auch das Vorbringen des Beklagten, es habe sich nicht um einen Fall des voll beherrschbaren Gefahrenbereichs, für den eine Beweislastumkehr gelte, gehandelt, sondern um eine Entscheidung des Pflegepersonals, die dem genuinen Gebiet ärztlicher und pflegerischer Tätigkeit entstamme, führt nicht weiter.
Zwar mag die Entscheidung darüber, ob eine Patientin "rollstuhlfähig" ist, eine medizinische Frage betreffen. Insofern hat das Sachverständigengutachten des Prof. Dr. Snnnn ergeben, dass das Klinikpersonal angesichts der gesundheitlichen Situation der Klägerin und der bisherigen Erfahrungen mit ihr davon ausgehen durfte, dass die Klägerin zur Mobilisierung in einen Rollstuhl gesetzt werden durfte. Hier diente der Rollstuhl jedoch nicht nur der Mobilisierung und dem Transport der Klägerin, sondern auch ihrer Ruhigstellung im Sinne einer Verhinderung von selbstständigen Gehversuchen. Ob der Rollstuhl für diesen Zweck ebenfalls geeignet war, betrifft aber eine Frage der Gewähr einwandfreier Voraussetzungen für eine sachgemäße und gefahrlose pflegerische Betreuung.
Da nicht gleichzeitig eine Sitzwache abgestellt wurde, die einer erhöhten Gefahr des Umkippens des Rollstuhls entgegenwirken konnte, kann nicht festgestellt werden, dass den Anforderungen an die Sorgfaltspflichten, die dem Pflegepersonal in einem Krankenhaus gegenüber den Patienten obliegen, Genüge getan wurde. Dieser Beurteilung steht auch nicht entgegen, dass der Rollstuhl zur Beaufsichtigung vor die Stationskanzel gestellt wurde, denn es ist nicht ersichtlich, welche Dienstkräfte sich dort tatsächlich längere Zeit aufhielten, welche Aufgaben sie wahrnahmen, wem die Beobachtung der Klägerin konkret oblag und ob ein Einschreiten bei heftigen Bewegungen oder einem Aufstehversuch rechtzeitig genug möglich gewesen wäre. Der Vortrag des Beklagten, dass die Klägerin Tage zuvor bereits unbeanstandet in einem Rollstuhl gesessen habe, führt ebenfalls nicht weiter, weil nicht ersichtlich ist, dass sie bei den Gelegenheiten zuvor so unruhig war, dass sie mit einem Bauchtuch festgebunden werden musste und daher an diese Maßnahme gewöhnt war und damit umzugehen wusste.
Auch dass andere Vorbeugungsmaßnahmen nach den Ausführungen des Sachverständigen möglicherweise für die Klägerin nachteilige Wirkungen gehabt hätten, kann keine andere Beurteilung rechtfertigen, weil auf jeden Fall die Anordnung einer psychologisch geschulten Sitzwache, die auch beruhigend oder helfend auf die Klägerin hätte einwirken können, geeignet gewesen wäre. Der Sachverständige Prof. Dr. Snnnn hält in seinem Gutachten vom 30.4.2001 ( Bl. 88 d. A.) eine solche Sitzwache am ehesten für angemessen.
Soweit der Krankenhausträger auf Antrag des Pflegepersonals nicht kurzfristig in der Lage ist, eine Sitzwache zur Vermeidung einer akuten Gefährdung des Patienten zur Verfügung zu stellen, handelt es sich um ein Organisationsverschulden, für das er nach § 823 BGB haftet.
Eine Haftung des Beklagten entfällt entgegen der Ansicht des Beklagten auch nicht, weil die medizinische Behandlung und die pflegerische Betreuung im Unfallzeitpunkt bereits abgeschlossen gewesen seien.
