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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 13.03.2009
Aktenzeichen: 4 ARs 11/09
Rechtsgebiete: StPO, GVG


Vorschriften:

StPO § 270
GVG § 24 Abs. 2
Grundsätzlich bindet die gemäß § 270 StPO ausgesprochene Verweisung das höhere Gericht selbst dann, wenn der Verweisungsbeschluss rechtsfehlerhaft ist. Dies gilt jedoch ausnahmsweise bei solchen Entscheidungen nicht, die an einem derart schweren Mangel leiden, dass es bei Berücksichtigung der Belange der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus schlechthin unerträglich wäre, sie als verbindlichen Richterspruch anzunehmen und gelten zu lassen. Die Verweisung nach § 270 StPO kann erst dann als zulässig und geboten erachtet werden, wenn mit genügender Sicherheit erkennbar geworden ist, dass eine Sachentscheidung erforderlich werden wird, die in die sachliche Zuständigkeit des höheren Gerichts fällt. Eine veränderte Sachlage wegen unzureichender Strafgewalt (§ 24 Abs. 2 GVG) setzt voraus, dass das erkennende Gericht die Hauptverhandlung so lange weiterführt, bis nach deren Ergebnis ein Schuldspruch zu erwarten ist und das Gericht auf Grund der Erkenntnisse in der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, dass eine Rechtsfolge angezeigt ist, die seine Strafgewalt übersteigt.
KAMMERGERICHT Beschluss

Geschäftsnummer: 1 AR 273/09 - 4 ARs 11/09

In der Strafsache gegen

wegen schwerer Brandstiftung u.a.

hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 13. März 2009 beschlossen:

Tenor:

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin - Abteilung 392, Jugendschöffengericht - wird als das für die Untersuchung und Entscheidung zuständige Gericht bestimmt.

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeklagten mit der bei dem Amtsgericht Tiergarten - Jugendschöffengericht - erhobenen Anklage schwere Brandstiftung in Tateinheit mit Sachbeschädigung zur Last. Das Amtsgericht hat die Anklage unter Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Jugendschöffengericht, Abteilung 392, ohne Änderungen zur Hauptverhandlung zugelassen. In der Hauptverhandlung am 17. Dezember 2008 hat es nach Anhörung des Angeklagten, nicht abschließender Vernehmung von zwei von fünf geladenen und erschienenen Zeugen sowie Anhörung der Jugendgerichtshilfe, die sich für die Anwendung des Jugendstrafrechts und Verhängung einer Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung ausgesprochen hat, auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Sache unter Berufung auf § 270 StPO an die Jugendkammer des Landgerichts Berlin verwiesen. Zur Begründung des Verweisungsbeschlusses hat es in einem gesonderten Vermerk ausgeführt, das Gericht sei nach vorläufiger Würdigung der Beweislage zu der Einschätzung gelangt, dass der Angeklagte einer besonders schweren Brandstiftung nach § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB hinreichend verdächtig sei. Gleichzeitig sei das Gericht unter Berücksichtigung der Angaben der Jugendgerichtshilfe, bei Würdigung der Tat und der Persönlichkeit des zur Tatzeit 20 Jahre und acht Monate alten Angeklagten "nicht davon überzeugt, dass auf diesen in jedem Falle das Jugendstrafrecht zur Anwendung kommen wird". Es komme daher eine Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren in Betracht, so dass die Jugendkammer zuständig sei (§ 108 Abs. 3 Satz 2 JGG). Das Landgericht hält den Verweisungsbeschluss für rechtsfehlerhaft und willkürlich und hat die Sache dem Kammergericht zur Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit vorgelegt.

1. Die Vorlage zur Entscheidung des negativen Zuständigkeitsstreits ist analog den §§ 14, 19 StPO zulässig. Diese Vorschriften sind nicht nur unmittelbar auf den Streit über die örtliche Zuständigkeit, sondern in entsprechender Anwendung auch auf den Fall eines negativen Kompetenzkonflikts über die sachliche Zuständigkeit anzuwenden, wenn anderenfalls der Stillstand des Verfahrens droht, weil den Verfahrensbeteiligten keine gesetzliche Möglichkeit mehr offen steht, durch Einlegung von Rechtsmitteln den endgültigen Stillstand des Verfahrens zu verhindern (ständige Rechtsprechung des Kammergerichts, vgl. etwa Beschlüsse vom 8. Mai 2007 - 4 ARs 11/07 -, 5. März 2007 - 3 ARs 19/06 -, 22. November 2005 - 5 ARs 51/05 -, 9. Januar 2004 - 4 ARs 109/03 -, 25. Juni 2003 - 3 ARs 5/03 - und 21. August 2002 - 4 ARs 82/02 -; Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl., § 19 Rdn. 2, § 14 Rdn. 2 m.w.N.). So liegt es hier.

