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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Urteil verkündet am 14.06.2007
Aktenzeichen: 20 U 5/06
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 296 Abs. 1
ZPO § 411 Abs. 4 Satz 2
ZPO § 538 Abs. 2 Nr. 1
1. Ergänzender Vortrag oder Beweisantritt in Bezug auf ein Gutachten kann nach §§ 296 Abs. 1, 411 Abs. 4 Satz 2 ZPO nur dann wirksam zurückgewiesen werden, wenn mit der (zuzustellenden) Fristsetzung unmissverständlich auf den möglichen Ausschluss hingewiesen und die Frist (in Kammersachen) von der Kammer und nicht nur von dem Vorsitzenden gesetzt worden ist.

2. Einem Anhörungsantrag ist - abgesehen von den Fällen der Präklusion oder des Rechtsmissbrauchs - regelmäßig auch denn nachzugehen, wenn das Gericht keinen Aufklärungsbedarf sieht.

3. Eine Aufhebung und Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist nicht nur auf krasse Ausnahmefälle beschränkt. Im Arzthaftungsprozess wird in der Regel das Erfordernis einer umfangreichen oder aufwändigen Beweisaufnahme im Sinne von § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO anzunehmen sein.


KAMMERGERICHT Im Namen des Volkes

Geschäftsnummer: 20 U 5/06

Verkündet am: 14. Juni 2007

In dem Rechtsstreit

hat der 20. Zivilsenat des Kammergerichts auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2007 durch seine Richter Budde, Baldszuhn und C. Kuhnke für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 25. Oktober 2005 verkündete Urteil der Zivilkammer 13 des Landgerichts Berlin aufgehoben und der Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt von den Beklagten Schmerzensgeld (mindestens 9.000 €) sowie Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für materielle und weitere immaterielle Schäden aus der Behandlung am 3. Mai 2003.

Sie macht geltend, die Beklagten hätten bereits am 3. Mai 2003 das Vorliegen der Appendizitis diagnostizieren müssen. Sie habe sich kaum noch bewegen können. Die Verdachtsdiagnose eines viralen Infekts mit Begleitgastroenteristis sei durch nichts belegt gewesen. Durch die nicht indizierte Schmerzbehandlung würden die Symptome einer Appendizitis und einer Peritonitis unterdrückt und daher die Diagnostik behindert, sodass die indizierte Behandlung weiter hinausgezögert worden sei. Sie sei ferner nicht auf eine erforderliche Wiedervorstellung bei Verschlechterung der Beschwerden hingewiesen worden.

Wegen des Parteivorbringens erster Instanz, der dort durchgeführten Beweisaufnahme und gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Der Vorsitzende hat den Parteien mit gegen Empfangsbekenntnis zugestellter Verfügung vom 7. April 2005 Gelegenheit gegeben, sich innerhalb eines Monats zu dem Gutachten zu äußern.

Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 9. Mai 2005 Stellung genommen und im Termin ferner die Anhörung des Sachverständigen beantragt sowie einen Schriftsatz vom selben Tag übergeben, in dem zu konkret aufgeführten Fragen die Einholung eines ergänzenden Sachverständigengutachtens eines Pädiaters bzw. Kinderchirurgen, hilfsweise die Anhörung des bisherigen Sachverständigen beantragt worden ist.

Das Landgericht hat durch am 25. Oktober 2005 verkündetes Urteil die Klage abgewiesen. Einen Befunderhebungsmangel habe die Klägerin nicht bewiesen. Eine Blinddarmentzündung sei nicht zu diagnostizieren gewesen. Ob eine ärztliche Beratung unterlassen worden sei, könne dahin stehen, denn die Klägerin habe nicht dargelegt, sich andernfalls früher erneut in ärztliche Behandlung begeben zu haben. Die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass die Medikation fehlerhaft gewesen sei. Ihre Angriffe im Schriftsatz vom 9. Mai 2005 rechtfertigten nicht die Fortsetzung der Beweisaufnahme, weil der Gutachter die Argumente bereits erörtert habe. Der Vortrag im Schriftsatz vom 25. Oktober 2005 gebe ebenfalls keine Veranlassung für eine weitere Beweisaufnahme. Jedenfalls sei der unter entsprechendem Beweisantritt erfolgte Vortrag mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2005 als verspätet zurückzuweisen, weil dieser nach Ablauf der Frist zur Stellungnahme auf das Sachverständigengutachten erfolgt sei. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.

