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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 29.11.2005
Aktenzeichen: 21 W 77/05
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 318
ZPO § 319
ZPO § 319 Abs. 3
ZPO § 567 Abs. 1 Ziff. 1
ZPO § 569 Abs. 1
ZPO § 569 Abs. 2
Eine Berichtigung des Urteils wegen offenkundiger Unrichtigkeit im Entscheidungssatz ist auch bei einem sog. Stuhlurteil bis zur Verkehrung in sein Gegenteil (hier Klageabweisung - Klagestattgabe) möglich, wenn die nachträglich abgesetzten Entscheidungsgründe die Unrichtigkeit ergeben.
Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 21 W 77/05

29. November 2005

In Sachen

hat der 21. Zivilsenat des Kammergerichts, Elßholzstraße 30 - 33, 10781 Berlin, durch den Richter am Kammergericht Bigge als Einzelrichter am 29. November 2005 beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Beklagten gegen den Berichtigungsbeschluß der Zivilkammer 2 des Landgerichts Berlin vom 20. Oktober 2005 - 2 O 45/05 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Der Kläger hat den Beklagten auf Zahlung aus einem Vergleich in Anspruch genommen. Der Beklagte hat sich damit verteidigt, er habe die Forderung erfüllt. Dazu hat das Landgericht in der mündlichen Verhandlung vom 5. August 2005 den vom Beklagten benannten Zeugen gehört. Im Anschluß an die Zeugenvernehmung hat es ein Urteil mit klageabweisendem Tenor verkündet. Mit Verfügung vom 8. August 2005 hat es die Parteien darauf hingewiesen, daß die Klageabweisung ein Versehen darstelle, tatsächlich habe er der Klage stattgeben wollen. Er beabsichtige, das Urteil wegen dieser offenbaren Unrichtigkeit zu berichtigen. Dazu hat er auf die gleichzeitig übersandten schriftlichen Urteilsgründe verwiesen. Darin hat das Landgericht im einzelnen begründet, daß der Aussage des vernommenen Zeugen nicht zu folgen sei und deswegen die Forderung des Klägers weiterhin begründet sei.

Ein Ablehnungsgesuch des Beklagten gegen den Richter ist erfolglos geblieben.

Mit Beschluß vom 20. Oktober 2005 hat das Landgericht durch die geschäftsplanmäßig zuständige Nachfolgerin des das Urteil verkündenden Richters das Urteil vom 5. August 2005 gemäß § 319 ZPO dahin berichtigt, daß der Beklagte zur Zahlung von 31.666,00 EUR nebst Zinsen verurteilt werde und die Kosten des Rechtsstreits zu tragen habe.

Gegen den am 25. Oktober 2005 zugestellten Beschluß hat der Beklagte am 8. November 2005 sofortige Beschwerde eingelegt. Er erstrebt die ersatzlose Aufhebung des Beschlusses und beruft sich auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, nach der nachträglich verkündete Entscheidungsgründe die Korrektur eines zunächst verkündeten Urteilssatzes nicht rechtfertigen könne. Die den Parteien offenkundigen Umstände wiesen nicht auf ein Versehen des Richters bei der Verkündung hin. Vielmehr habe den Richter offenkundig seine zunächst gefundene Entscheidung gereut. Denn Klagestattgabe und Klageabweisung seien praktisch nicht verwechslungsfähig; Komplikationen wie Widerklage, Streitverkündung oder mehrere Streitbeteiligte habe es nicht gegeben. Der Kostentenor, der der Klageabweisung entspreche, zeige an, daß diese tatsächlich gewollt gewesen sei. Das sei durch die ZPO nicht gedeckt.

Das Landgericht hat der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die sofortige Beschwerde ist statthaft, §§ 567 Abs. 1 Ziff. 1, 319 Abs. 3 ZPO, und auch im übrigen zulässig, insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden, § 569 Abs. 1, 2 ZPO. In der Sache hat sie keinen Erfolg.

Unbedenklich ist, daß die Entscheidung durch die Nachfolgerin des ursprünglich erkennenden Richters geschehen ist (BGH NJW 1985, 742). Das zieht der Beklagte nicht in Zweifel.

