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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 11.09.2006
Aktenzeichen: 20 W 35/06
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 485
1. Voraussetzungen eines selbständigen Beweisverfahrens im Arzthaftungsprozess.

2. Der medizinische Sorgfaltsmaßstab ist nicht Gegenstand der Beweiserhebung nach § 485 Abs. 2 ZPO.


Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 20 W 35/06

In dem Rechtsstreit

hat der 20. Zivilsenat des Kammergerichts am 11. September 2006 durch seine Richter Budde, Balschun und C. Kuhnke beschlossen:

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss der Zi vilkammer 13 des Landgerichts Berlin vom 26. Januar 2006 teilweise geändert:

Es soll über folgende Behauptungen des Antragstellers durch Einholung von Sachverständigengutachten auf den Gebieten Kinderchirurgie, Diabetologie, Endokrinologie Beweis erhoben werden:

a) Wäre er sofort am 31. Januar 2003, spätestens am 1. Februar 2003 operiert worden, wäre ein Durchbruch des Appendix mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden und eine folgenlose Heilung bei etwa viertägigem Klinikaufenthalt erreicht worden; insbesondere wäre weder der eingetretene Diabetes mellitus Typ I noch eine autoimmume Thyreoiditis bei ihm ausgelöst worden.

b) Es sei bei ihm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit am 8. Februar 2003 bereits eine Perforation der Appendix eingetreten. Bei sofortiger Appendektomie wären weder die am 12. Februar 2003 bei der dann durchgeführten Appendektomie festgestellten massiven Verklebungen von Netz und Dickdarm im Bereich des rechten Unterbauchs, die sehr massiven Verwachsungen, der Darmverschluss (Ileus) eingetreten noch eine Diabeteserkrankung noch eine autoimmune Thyreoiditis bei ihm ausgelöst worden, welche fortbestünden.

c) Folgende Beeinträchtigungen und Leiden wären bei ihm bei sofortiger Appendektomie am 1. Februar 2003 (Antragsgegnerin zu 1.) bzw. 8. Februar 2003 (Antragsgegnerin zu 2.) nicht eingetreten bzw. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden:

- Fieberanstieg und starke Bauchschmerzen am 7. und 8. Februar 2003

- Perforation des Appendix mit perityphlitischem Abszess

- diffuse Peritonitis, Ileus, massive Verklebungen von Netz und Dickdarm im Bereich des rechten Unterbauches, massive Verwachsungen, massive Bauchschmerzen, Fieber, Durchfälle, körperliche Schwäche und Angst, nicht wieder gesund zu werden, in der Zeit vom 8. bis 12. Februar 2003

- nach dem 12. Februar 2003 Atemnot, sodass Sauerstoff zugeführt werden musste, stechender Schmerz in der Brust beim tiefen Einatmen, Schwäche und Schwindel im Liegen, kalte und warme Schweiße im Wechsel, große Reizbarkeit, Schmerzempfindungen auf die Stimmen der Ärzte und Schwestern

- Entzündung der Schilddrüse, der Leber, der Bauchspeicheldrüse, beginnende Pneumonie, paralytischer Ileus, Diabetes mellitus Typ I, Übelkeit und häufige Durchfälle, Gefahr des akuten Nierenversagens, Wechsel zwischen Frieren und Schwitzen, immer wieder stechender Schmerz im Bauchraum

- Hautausschlag über den ganzen Körper mit Juckreiz als allergische Folge der Behandlung mit Antibiotika

- Angstentwicklung vor Diabetes mellitus und dessen Behandlung, vor häufigen Spritzen, Blutentnahmen

- in der Folgezeit immer wieder stechende Schmerzen im Unterbauch mit Angst vor weiteren Operationen

- in unregelmäßigen Abständen stechender Schmerz in der Herzgegend

- Ernährungsumstellung und ständige Kontrolle der Ernährung mit mehrmals täglicher Blutzuckerbestimmung als Dauerfolge; dadurch Einschränkung in allen Belangen des täglichen Lebens, insbesondere bei sportlichen Aktivitäten

2. Im Übrigen wird die sofortige Beschwerde zurückgewiesen.

3. Die weiteren Anordnungen werden dem Landgericht übertragen.

4. Die Gerichtsgebühr für das Beschwerdeverfahren beträgt 25 €.

Gründe:

Die gemäß §§ 567 ff. ZPO zulässige sofortige Beschwerde ist aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet und im Übrigen unbegründet.