Mit ihrer rechtzeitigen Berufung macht die Klägerin geltend, das Landgericht hätte auch mit Rücksicht auf ihren Schriftsatz vom 9. Mai 2005 von Amts wegen die offenen Beweisfragen klären müssen, zumal diese vom Sachverständigen auch so dargelegt worden seien. Weiterhin hätte es ihrem Antrag auf Anhörung des Sachverständigen stattgeben müssen.

Sie meint, es hätte geklärt werden müssen, ob ihr eine Wiedervorstellung angeraten worden sei.

Ferner hätte die Ausprägung der Schmerzen geklärt werden müssen, weil deren Ausmaß Rückschlüsse auf einen möglichen (nicht dokumentierten) Befund zulasse. Der Sachverständige habe die Medikation auf der Grundlage des dokumentierten Befundes als auffällig bezeichnet. Die von ihr dargelegten heftigen Schmerzen hätten dann zu der Diagnose des Verdachts auf eine Appendizitis führen müssen.

Aus ihrer Rüge, sie sei nicht auf eine Wiedervorstellung im Krankenhaus bei Verschlechterung ihres Zustandes hingewiesen worden, ergebe sich, dass sie sich früher ins Krankenhaus begeben hätte. Sie habe mit Schriftsatz vom 21. Februar 2005 vorgetragen, dass die Schmerzsymptomatik sich bereits in der Nacht und am frühen Morgen des 5. Mai 2003 wieder eingestellt habe. Selbstverständlich hätte sie sich am Abend oder in der Nacht des 4. Mai 2005 erneut in der Klinik der Beklagten vorgestellt, wenn die erforderliche Sicherungsaufklärung erfolgt wäre. Auch diese Frage habe der Sachverständige für klärungsbedürftig gehalten.

Die Bestimmung des CRP-Wertes wäre erforderlich gewesen. Die von dem Sachverständigen genannten weiteren Diagnosen wären angesichts ihres damaligen Alters (fast 15 Jahre) eher unwahrscheinlich, zumindest weniger wahrscheinlich als eine Appendizitis gewesen.

Das Landgericht hätte ihrem (in der mündlichen Verhandlung) gestellten Antrag auf Anhörung des Sachverständigen entsprechen müssen.

Die Klägerin beantragt,

Ziffer 1 des am 25. Oktober 2005 verkündeten Urteils wie folgt abzuändern:

1. die Beklagten zu 1., zu 2. und zu 3. werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, welches mindestens jedoch 9.000 € nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit betragen soll.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche materiellen und weiteren immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr aufgrund der fehlerhaften Behandlung seit dem 3. Mai 2003 entstanden sind und zukünftig noch entstehen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

hilfsweise,

den Rechtsstreit unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils vom 25. Oktober 2005 an das Gericht erster Instanz zur erneuten Entscheidung vorzulegen.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt vor, die Klägerin übersehe, dass das Leitsymptom eines Druckschmerzes im rechten unteren Abdominalquadranten gefehlt habe. Die weiteren von ihr aufgezeigten Untersuchungsmaßnahmen beträfen ersichtlich Kinder, die altersbedingt nicht in der Lage seien, genaue Schmerzangaben zu machen.

Die Frage zum ärztlichen Hinweis, der zudem erteilt worden sei, habe offen bleiben können. Zudem wäre es selbstverständlich, dass sich die Klägerin bei Fortdauer oder Verschlechterung der Beschwerden in ärztliche Behandlung zu begeben hätte.

Schmerzen seien subjektiv. Art und Umfang der Medikation stünden im ärztlichen Ermessen. Die Behauptung, bei Vorliegen stärkerer Schmerzen hätte sich die Verdachtsdiagnose einer Appendizitis stellen lassen, werde bestritten.