§ 319 ZPO läßt bei Schreibfehlern, Rechenfehlern und ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten eines Urteils jederzeit eine Berichtigung von Amts wegen zu. Nach verbreiteter Auffassung soll nur eine versehentliche Abweichung des vom Gericht Erklärten von dem von ihm Gewollten rechtfertigt eine Berichtigung nach dieser Vorschrift; eine falsche Willensbildung des Gerichts soll nicht mit Hilfe dieser Bestimmung korrigiert werden können (Vollkommer in Zöller, ZPO, 25 Aufl., § 319 Rn. 4; BGH NJW 1985, 742; BAG NJW 2002, 1142). Daß ein Rechenfehler, also einer der gesetzlichen Anwendungsfälle der Norm, nicht als Teil einer fehlerhaften Willensbildung angesehen werden darf, ist zweifelhaft, kann für den vorliegenden Fall jedoch dahingestellt bleiben (s. dazu Musielak in ders., ZPO, Kommentar, 4. Aufl. 2005, § 319 Rn. 4).

Die Vorschrift des § 319 ZPO ist jedenfalls schon aus prozeßwirtschaftlichen Gründen weit auszulegen und läßt sich insbesondere nicht auf bloße Formulierungsfehler beschränken (BGH NJW 1985, 742; Thomas/Putzo ZPO, Kommentar, 27. Aufl. 2005, § 319 Rn. 2; Baumbach/Lauterbach, ZPO, Kommentar, 61. Aufl. § 319 Rn. 12).

Daß das Versehen offenbar sein muß, bedeutet, daß es sich aus dem Zusammenhang des Urteils selbst oder mindestens aus den Vorgängen bei seinem Erlaß ergeben muß. Ein gerichtsintern gebliebenes Versehen, das meist nicht ohne weitere Beweiserhebung überprüft werden kann, ist keine "offenbare Unrichtigkeit" i. S. des § 319 ZPO (BGH NJW-RR 2001, 61; BGHZ 20, 188 (192) = NJW 1956, 830). Die Unrichtigkeit muß, da Berichtigungen nach § 319 ZPO auch von Richtern beschlossen werden können, die an der fraglichen Entscheidung nicht mitgewirkt haben, für Dritte ohne weiteres deutlich sein (BGHZ 78, 22 (23) = NJW 1980, 2813; NJW 1985, 742). Dann kann die Berichtigung bis zur Verkehrung des Tenors in sein Gegenteil gehen (allgemeine Meinung, s. nur Leipold in Stein/Jonas, ZPO, Kommentar, ZPO, 21. Aufl., § 319 Rn. 6; Vollkommer in Zöller aaO Rn. 15; Musielak aaO Rn. 7; Thomas/Putzo Rn. 4)

Die Offenbarkeit des Fehlers kann sich dabei aus den erst nach Verkündung des Entscheidungssatzes abgesetzten Entscheidungsgründen ergeben. Das entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Er hat es für eine geeignete Grundlage der Berichtigung nach § 319 ZPO angesehen, wenn bei einem sog. Stuhlurteil (dem sofort verkündeten Entscheidungssatz) erst die später bekanntgegebenen schriftlichen Urteilsgründe die Abweichung von Wille und Erklärung deutlich machen (NJW-RR 1990, 893; BGH ZIP 1993, 622, 624; BGH NJW-RR 2002, 712; s.a. NJW 1964, 1858 = MDR 1964, 841 gegen BAG NJW 1959, 1942; wie BGH auch BAG AP BGB § 616 Nr. 45; ferner OLG Düsseldorf MDR 1986, 76; LAG Bremen MDR 1996, 1069; Musielak aaO Rn. 7; Thomas/Putzo aaO Rn. 4; Baumbach/Lauterbach aaO Rn. 9; weitergehend hält BGH NJW-RR 2002, 712 ein gesondertes Verfahren im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG für verfassungsrechtlich geboten, das eine Korrektur einer verkündeten aber nicht gewollten Entscheidung auch für den Fall ermöglicht, daß die Unrichtigkeit nicht aus Entscheidungsgründen oder anderen Umständen offenbar ist).

Demgegenüber ist das BAG teilweise (NJW 2002, 1142; ebenso OLG München NJW-RR 1986, 1447 = MDR 1987, 63) der Auffassung, daß eine Berichtigung auf der Grundlage der Abweichung von Entscheidungssatz und nachträglich verkündeter Gründe ausscheide, da die Urteilsgründe dann nicht einen Vorgang im Zusammenhang mit der Verkündung des Entscheidungssatzes darstellen (ebenso LAG Düsseldorf NZA 1992, 427; Leipold in Stein/Jonas aaO Rn. 6 Fn. 19).