1. Das gegen die Passivlegitimation der Antragsgegnerin zu 1. angedeutete Bedenken nimmt auf die Entscheidung des Senats mit Urteil vom 2. Juni 2005 - 20 U 186/04 - zur Auslegung des § 2 des Gesetzes zur Errichtung der Gliederkörperschaft "Cnnn - Unnnnnnnnn Bnnn" vom 27. Mai 2003 (= Art. I des Vorschaltgesetzes vom 27. Mai 2003, GVBl. S. 185) Bezug, wonach die Haftung des Landes Berlin nicht auf den neu gegründeten Rechtsträger übergegangen ist. Dieses Bedenken ist jedoch inzwischen durch den Gesetzgeber mit dem Berliner Universitätsmedizingesetz vom 5. Dezember 2005 behoben worden, in dessen § 1 Abs. 2 nunmehr ausdrücklich die Gesamtrechtsnachfolge bestimmt ist. Die Berichtigung des Antragstellers war unbeachtlich, weil die rechtliche Konstruktion des Landes Berlin, vertreten durch das Unnnnnnnnnn Cnnn, nicht existiert und offensichtlich der Antrag weiterhin gegen die Körperschaft öffentlichen Rechts "Cnnn - Unnnnnnnnn Bnnn (Cnnn)" gerichtet sein soll.

2. Die Voraussetzungen des § 485 Abs. 1, 1. Alt. (Zustimmung des Gegners) und 2. Alt. (Gefahr des Beweismittelverlustes) ZPO liegen nicht vor und sind auch nicht geltend gemacht.

3. Die Beweisfragen des Antragstellers überschreiten den zulässigen Bereich des § 485 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 ZPO, sodass sie zum Teil deshalb als unzulässig zurückzuweisen waren.

a) Soweit der körperliche Zustand des Antragstellers zu verschiedenen Zeitpunkten durch Sachverständige festgestellt werden soll, ist der Antrag zulässig. Gemäß § 485 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO ist nicht erforderlich, dass ein gegenwärtiger Zustand des Antragstellers festzustellen ist (vgl. Herget in: Zöller, ZPO, 25. Aufl., § 485 Rn. 9; Schreiber in Münchener Kommentar, ZPO, § 485 Rn. 13; Leipold in: Stein/Jonas, ZPO, 21. Aufl., § 485 Rn. 16; Reichhold in: Thomas/Putzo, ZPO, 27. Aufl., § 485 Rn. 6; Kniffka/Koeble, Kompendium des Baurechts, 2. Auflage [2004], 13. Teil Rn. 46; Werner/Pastor, Der Bauprozess, 11. Aufl., Rn. 27; KG KG-Report 1994, 130; OLG Oldenburg MDR 1995, 746; OLG Oldenburg mit Beschluss vom 9. September 2005 - 1 W 68/05 - BeckRS 2006, 00697: "wohl zwischenzeitlich gesicherte Rechtsprechung"; a.A. Hartmann in: Baumbach u.a., ZPO, 64. Aufl., § 485 Rn. 10). Das folgt zum Einen aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber die ausdrückliche Einschränkung "gegenwärtig" in der bis zum 31. März 1991 geltenden Fassung 1991 nicht übernommen hat, während damals der Zusatz "gegenwärtig" in § 76 Abs. 1 SGG ("Auf Gesuch eines Beteiligten kann die Einnahme des Augenscheins und die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen zur Sicherung des Beweises angeordnet werden, wenn zu besorgen ist, dass das Beweismittel verloren gehe oder seine Benutzung erschwert werde, oder wenn der gegenwärtige Zustand einer Person oder einer Sache festgestellt werden soll und der Antragsteller ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat."), der eine engere, § 485 Abs. 1, 2. Alt. ZPO entsprechende Zielrichtung aufweist, unverändert blieb und lediglich die Feststellung zum gegenwärtigen Zustand einer Person hinzugefügt wurde (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage 2005, § 76 Rn. 1). Zum Anderen ist der vom Landgericht angesprochene Beweisverlust in § 485 Abs. 1, 2. Alt. ZPO berücksichtigt und schon deshalb nicht als Zweck des selbstständigen Beweisverfahrens insgesamt anzusehen, zumal nach § 485 Abs. 1, 1. Alt. mit Zustimmung des Antragsgegners das selbstständige Beweisverfahren unabhängig von diesen Voraussetzungen durchzuführen ist. Zweck des § 485 Abs. 2 ZPO, der nur vor Anhängigkeit des Rechtsstreits anwendbar ist, ist - anders als in § 76 Abs. 1 SGG - die Vermeidung eines Rechtsstreits und kein besonderes Eilbedürfnis, weshalb es auch nicht als Versehen des Gesetzgebers angesehen werden kann, dass "gegenwärtig" gestrichen wurde.