Nach dem Vorbringen der Klägerin hätten die Beschwerden erst in der Nacht vom 4. zum 5. Mai 2003 zugenommen und sie habe sofort die Kinderärztin aufgesucht. Der neue Vortrag der Klägerin in der Berufungsbegründung, sie hätte sich am Abend oder der Nacht noch im Krankenhaus eingefunden, weiche hiervon ab. Die Unterlassung habe daher jedenfalls den Zeitpunkt der Wiedervorstellung nicht beeinflusst.

Ein kinderchirurgisches oder pädiatrisches Zusatzgutachten hätte nicht eingeholt werden müssen. Der Sachverständige verfüge über die notwendige Sachkunde und habe auch kinderchirurgische und kinderärztliche Fachliteratur und Leitlinien aufgeführt und verarbeitet. Die Beklagten führen ferner noch zu Einzelheiten des Gutachtens näher aus.

Der hilfsweise gestellte Anhörungsantrag sei verspätet gewesen und es müsse nur einem rechtzeitigen Antrag entsprochen werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung ist mit der Maßgabe begründet, dass das Urteil auf Antrag der Klägerin aufzuheben und das Verfahren zur weiteren Verhandlung und erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen ist (§ 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO), weil das Verfahren im ersten Rechtszuge an mehreren wesentlichen Mängeln leidet und aufgrund dieser Mängel eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

1. Das Landgericht hat in drei Punkten den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, was regelmäßig einen wesentlichen Verfahrensmangel begründet.

a) Das Landgericht ist zunächst dem im Termin gestellten Antrag der Klägerin auf Anhörung des Sachverständigen fehlerhaft nicht nachgegangen und hätte auch das Vorbringen im Schriftsatz vom 25. Oktober 2005 nicht unberücksichtigt lassen dürfen. Zwar hätte ein erstmals in der mündlichen Verhandlung gestellter Anhörungsantrag als verspätet zurückgewiesen werden können, wenn die Anhörung nicht bereits von Amts wegen geboten wäre (s. dazu unten c)). Die Präklusion muss jedoch fehlerfrei begründet werden, weil das Berufungsgericht die richtige Begründung nicht nachschieben darf (§ 531 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 ZPO; vgl. BGH mit Versäumnisurteil vom 22. Februar 2006 - IV ZR 56/05 - NJW 2006, 1741 f.; Ball in: Musielak, ZPO, 5. Aufl., § 531 Rn. 8).

aa) Ob das Landgericht den Anhörungsantrag mit seinen die Verspätung betreffenden Ausführungen (Urteil S. 8 f.) überhaupt erfasst wissen wollte, lässt sich daraus ohnehin schon nicht ableiten. Eine Differenzierung, welcher im Schriftsatz vom 25. Oktober 2005 unter Beweisantritt erfolgte Vortrag zurückgewiesen sein sollte, fehlt gleichfalls. Erkennbar wurde in diesem Schriftsatz jedoch aber auch bisheriges Vorbringen lediglich wiederholt, sodass aus der Begründung nicht nachvollziehbar ist, welcher konkrete Vortrag als neu und erheblich angesehen worden ist.

bb) Des Weiteren hat das Landgericht nicht weiter begründet, weshalb der Vortrag keine Veranlassung für eine weitere Beweisaufnahme gäbe, sondern ausgeführt, der Vortrag sei jedenfalls als verspätet zurückzuweisen, was als Alternativbegründung unzulässig ist und nicht als Grundlage einer Zurückweisung von Vorbringen wegen Verspätung dienen kann.