Zwar war tags zuvor die Entlassungsuntersuchung abgeschlossen worden, sodass die medizinische Behandlung endete. Jedoch schuldete der Beklagte bis zur endgültigen Entlassung eine ordnungsgemäße Betreuung und Pflege durch das medizinische Hilfspersonal, die zum Inhalt hatte, die Klägerin vor Schäden zu bewahren. Da die Klägerin unstreitig nicht in der Lage war, sicher ohne Hilfsperson zu laufen, oblag es dem Beklagten dafür Sorge zu tragen, dass die Klägerin bis zur Abholung durch einen externen Krankenwagen entweder Unterstützung beim Gehen erhielt oder an unreflektierten Gehversuchen gehindert wurde. Wenn der Beklagte nunmehr entgegen seinem bisherigen Vortrag vorbringt, das Anbringen des Bauchtuches habe wie ein Sicherheitsgurt im Kraftfahrzeug der Sicherheit der Klägerin gedient, trifft dies nicht den angestrebten Verwendungszweck in dem Fall der Klägerin. Nach dem Unfallbericht des Oberarztes Veelken vom 6.8.1998 sei die Klägerin mit einer Bauchbinde am Stuhlwagen "gestützt" worden, um zu verhindern, dass sie unbemerkt aufstehe. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Klägerin - im Gegensatz zu einem Sicherheitsgurt - überhaupt in der Lage gewesen wäre, die Bauchbinde selbst zu entfernen. Zudem wurde sie zur Überwachung vor die Stationskanzel gefahren, sodass selbst das Pflegepersonal - zu Recht - davon ausging, dass die Patientin noch nicht entlassen war.
Der Sturz mit dem Rollstuhl führte zu einem akuten subduralen Hämatom über der rechten Hirnhälfte und zu einer raschen Kompression des Gehirns. Hierdurch ist es zu einem apallischen Syndrom gekommen, bei dem das Großhirn vom Stammhirn in Höhe des Mittelhirns abgekoppelt wird. Zwar lag bei der Klägerin schon eine primäre Schädigung durch die Aneurysmablutung vor, die zu einer gewissen Hilfsbedürftigkeit bei ihrer Versorgung und bei alltäglichen Verrichtungen geführt hatte, jedoch ist das Vorliegen der Pflegestufe III als Schwerstpflegefall nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Bnn in seinem Gutachten vom 5.8.2004 auf den Sturz zurückzuführen. Vor dem Unfallereignis konnte die Klägerin nach dem Verlegungsbericht an die Klinik Bnnn mit Gehwagen auf dem Stationsflur laufen. Sie aß und trank mit wenig Hilfe.
Insgesamt ist es durch die weitere Gehirnblutung zu einer ungünstigen Verstärkung und zu einem Neuhinzutreten von Schädigungen gekommen, so dass die sturzbedingte Hirnschädigung als mitursächlich für das Vorliegen des jetzigen Beschwerdebildes bei der Klägerin angesehen werden muss.
Vorschäden durch die Aneurysmablutung sind bei der Kausalität nicht zu berücksichtigen, weil sich hier nicht im Rahmen des Gesamtschadens im Sinne einer Teilkausalität differenzieren lässt, inwieweit tatsächlich Beschwerden ausschließlich auf den Vorschaden zurückzuführen sind, die ohnehin aufgetreten wären, und inwieweit Beschwerden ausschließlich durch den Sturz bedingt sind. In diesen Fällen verbleibt es bei der Einstandspflicht für den gesamten Schaden -Gesamtkausalität- (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl., Kap. B III Rdnr.217).
Die Höhe des an die Klägerin zu zahlenden Schmerzensgeldes ist unter Berücksichtigung der von der Klägerin erlittenen Beeinträchtigungen einerseits und der Schwere des den Beklagten treffenden Unrechtsvorwurfs andererseits zu ermitteln, wobei auch die Ausgleichsfunktion für die Verletzte zu berücksichtigen ist. Es soll der Geschädigten ein angemessener Ausgleich für diejenigen Schäden geboten werden, die nicht vermögensrechtlicher Art sind.
Grundlage für das der Klägerin zu gewährende Schmerzensgeld ist, dass sich die Klägerin in Folge des Sturzes noch über ein Jahr mit kurzen Unterbrechungen in stationäre Behandlung begeben und sich zwei Operationen unterziehen musste sowie einen schweren Dauerschaden erlitten hat.