b) Soweit der Antragsteller den Antragsgegnern Behandlungsfehler vorwirft, kann dies vorliegend nicht Gegenstand des selbstständigen Beweisverfahrens sein. Vielmehr kann nur die unmittelbare Ursache Gegenstand der Beweiserhebung sein. Gemäß § 485 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO ist es zulässig die Ursache für den eingetretenen Personenschaden zu klären. Ob die Ursache durch einen Fehler der behandelnden Ärzte gesetzt wurde oder diese hätten anders handeln müssen, mag sich häufig mittelbar daraus ergeben (vgl. auch BGH NJW 2003, 1741 f.), ist aber als Wertung zum Verschulden von der Ursächlichkeit zu trennen (vgl. Huber in: Musielak, ZPO, 4. Aufl., § 485 Rn. 12; a.A. Stegers in Stegers u.a., Der Sachverständigenbeweis im Arzthaftungsrecht, 2. Aufl., Rn. 820, 829) und auch der Bundesgerichtshof (a.a.O.) hat nicht etwa die vom Tatbestand des § 485 Abs. 2 ZPO losgelöste, grenzenlose Beweiserhebung in Arzthaftungsfällen vorgegeben, sondern darauf hingewiesen, dass die rechtlichen Fragen des Verschuldens des Arztes und der Kausalität der Verletzung für den geltend gemachten Schaden damit noch nicht geklärt sind. Aus diesem Grund sind Fragen zur (subjektiv) richtigen Diagnosestellung von denen zur objektiven Diagnose zu trennen, Wertungen wie operationspflichtig o.ä. sind ebenso wenig zu klären, wie Fragen zum richtigen Verhalten der Ärzte der Antragsgegner, denn der medizinische Sorgfaltsmaßstab ist nicht Gegenstand der Beweiserhebung nach § 485 Abs. 2 ZPO.