cc) Schließlich trägt auch die vom Landgericht gegebene Begründung die Zurückweisung des Beweisantritts sowie des Vortrages als verspätet nicht, denn die Präklusion konnte nicht auf §§ 296 Abs. 1, 411 Abs. 4 S. 2 ZPO gestützt werden. Das Landgericht hatte keine wirksame Ausschlussfrist nach § 411 Abs. 4 ZPO gesetzt. Es wurde lediglich durch den Vorsitzenden mit Verfügung vom 7. April 2005 eine Stellungnahmefrist von einem Monat gesetzt, ohne Zitat der Norm oder sonstigen Hinweis auf einen möglichen Ausschluss. Erforderlich ist aber zum Einen, dass unmissverständlich eine Ausschlussfrist gesetzt ist (vgl. BGH mit Urteil vom 25. Oktober 2005 - V ZR 241/04 - NJW-RR 2006, 428; Huber in: Musielak, ZPO, 5. Aufl., § 411 Rn. 7; Greger in: Zöller, ZPO, 26. Aufl., § 411 Rn. 5e). Zum Anderen hätte die Fristsetzung durch die Kammer und nicht nur den Vorsitzenden erfolgen müssen (vgl. BGH mit Urteil vom 22. Mai 2001 - VI ZR 268/00 - NJW-RR 2001, 1431 [1432]; Huber in: Musielak, ZPO, 5. Aufl., § 411 Rn. 7; Greger in: Zöller, ZPO, 26. Aufl., § 411 Rn. 5e; offen gelassen von BGH NJW-RR 2006, 428).

dd) Einem Anhörungsantrag ist - abgesehen von den Fällen der Präklusion oder des Rechtsmissbrauchs - regelmäßig auch dann nachzugehen, wenn das Gericht keinen Aufklärungsbedarf sieht (vgl. BGH mit Urteil vom 8. November 2005 - VI ZR 121/05 - NJW-RR 2006, 1503 f.; Senat u.a. mit Urteilen 18. September 2006 - 20 U 91/05 - und vom 30. Oktober 2006 - 20 U 55/05).

b) Das Landgericht hat den Anspruch auf rechtliches Gehör ferner dadurch verletzt, dass es in den Gründen des Urteils (S. 8 Mitte) lediglich ausgeführt hat, die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass die Medikation falsch gewesen sei. Jegliche weitere Begründung hierfür fehlt dort und eine Beweiswürdigung unterbleibt, was daran liegen mag, dass sich dies nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch nicht ohne weitere Klärung begründen lässt. Der Sachverständige hatte - ausgehend von der Dokumentation - die Schmerzmittelverordnung von Novalgin als nicht indiziert beanstandet und eine weitere Klärung der tatsächlichen Umstände angeregt hat (Gutachten S. 26; Einschränkung zur Zeitdauer, Wiedervorstellungsempfehlung bei nächster Gelegenheit). Abgesehen davon, dass damit ernsthaft ein Behandlungsfehler in Betracht kommt, würde eine solche zum Umfang auffällige Medikation andernfalls ein Indiz für die Behauptung der Klägerin hinsichtlich ihrer Schmerzen begründen.

c) Schließlich war hier schon von Amts wegen eine weitere Sachaufklärung geboten, weil das Gutachten ohne weitere Klärung nicht zur Grundlage der Entscheidung hätte gemacht werden dürfen. Hinsichtlich einiger der hier erheblichen Beweisfragen drängte sich, zumal ein Teil der problematischen Fragen bereits von der Klägerin angesprochen waren, eine weitere Klärung auf.

aa) Aus dem Gutachten wird deutlich, dass die Schmerzausprägung sowohl zur Diagnose als auch der Medikation erheblich werden könnte.

(1) Auf Seite 16 des Gutachtens wird oben die Klärung für erforderlich gehalten und unten der dokumentierte offenbar nur gering ausgeprägte Schmerz auch als Grund für die Diagnose eines Virusinfekts genannt. Ebenfalls auf die erhobenen Befunde wird auf S. 24 f. abgestellt, ohne dass der Sachverständige alternativ stärkere Schmerzen berücksichtigt hätte. Bei der Rechtfertigung für die Entlassung hat er "allenfalls Druckschmerz" berücksichtigt (S. 25).

(2) Auf S. 19 wird nicht nur die Medikation mit Novalgin im Hinblick auf die dokumentierten Schmerzen beanstandet, sondern auf S. 20 oben zumindest angedeutet, was starke Schmerzen hätten bedeuten können. Es ergab sich also ein weiterer Punkt, der hier eine (tatsächliche und fachliche) Klärung aufdrängte.