Der Senat folgt der Linie des Bundesgerichtshofs. Entscheidungsgründe, aus denen zu ersehen ist, daß der zunächst verkündete Entscheidungssatz nicht dem Willen des entscheidenden Gerichts entsprechen, weisen dessen offenkundige Unrichtigkeit aus. Die Urteilsfindung ist kein einheitlicher Vorgang, sondern vollzieht sich in mehreren Schritten (BGH NJW 1985, 742). Auch die nachträglich mitgeteilte Entscheidungsgründe gehören in den Zusammenhang der Urteilsfindung. Liegt mit Verkündung im Anschluß an die mündliche Verhandlung nur der Tenor vor, so können die Parteien hiermit in zahlreichen Fällen noch wenig anfangen, weder kann stets schon der volle Inhalt der Entscheidung ermessen werden, der sich oft erst aus den Urteilsgründen erschließt, noch kann der Entscheidungssatz etwa zur Grundlage von Vollstreckungsmaßnahmen gemacht werden. Vertrauen in den vollen Umfang der Entscheidung kann erst nach Zustellung des vollständigen Urteils entstehen. Erst in dieser Fassung liegt das vollständige Urteil vor. Weist das Urteil in den Gründen eine andere Entscheidung aus, als verkündet, so ergibt sich die Unrichtigkeit demzufolge "aus dem Zusammenhang des Urteils" (s.o.; BGH NJW-RR 2001, 61; NJW-RR 1990, 893; BAG AP BGB § 616 Nr. 45). Sie ist für Dritte wie für den nicht an der Entscheidung beteiligten Richter ohne weiteres erkennbar. Damit ist insbesondere auch die Grenze zwischen § 319 ZPO und § 318 ZPO - Bindung an die getroffene Entscheidung - gewahrt.

Die Bedenken des Bundesarbeitsgerichts in der Entscheidung in NJW 1959, 1942 im Hinblick auf Unsicherheiten durch die Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe teilt der Senat nicht. Auch sonst wird bei der Auslegung und dem Verständnis des Entscheidungssatzes auf die Gründe rekurriert, etwa bei Abweisung der Klage im Hinblick auf die Frage, für welche Ansprüche dies gilt (BGH NJW 1964, 1858).

Für die Auffassung des BGH sprechen ferner prozeßökonomische Erwägungen und der Umstand, daß die bessere Entscheidung sich durchsetzen kann (BGH NJW 1985, 742; s.a. BAG AP BGB § 616 Nr. 45). Das oberste Ziel des Zivilprozesses bleibt die Gesetz und Recht verpflichtete (Art. 20 Abs. 3 GG, BGH NJW-RR 2002, 712) und gerechte Entscheidung (Baumbach /Lauterbach § 319 Rn. 2). Das ist auch im Hinblick darauf zu bedenken, daß aufgrund von Wertbeschränkungen bei den Rechtsmitteln Korrekturen erst nachträglich erkannter versehentlicher Unrichtigkeiten in einschlägigen Fällen nicht möglich wäre. Der Hinweis auf die Möglichkeit von Rechtsmitteln greift in diesen Fällen nicht. Andererseits wäre die Notwendigkeit eines Rechtsmittels trotz einer aus den nachträglichen Entscheidungsgründen ersichtlichen offenbaren Unrichtigkeit bloßer Formalismus (BAG AP BGB § 616 Nr. 45).

In dem hier zu entscheidenden Fall weisen die abgesetzten Entscheidungsgründe aus, daß das Landgericht die Klageabweisung versehentlich ausgesprochen hat, tatsächlich wollte es der Klage stattgeben. Das hat der erkennende Richter bei dem Landgericht mit seiner Verfügung vom 8. August 2005 noch einmal zum Ausdruck gebracht. Die Möglichkeit einer solchen Verwechslung ist nicht von vornherein ausgeschlossen, auch wenn der Fall prozessuale Komplikationen wie etwa Widerklage, hilfsweise Aufrechnung oder mehrere Beteiligte nicht aufweist. Daß die Kostenentscheidung dem klageabweisenden Hauptsachetenor entsprach, besagt nicht, daß tatsächlich Klageabweisung gewollt war, er ist offenbar Teil der versehentlich falschen Entscheidung. Demzufolge ist der Berichtigungsbeschluß zurecht ergangen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Ende der Entscheidung

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