4. Ein rechtliches Interesse i.S.v. § 485 Abs. 2 ZPO ist vorliegend anzunehmen, auch wenn nicht zu verkennen ist, dass eine punktuelle Beweisaufnahme in vielen Fällen letztlich für einen eventuellen Rechtsstreit wenig Verwertbares erbringen wird. Auf Letzteres ist jedoch das rechtliche Interesse nicht in erster Linie gerichtet, wie § 485 Abs. 2 S. 2 ZPO zeigt, nach dem ein rechtliches Interesse anzunehmen ist, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann. Auch in Arzthaftungsstreitigkeiten ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (NJW 2003, 1741 f.) grundsätzlich die Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahren nicht schon mit Rücksicht auf die o.g. Beschränkungen der Beweiserhebung oder der hier nicht zu leistenden Aufklärungsarbeit des Gerichts mangels rechtlichen Interesses abzulehnen. Vielmehr ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Feststellungen der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen können, was auch bei Erfolglosigkeit der Beweiserhebung aus Sicht des Antragstellers in Betracht kommen kann. Vorliegend ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass bereits zur Ursächlichkeit des Zeitpunktes der Blinddarmoperation sowie zur Zurechnung der Beschwerden das Beweisergebnis negativ und damit Streit vermeidend ausfallen könnte. In diesem Zusammenhang sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es - anders als im Rechtsstreit - Sache des Antragstellers ist, dafür Sorge zu tragen, dass dem Sachverständigen die erforderlichen Unterlagen - gegebenenfalls in Kopie - vorliegen. Der Senat geht davon aus, dass der Antragsteller, dem ein Einsichtsrecht zusteht, dies ohne Weiteres nachholen kann und die Unterlagen nachreichen wird. Ansonsten würde auch dies einer Beweiserhebung nicht grundsätzlich entgegenstehen (vgl. BGH NJW 2003, 1741 [1742]: "Hiergegen spricht auch nicht zwingend, dass dem Gutachten unter Umständen ein geringer Beweiswert zukommen kann, weil der Antragsteller ohne Hilfe durch das Gericht die Beweisfragen vorgibt oder wesentliche Unterlagen fehlen, zumal der Antragsteller in der Regel anwaltlich vertreten sein wird."), auch wenn dann das Beweisergebnis eher allgemein ausfallen würde und jedenfalls in einem nachfolgenden Prozess weitgehend unbrauchbar wäre.

5. Den Anträgen ist nur insoweit stattzugeben, als sie abgrenzbar zulässige Inhalte umfassen. Zu Beweisfrage 1.a) enthält der erste Satz Wertungen, die nicht Gegenstand des selbstständigen Beweisverfahren sein können. Die Beweisfragen 1. b), 2. a) und c) sind in der gestellten Form insgesamt unzulässig, weil sie ebenfalls lediglich Fragen des Verschuldens geklärt sehen wollen. Zu 2. b) ist der wiederholende zweite Halbsatz im ersten Satz daher gleichfalls unzulässig. Die sprachliche Fassung der weiteren Frage an die Sachverständigen (nach 3.) ist unklar. In der verständlichen (ursprünglichen) Form ist er unzulässig, weil eine Prognose getroffen werden soll, aber nicht der Zustand des Antragstellers festzustellen ist. Sollte mit der jetzigen Fassung ein Vergleich zum gegenwärtigen Zustand angesprochen sein, so ist insoweit im selbstständigen Beweisverfahren auch nicht Beweis zu erheben. Im Übrigen ist Beweis nur über behauptete Tatsachen zu erheben. Auch das selbstständige Beweisverfahren dient nicht der Ausforschung. Die Frage zu 3. ist lediglich als Kausalitätsbehauptung aufgestellt, sodass der Sachverständige derzeit die behaupteten Folgen - ungeprüft - zu Grunde zu legen haben wird. Eine Pflichtverletzung - wie das Landgericht meint - ist hierbei nicht zu Grunde gelegt, sondern allein die Zeitpunkte zu beurteilen. Allerdings lässt sich die Dauer des Krankenhausaufenthalts von 31 Tagen nicht einem Zustand der Person zuordnen, sodass die Kausalität insoweit nicht zu klären ist.

6. Die weiteren Anordnungen, wie die Auswahl der Sachverständigen sowie gegebenenfalls die Anforderung der Unterlagen vom Antragsteller, sind gemäß § 572 Abs. 3 ZPO dem Landgericht übertragen worden.

7. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen; hierüber ist im Hauptsacheverfahren zu entscheiden (zur Ausnahme vgl. § 494a Abs. 2 ZPO).

8. Die Ermäßigung der Gerichtsgebühr auf die Hälfte entspricht dem Teilerfolg der Beschwerde (vgl. KV zum GKG Nr. 1811).

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