(3) Das setzt dann aber voraus, dass die Beklagten zu 2. und 3. die Befunde falsch erhoben haben, was die Klägerin zu beweisen hätte, deren Eltern nunmehr als Zeugen zu vernehmen sind. Die Beklagten sind gegenbeweislich persönlich anzuhören.

bb) Des Weiteren hat der Gutachter ausgeführt, dass es für die Verdachtsdiagnose eines Virusinfekts allerdings keine Hinweise gab (Gutachten S. 17) bzw. eine virale Gastroenteritis als Ursache eigentlich auszuschließen war (Gutachten S. 23). Die weiteren differenzialdiagnostisch in Erwägung zu ziehenden Möglichkeiten wären im Hinblick auf die Leukozytose nicht zu erklären gewesen (S. 23). Aus dem Gutachten wird jedenfalls nicht deutlich, was hier als Alternative zur Appendizitis ernsthaft hätte in Betracht kommen sollen, sodass zu klären ist, was hier gegen die Erkennbarkeit der richtigen Diagnose noch sprechen könnte. Wenn der Gutachter eine ambulante Klärung für möglich hält (S. 23), muss das vor dem Hintergrund der vorhandenen Schmerzen gesehen werden (S. 25 Mitte) und ist fraglich, wenn die Schmerzdokumentation und die Diagnose nicht zuträfen.

cc) Der Streit zum CRP-Wert wird offen bleiben können, weil der Gutachter ausgeführt hat, dass dieser vermutlich normwertig oder nur leicht erhöht gewesen wäre.

dd) Da die Parteien darüber einig sind, dass die Körpertemperatur nur unter der Achsel gemessen wurde, kommt es auf den hilfsweise von der Klägerin geltend gemachten Vortrag zu einem rektalen Wert (37,5°C), der in einem - dem Gericht nicht vorliegenden - Durchschlag des Erste-Hilfe-Protokolls aufgeführt sein soll, nicht an. Der Sachverständige hätte aber zu der von der Klägerin aufgeworfenen Frage angehört werden müssen, ob eine vergleichende Temperaturmessung und die Feststellung der Differenz erforderlich waren und was daraus gegebenenfalls zu folgern gewesen wäre.

ee) Dass die Sonografie zum Ausschluss einer Appendizitis nicht genügt, ist dagegen offensichtlich. Sie diente der Möglichkeit, eine Entzündung dennoch positiv erkennen zu können, was hier nicht der Fall war.

ff) Der Vortrag der Klägerin zum pädiatrischen Standard bei einem akuten Abdomen (Schriftsatz vom 9. Mai 2005, S. 5 = Bd. I Bl. 117) ist unbeachtet geblieben, obwohl der Kinderarzt bis zum 18. Lebensjahr zuständig ist. Zu den - bei Jugendlichen gegenüber Erwachsenen zugegebenermaßen eher etwas überraschenden - weiteren erforderlichen Befunderhebungen hat sich der Sachverständige jedenfalls ausdrücklich nicht geäußert. Auch wenn das Ergebnis nahe zu liegen scheint, darf das Gericht medizinische Sachkunde nicht durch eigene Annahmen ersetzen.

2. Vorliegend ist ergänzend Beweis zu erheben (vgl. oben 1. c) aa) (3)), welche Schmerzen die Klägerin am 3. Mai 2003 tatsächlich hatte (Klägerin: Mehr als dokumentiert und die gleichen wie auch am 4./5. Mai 2003) und was ihr bei Entlassung zur Wiedervorstellung und Medikation empfohlen worden war (Klägerin: Wie dokumentiert keine Empfehlung bzw. zur Medikation unbeschränkt). Unterstellt, die Klägerin könnte die Dokumentation bzw. Befunderhebung zu den Schmerzen und auch die (von den Beklagten gegen die Dokumentation) behauptete Einschränkung zur Medikation nicht widerlegen, dann wäre nach dem Gutachten die Medikation mit Novalgin nicht zu beanstanden. Wären die Schmerzen oder eine uneingeschränkte Medikation bewiesen, dann müsste der Relevanz insoweit weiter nachgegangen werden. In jedem Fall ist anschließend auf der Grundlage des Beweisergebnisses der Sachverständige - wie von der Klägerin beantragt - anzuhören, gegebenenfalls nach Einholung einer vorherigen ergänzenden Stellungnahme. Falls Behandlungsfehler danach nun vorliegen sollten, wären Folgen und Kausalität weiter zu klären.