2. Das Amtsgericht Tiergarten - Jugendschöffengericht - ist das sachlich zuständige Gericht.

Grundsätzlich bindet die gemäß § 270 StPO ausgesprochene Verweisung das höhere Gericht selbst dann, wenn der Verweisungsbeschluss mangelhaft ist, also auf einer falschen Anwendung formellen oder materiellen Rechts beruht. Dies gilt jedoch ausnahmsweise bei solchen Entscheidungen nicht, die an einem derart schweren Mangel leiden, dass es bei Berücksichtigung der Belange der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus schlechthin unerträglich wäre, sie als verbindlichen Richterspruch anzunehmen und gelten zu lassen; das ist etwa bei auf Willkür beruhenden oder offensichtlich unhaltbaren Entscheidungen der Fall (vgl. BGHSt 45, 58, 61; KG a.a.O. und Beschlüsse vom 25. Juni 2003 - 3 ARs 5/03 - , vom 5. März 2001 - 3 ARs 3/01 - und 6. April 2000 - 5 ARs 12/00 -; OLG Köln, Beschluss vom 12. November 2008 - 2 Ws 488/08 - [juris]; OLG Bamberg NStZ-RR 2005, 377; OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 42; OLG Düsseldorf NStZ 1986, 426; Meyer-Goßner, a.a.O., § 270 Rdnr. 20).

So verhält es sich hier. Der Verweisungsbeschluss des Jugendschöffengerichts Tiergarten vom 17. Dezember 2008 weicht in einem so erheblichen Maße von den dafür erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen ab, dass er eine die Strafkammer bindende Verweisung nicht zu begründen vermag.

Die Verweisung nach § 270 StPO kann erst dann als zulässig und geboten erachtet werden, wenn mit genügender Sicherheit erkennbar geworden ist, dass eine Sachentscheidung erforderlich werden wird, die in die sachliche Zuständigkeit des höheren Gerichts fällt (vgl. Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, StPO 25. Aufl., § 270 Rdnr. 8). Das Jugendschöffengericht durfte die Verweisung demzufolge nur aufgrund einer veränderten Sachlage aussprechen. Eine veränderte Sachlage wegen unzureichender Strafgewalt (§ 24 Abs. 2 GVG) setzt voraus, dass das erkennende Gericht die Hauptverhandlung so lange weiterführt, bis nach deren Ergebnis ein Schuldspruch zu erwarten ist und das Gericht auf Grund der Erkenntnisse in der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, dass eine Rechtsfolge angezeigt ist, die seine Strafgewalt übersteigt (vgl. KG, Beschlüsse vom 8. Mai 2007 - 4 ARs 11/07, vom 5. März 2001 - 3 ARs 3/02 - und vom 13. November 1998 - 5 ARs 19/98 -; OLG Köln a.a.O.; OLG Frankfurt NStZ-RR 1997, 311, 312; OLG Zweibrücken MDR 1992, 178).

Dass das Jugendschöffengericht zu der Überzeugung gelangt ist, dass eine seine Strafgewalt übersteigende Rechtsfolge zu verhängen sein wird, ist bereits der in Vermerkform nachgeschobenen Begründung des Verweisungsbeschlusses nicht zu entnehmen. Im Gegenteil stellt das Jugendschöffengericht dort darauf ab, das Gericht sei aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme "nicht davon überzeugt", dass auf den Angeklagten "in jedem Fall das Jugendstrafrecht zur Anwendung kommen wird". Dies kann eine Verweisung nach § 270 Abs. 1 StPO nicht begründen. Denn damit bringt das Jugendschöffengericht lediglich Zweifel an der Anwendung von Jugendstrafrecht zum Ausdruck, anstatt, wie es für eine Verweisung nach § 270 Abs. 1 StPO erforderlich ist, seine Überzeugung darzulegen, dass Jugendstrafrecht nicht anzuwenden und der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von mehr als vier Jahren zu verurteilen sein wird. Eine dem hinreichenden Tatverdacht entsprechende "hinreichende Straferwartung", auf die das Amtsgericht möglicherweise abstellen wollte, gibt es aber nicht (vgl. BGH a.a.O.; KG, Beschluss vom 22. November 2005 - 5 ARs 51/05 -).

Hinzu kommt, dass das Jugendschöffengericht seine Einschätzung, dass auf den zur Tatzeit heranwachsenden Angeklagten (möglicherweise) kein Jugendstrafrecht zur Anwendung kommen wird, nicht tragfähig begründet hat. Es hat lediglich pauschal und damit nicht nachvollziehbar auf eine "Würdigung der Tat und der Persönlichkeit des zur Tatzeit 20/8 Jahre alten Angeklagten" abgestellt, ohne diese Würdigung nach den maßgeblichen Kriterien des § 105 Abs. 1 JGG und der hierzu ergangenen Rechtsprechung näher auszuführen. Auch hat das Amtsgericht Tiergarten, worauf bereits das Landgericht Berlin in dem Vorlagebeschluss zutreffend hingewiesen hat, es unterlassen, sich mit dem Umstand auseinanderzusetzen, dass der Angeklagte zur Tatzeit so erheblich alkoholisiert gewesen ist (eine ihm ca. drei Stunden und 45 Minuten nach der Tat entnommene Blutprobe enthielt einen Mittelwert von 1,91 Promille Ethanol im Vollblut), sodass - unter Hinzuziehung eines Sachverständigen - sich die Erörterung aufdrängt, ob die Voraussetzungen erheblich verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) vorliegen und der Strafrahmen deshalb nach § 49 Abs. 1 StGB zu mildern ist mit der Folge, dass selbst bei Anwendung allgemeinen Strafrechts die Strafgewalt des Amtsgerichts möglicherweise ausreichen würde.

Die Verweisung entfaltet nach alledem keine Bindungswirkung. Der Senat bestimmt daher das Amtsgericht Tiergarten - Abteilung 392, Jugendschöffengericht - als das für die Untersuchung und Entscheidung zuständige Gericht.

Ende der Entscheidung

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