Die Klägerin musste nach dem Sturz unter Bougierung des alten Tracheostomas intubiert werden. Es wurde notfallmäßig eine Kraniotomie (operative Öffnung des Schädels) durchgeführt und eine Hirndrucksonde angelegt. Erst am 12.9.1998 reagierte sie nach bisherigem Koma wieder auf Ansprache. Im Zeitraum vom 23.9.1998 bis 6.4.1999 musste die Klägerin im Rahmen von Frührehabilitationsmaßnahmen stationär betreut werden. Bei der Aufnahme im Mn Bnnn Zentrum am 11.6.1999 bestand eine aphasische Sprache (Störung des Sprechvermögens), eine Sitzinstabilität und ein gesteigerter Muskeltonus (Muskelanspannung). Der Schluckakt war deutlich gestört. Die grobe Kraft war links schwach, rechts fehlend, die Sensibilität nicht prüfbar. Erst am 5.10.1999 wurde das Tracheostoma operativ verschlossen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Bnn in seinem Gutachten vom 5.8.2004 ist die Klägerin nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen; in allen Bereichen des täglichen Lebens ist sie auf fremde Hilfe angewiesen und muss im Rollstuhl gefahren werden, denn sie leidet unter einer beiderseitigen Bewegungseinschränkung, die sich einseitig betont zeigt. Ihre Bewegungsabläufe sind verlangsamt.
Schmerzensgeldmindernd ist zu berücksichtigen, dass bei der Klägerin zum Zeitpunkt des Sturzes noch ausgeprägte Ausfallerscheinungen vorhanden waren. So litt sie unter psychischen Schäden wie gelegentlicher Verwirrtheit und Halluzinationen. Sie benötigte bei der Versorgung im täglichen Leben noch unterstützende Hilfestellung. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Bnn bestand jedoch eine Chance, die Ausfallerscheinungen zur Rückbildung zu bringen, weil der wissenschaftlichen Literatur zu entnehmen ist, dass diese Blutungen mit Bildung von Hydrozephalus und zahlreichen notwendigen Operationen immer zu einer Defektheilung führen.
Insgesamt erscheint schon angesichts der erlittenen massiven Beeinträchtigungen nach dem Sturz und der verstärkten Ausfallerscheinungen, die die Klägerin jetzt zu einem Schwerstpflegefall machen, ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,00 EUR als angemessen.
2. Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist die Feststellungsklage nicht nur hinsichtlich des auf dem Unfallgeschehen beruhenden weiteren immateriellen Schadens, sondern auch hinsichtlich sämtlicher materieller Schäden zulässig, weil der Leistungsantrag nicht den ganzen zu erwartenden Schaden hinsichtlich des Pflegeaufwandes, der Medikamentation und des anstehenden behindertengerechten Umbaues des Wohnhauses abdecken kann (vgl. BGH NJW-RR 1986, 1026).
Die Feststellungsklage ist auch begründet, denn der Beklagte haftet wegen der auf dem Unfallgeschehen beruhenden materiellen Schäden nicht nur nach §§ 823 Abs.1, 831 Abs.1 BGB, sondern auch wegen einer positiven Forderungsverletzung des Behandlungsvertrages i. V. m. § 278 BGB.
Dabei hat die Klägerin ihrer Darlegungslast sowohl hinsichtlich der objektiven Pflichtverletzung als auch des Verschuldens genügt, indem sie vorgetragen hat, dass sie im Gefahrenbereich des Beklagten aus dem Rollstuhl gestürzt sei. Sie muss nicht nachweisen, dass der Unfall auf einem Verschulden des Pflegepersonals oder einem Organisationsverschulden des Krankenhausträgers beruht. Vielmehr hat der Beklagte sich insoweit zu entlasten.
Sofern es sich um Risiken insbesondere aus dem Krankenhausbetrieb handelt, die von dem Träger der Klinik und dem dort tätigen Personal voll beherrscht werden können, wie z. B. in Bezug auf die Organisation des Behandlungsgeschehens und den Zustand und Geeignetheit der dazu benötigten Materialien und Geräte, hat der Beklagte nach den Grundsätzen des § 282 BGB den Nachweis eines pflichtgemäßen Verhaltens des Pflegepersonals zu führen. Dies ist dem Beklagten - wie bereits ausgeführt - nicht gelungen. Weder hat der Beklagte dargelegt, dass der konkret verwendete Rollstuhl für den hier eingesetzten Verwendungszweck geeignet, standfest und sicher war, noch hat er vorgetragen, inwieweit die Klägerin sorgfältig überwacht werden konnte.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 Abs.1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO nicht zuzulassen.
Ende der Entscheidung
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