3. Eine Fortführung des Verfahrens in zweiter Instanz kommt gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nicht in Betracht.

In der Neufassung des § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO hat der Gesetzgeber neben dem Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels den Antrag einer Partei sowie das Erfordernis einer umfangreichen oder aufwändigen Beweisaufnahme als Voraussetzung einer Zurückverweisung geregelt, während dies im Rahmen des § 539 ZPO a.F. bei der Ermessensausübung berücksichtigt worden war. Der gegenüber § 538 Abs. 1 ZPO gesetzestechnisch als Ausnahmetatbestand gestaltete § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist schon dem Wortlaut nach nicht nur auf krasse Ausnahmefälle beschränkt, weil dies die Hinzufügung weiterer Eigenschaften (besonders, sehr oder ähnliches) erfordern würde. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber dieser Vorschrift in der praktischen Umsetzung letztlich den Anwendungsbereich entziehen wollte. Vielmehr hat er sich hinsichtlich des Anwendungsbereichs darauf beschränkt, festzustellen, dass die einfache Vernehmung eines Zeugen im Inland keine umfangreiche Beweisaufnahme darstellt, während die Vernehmung einer Vielzahl von Zeugen oder Sachverständigen als Beispiel für eine umfangreiche Beweisaufnahme genannt ist (BT-Ds. 14/4722 S. 102 f.). Konkrete Vorgaben zur Zahl der Beweismittel oder der beweisbedürftigen Tatsachen sind dort also erkennbar unterblieben, was es nicht rechtfertigt, die Tatbestandsvoraussetzungen so eng zu interpretieren, dass nur noch wenige Ausnahmefälle innerhalb der Fälle, in denen ein wesentlicher Mangel des Verfahrens in erster Instanz vorliegt, erfasst wären. Dabei würde übersehen, dass die Vorschrift - was der Gesetzgeber mangels inhaltlicher Änderung in diesem Zusammenhang nicht begründet hat - dem Interesse der Parteien an der Erhaltung einer (ihnen zu Unrecht genommenen) Überprüfungsmöglichkeit in einer zweiten Tatsacheninstanz dient, weshalb auch konsequenterweise ein Antrag einer Partei nunmehr zwingende Voraussetzung ist, was wiederum das (den Parteien dienende) Prozessbeschleunigungsinteresse des § 538 Abs. 1 ZPO relativiert. Bei der Betrachtung des Umfanges oder Aufwandes der erforderlichen Beweisaufnahme ist daher auch darauf abzustellen, ob es den Parteien zumutbar ist, auf eine (tatsächliche) Nachprüfungsinstanz zu verzichten. Das (mögliche) Kosteninteresse steht dabei mit Rücksicht auf den Antrag der Parteien eher im Hintergrund. Deshalb kommt es - soweit nicht der Umfang im Einzelfall bereits erheblich ist - jedenfalls auch entscheidend einerseits auf die Anzahl der Beweismittel und andererseits die Zahl der beweisbedürftigen Tatsachen an, um zu beurteilen, ob es einer Partei zuzumuten ist, angesichts des Aufwandes bzw. des Umfanges der erforderlichen Beweisaufnahme auf eine Instanz zu verzichten. Beim Unterlassen einer Sachverständigenanhörung im Arzthaftungsprozess werden diese Voraussetzungen regelmäßig anzunehmen sein, weil sich die Anhörung im Zweifel auf den vollen Umfang der Beweisfragen erstreckt und prognostisch die weitere Entwicklung sich anschließender Beweiserhebungen einzubeziehen ist. Vorliegend wäre schon aufgrund des bereits jetzt konkret erforderlichen Umfangs (vgl. oben 2.) von einer umfangreichen Beweisaufnahme auszugehen.

Die weiteren Nebenentscheidungen folgen aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO; § 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

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